Von Christian Ratz – Mannheim. Flucht – Ankunft – Heimat: Das war der Schwerpunkt bei den Thementagen des Nationaltheaters Mannheim (NTM) vom 20. bis zum 25. Juni. Es gab Podiumsdiskussionen, Vorträge und Workshops und zum Abschluss ein Sommerfest auf dem Theatervorplatz am Samstag, 25. Juni. Zum Abschluss wurden am Abend „Ein Blick von der Brücke“ von Arthur Miller und „Mannheim Arrival“ von Peter Michalzik aufgeführt.
Initiativen wie „Mannheim sagt Ja!“, „save me“, „Nice to meet you“, “die Bahnhofshelfer” und „Sport verbindet uns“ beteiligten sich mit Informationsständen und Mitmachaktionen für Jung und Altan dem Fest. Der Erlös des Kuchenverkaufs als Spende von 500 Euro wurde unter den Aktiven zu gleichen Teilen aufgeteilt. Auch das „Cafe Asyl“ und „Medi Netz“ waren mit Info-Points vertreten.
Ein umfangreiches Musikangebot bereicherte das Fest. Zum ersten Mal trat die neu gegründete Band „Rapfugees“ vor einem größeren Publikum auf. „Gaio“ und „Sprengler and friend“ waren ebenfalls dabei. Es gab außerdem Breakdance-Vorführungen und Aufführungen weiterer Rap- und Hip Hop-Künstler – viele von ihnen Flüchtende aus der Region. Das Team der Bahnhofshelfer initiierte einen spontanen Tanzflashmob. Rund 200 Besucherinnen erlebten trotz teilweise widrigen Wetters kurzweilige Stunden.
„Blick von der Brücke“ und „Mannheim Arrival“ als Kombi-Produktion
Das Nationaltheater hatte die Kombi-Produktion „Blick von der Brücke“ und „Mannheim Arrival“ im Oktober 2015 in seinen Spielplan aufgenommen. Über 20 Aufführungen gab es seither. Das wohl bundesweit einmalige Projekt setzt das Thema „Integration durch kulturelle Teilhabe“ um.
„Anfänglich haben wir nur mit ‚Ein Blick von der Brücke‘ geplant. Wir wollten gern eine Inszenierung zeigen, die Flucht, Illegalität und Migration thematisiert“, sagte uns Burkhard C. Kosminski, der Schauspielintendant des NTM. „Ein Blick von der Brücke“ zeige, dass diese Themen nicht neu sind, dass das Spannungsfeld zwischen neu Angekommenen und Einheimischen schon immer existiert.
Porträts von sieben Geflüchteten in Mannheim
Bei der konkreteren Konzeption habe man gemerkt, dass man bei der Beschäftigung einen Schritt weitergehen müsse und auch aktuelle Geschichten erzählen wolle: „So ist die Idee zu ‚Mannheim Arrival‘ entstanden, in der sieben Geflüchtete porträtiert werden, die in Mannheim angekommen sind.“
Auf der Suche nach einem Autor, der die Interviews führt und literarisiert, wurde Kosminski bei Peter Michalzik fündig:
„Ich war mir sicher, dass er die notwendige Sensibilität für das Projekt mitbringt und gleichzeitig unserem Anspruch an einen guten Text gerecht wird“, sagte uns der Intendant. Beides habe sich eingelöst. Markus Sprengler stieß dann etwas später zum Team: Wir suchten jemanden, der in Workshops mit Geflüchteten musikalisch, speziell chorisch arbeitet. Über die Empfehlung von Gerhard Fontagnier haben wir Markus Sprengler kennen gelernt, der durch seine musikalische und gesellschaftliche Arbeit zu dem Thema natürlich ein Glückstreffer war“, so Burkhard C. Kosminski weiter.
Bildungsgutscheine und Coaching als Lohn
Auf unsere Frage nach der Entlohnung der darstellenden Flüchtlinge antwortete der Intendant: „Unser Projekt „Integration durch kulturelle Teilhabe“ besteht aus zwei Modulen, die ineinander greifen. Modul 1 ist das Theaterprojekt, Modul 2 – der von uns so genannte Sozialteil – ist die Bezahlung der Beteiligten in Form von Bildungsgutscheinen. Das war für uns von Anfang an integraler Bestandteil des Projekts. Im Anschluss an die Premiere haben wir mit allen Beteiligten ausführliche Interviews, so genannte Coaching-Gespräche, geführt. Dabei unterstützt haben uns die betreuenden Sozialarbeiter sowie KollegInen von der Stadt und der Abendakademie.“
In den Gesprächen sei es um die individuellen beruflichen Perspektiven und Vorstellungen gegangen. Mit den Bildungsgutscheinen wurden Kurse, zum Beispiel Sprachkurse, bezahlt, um Voraussetzungen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erfüllen oder zu erleichtern. Eine größere Gruppe aus Ludwigshafen wurde außerdem in das Programm „Start Integration“ der BASF aufgenommen.
Nationaltheater bildete Chor der Geflüchteten
Der musikalische Leiter Markus Sprengler schilderte uns, wie es gelang, geeignete Mitglieder für den ausschließlich aus Geflüchteten bestehenden Chor zu finden: „Die Herausforderung war es, in den diversen Flüchtlingsunterkünften Menschen zu finden, die bereit sind, sich auf ein solches Projekt einzulassen, und die auch die Fähigkeit haben, sich musikalisch und szenisch einzubringen. Beides haben wir in den diversen Flüchtlingscamps der Region gefunden.“
Wir fragten weiter: „Können Sie sich vergleichbare Projekte in der Zukunft vorstellen, ob am Nationaltheater oder an anderer Stelle?“ – „Eine logische Fortführung des Theaterprojekts hin zu Bildung wird es geben. Das Nationaltheater, die Abteilung Schauspiel, wirkt seit längerem mit ihren Projekten in die Stadtgesellschaft. Dies wird nun durch ein weiteres Projekt erweitert, die „Kulturschule“. In Kooperation mit der Stadt Mannheim. Hier wird kulturelle Teilhabe gelernt und gelehrt. Kulturelle Bildung in Form von Workshops. Wo das Wissen und die Ideen von Geflüchteten einfließen. Eine konsequente Fortführung der Partizipation in der Stadtgesellschaft. Ich werde dort mit Konzepten, Unterricht und Workshops mitwirken.“, antwortete Markus Sprengler. Das vollständige Interview gibt´s hier.
Rita Süssmuth lobt Engagement der ehrenamtlichen Helfer
Die frühere Präsidentin des Bundestags Rita Süssmuth (CDU) sprach im Vorabendprogramm. Sie wandte sich gegen die Auffassung, Geflüchtete würden durch rasche Maßnahmen der Integration entmündigt und wortlos gemacht. Diese Menschen benötigten Zeit und Raum, um sich in die Gesellschaft zu integrieren. Dabei müsse man ihnen die Chance geben, ihre menschlichen und kulturellen Identitäten zu bewahren.
Rita Süssmuth lobte das Engagement des Nationaltheaters, fragte jedoch auch kritisch, ob man sich der Verantwortung bewusst sei, die man sich da aufgebürdet habe. Zum Thema der sicheren Herkunftsländer am Beispiel Afghanistan sagte sie: „Wer die Berichte der deutschen Bundeswehreinheiten in diesem Land kennt, weiß, dass Afghanistan kein sicheres Herkunftsland ist.“ Vor zwei Wochen habe sie Jordanien bereist. Das Land stünde vor dem Abgrund, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihrer Verantwortung nachkomme und aus diesem Land Kriegsflüchtlinge übernähme.
Sie begrüßte das große und breite Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer, die seit dem vergangenen Jahr und bis heute ihren Dienst an und mit Flüchtenden leisten. Ohne diese Menschen könnte die Bundesregierung den Herausforderungen weniger gerecht werden. Mit Blick auf das britische „Brexit“-Referendum kritisierte sie, „dass die älteren Generationen vollkommen konträr zu den Vorstellungen der jungen Menschen abgestimmt haben“ (die Rede hören sie hier).
Die Geschichte „Der Vater“ von Poulina
Dominique Horwitz, Schauspieler mit französischen Wurzeln und jüdischem Glauben, las eine Geschichte mit dem Titel „Der Vater“ von Poulina, die seit einigen Jahren in Deutschland lebt und zum Ensemble von „Mannheim Arrival“ zählt:
Nach Griechenland kamen wir in einem Boot. Eine Szene kann ich
nicht vergessen. Als wir einsteigen sollten, stand da ein Junge, er war vielleicht zwischen 20 und 30 Jahre alt. Er sagte, nein, ich steige da nicht ein.
Alle haben ihn ermutigt, aber er sagte, nein. Er blieb dann wirklich zurück.
Bis heute denke ich an diesen Jungen. Er war Afghane oder Iraner. Wo ist
dieser Junge?
Im Boot war es stockfinster. Die Kinder haben geschrien und die Frauen
haben ihnen den Mund zugehalten. Ich habe einem jungen Mann, der vor
mir saß, vollkommen den Rücken zerkratzt. Ich habe es gar nicht gemerkt,
aber er hat es mir später gezeigt. Der war auch Iraner. Ich selbst habe mir
das Gesicht zerkratzt. Auch das habe ich nicht gemerkt.
Die komplette Geschichte ist hier nachzulesen.
NTM-Dokumentation „Integration durch kulturelle Teilhabe“
Zu den Thementagen hat das NTM eine bemerkenswerte Dokumentation publiziert (NTM_Broschüre_Projektdokumentation_Integration durch kulturelle Teilhabe). In ihr werden die an dem Projekt Beteiligten in Wort und Bild porträtiert. Weitere Interviewpartner aus Politik und Wirtschaft äußern sich in kurzen Statements.
Dominique Horwitz wird in der Schrift folgendermaßen zitiert: „Natürlich bin ich bei Mannheim Arrival dabei. Mit Leidenschaft. Mein Vater wurde 1936 von den Nazis aus Deutschland verjagt. Seine viele Jahre währende Flucht wurde damals nicht ein einziges Mal von einem Willkommensgruß begleitet. Für Unzählige ist es nun ein großes Glück in einer Zeit zu leben, in der wir die Not der Anderen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern etwas dagegen unternehmen dürfen. Danke Mannheim Arrival.“
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