Von Angela Berger und Wolfgang Rüter – Stuttgart. Rund 100 Personen versammelten sich am Freitag, 30. September, um die Mittagszeit auf dem Stuttgarter Rathausplatz. Dort startete eine Demonstration, zu der die Senioren gegen Stuttgart 21 aufgerufen hatten. An dem Tag jährte sich zum sechsten Mal der von Polizeigewalt gegen Stuttgart-21-Gegner geprägte„schwarze Donnerstag“. Um 17 Uhr gab es ein weiteres Treffen an der Mahnwache vor dem Bahnhof mit anschließendem Demozug. Er endete am Ort des Geschehens bei der Lusthausruine im mittleren Schlossgarten. Hierzu hatten die Musiker der Lokomotive und der Capella aufgerufen.
Die Demonstration der Senioren gegen Stuttgart 21 um die Mittagszeit führte vom Rathaus zum Schillerplatz. Dort gab es eine Zwischenkundgebung vor dem Justizministerium. Während auf dem Weg immer wieder Sprechchöre angestimmt wurden, liegt die Gedenkdemonstration über die Königsstraße langsam und fast wie ein Trauerzug bis zur Mahnwache.
Am 30. September 2010 war die Polizei völlig unverhältnismäßig gegen S-21-GegnerInnen und auch gegen eine angemeldete Schülerdemonstration vorgegangen, die sich aus Solidarität in den Park begeben hatte. Unter dem Motto „Bildung statt Prestigebahnhof“ hatte damals die Jugendinitiative gegen S 21 aufgerufen. Bis heute ist ungeklärt, wer den Befehl gab, Wasserwerfer gegen Kinder, Jugendliche und friedliche Demonstranten einzusetzen.
Die wahren Schuldigen sind bis heute nicht bestraft
Vor etwa einem Jahr – rund fünf Jahren nach den Ereignissen – erklärte auch das Verwaltungsgericht Stuttgart den Polizeieinsatz gegen eine „verfassungsrechtlich geschützte Versammlung“ für rechtswidrig. Das war für viele Betroffene eine Genugtuung. Doch die wahren Schuldigen sind bis heute nicht bestraft worden. Das änderte auch nicht die Entschuldigung des heutigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Noch immer erhielten nicht alle Verletzten eine finanzielle Entschädigung. Ein deutliches Zeichen wäre sich der Ministerpräsident und „Landesvater“ darum bemühen würde.
Auch die versprochene Kennzeichnung für Polizeibeamte im Dienst und ein Verbot der Verwendung von Wasserwerfern, wie es bereits in Großbritannien erfolgt ist, gab es nicht. Überdies fragen sich viele Stuttgarter, warum sich Kretschmann entschuldigt hat und nicht diejenigen, die damals den Einsatz befehligten und wahrscheinlich auch beaufsichtigten.
Ausmaß der Polizeigewalt war für viele unvorstellbar
Sechs Jahre später sind die Emotionen immer noch spürbar. Für etliche Bewohner der baden-württembergischen Landeshauptstadt brach damals eine Welt zusammen. Viele hätten sich nicht vorstellen können, mit welch roher Gewalt die Polizei das Bahnprojekt durchsetzen würde. Der mittlere Schlossgarten wird immer noch möglichst gemieden, nur um nicht mehr daran denken zu müssen, was damals geschah.
So wird etwa Vera diesen Tag wohl nie mehr vergessen. Sie war 14 Jahre alt, als sie im Schlossgarten mit ihren Freundinnen friedlich gegen die Baumfällung demonstrierte. Auch sechs Jahre später ist zu spüren, wie verstörend ihre Erlebnisse gewesen sein müssen. Die Stimme der jungen Frau zitterte, als sie von diesem Tag erzählte (siehe hier ihre Rede vor dem Stuttgarter Rathaus).
Rahmenbefehl zur Bespitzelung der S 21-Gegner gilt weiter
Bei der Zwischenkundgebung direkt gegenüber des Justizministeriums zählte Richter a.D. Dieter Reicherter die zahlreichen Prozesse zum Schwarzen Donnerstag auf und informierte über den derzeitigen Stand der juristischen Aufarbeitung.
Auch nach sechs Jahren sind nicht alle Verfahren abgeschlossen, und auch heute können Betroffene noch Anzeige erstatten. Angesprochen wurde auch der 2010 vom damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus erlassene Rahmenbefehl zur geheimdienstlichen Ausspähung des Widerstandes gegen Stuttgart 21. Dank des späteren SPD-Innenministers Reinhold Gall gilt er noch immer.
Zum Abschluss wurde direkt unter dem Schillerdenkmal noch Friedrich Schiller rezitiert. Anschließend setzte sich der Demonstrationszug mitten durch die Königsstraße weiter Richtung Mahnwache fort. Zwischen hektischen Shoppingfreunden und einigen Dirndl- und Lederhosenfans, die noch vom Vorabend „fröhlich“ waren, mutete der ernste Erinnerungszug sehr fremd an.
Jugendliche blieben besonnen
An der Mahnwache wurde dann nochmals die Anlage aufgebaut und ein offenes Mikrophon eingerichtet.
Ein Zitat eines der Redner: „Die Jugendlichen, die sich an diesem Tag der Gewaltaktion in den Weg stellten oder setzten, und auch insbesondere die, welche die Polizeifahrzeuge erklettert hatten, um deren Weiterfahrt zu verhindern, handelten ihren Überzeugungen folgend richtig und konsequent. In meinen Augen sind sie die eigentlichen Helden dieses Tages, denn auf sie wurde zuvor von Polizei-Provokateuren echte körperlich Gewalt ausgeübt. Darauf nicht mit Gewalt zu reagieren, sondern mit Empörung – das ist die große Tat dieses Tages.“
Und weiter: „Ich jedenfalls war und bin stolz auf diese Jugendlichen, ihr Handeln gab und gibt mir Hoffnung, und ich bin froh, dass noch nicht alle Jugendlichen so stromlinienförmig geformt sind, wie ein Großteil der Gesellschaft um sie herum. Schade, dass er der Protestbewegung nicht gelungen ist, diese Kraft der jungen Generation bei sich zu behalten. Abgrenzerei und Distanzierungen von vermeintlich falschen Aktionsformen haben sie vertrieben.“
Weitere Demonstration am Nachmittag
Um 17 Uhr gab es dann ein weiteres Treffen an der Mahnwache mit einer anschließenden Demonstration. Sie endete bei der Lusthausruine im mittleren Schlossgarten. Hierzu hatten die Musiker der Lokomotive Stuttgart und der Capella aufgerufen. Sie wollten den Gedenkzug zum 30. September 2010 musikalisch bis zum Ort des Geschehens fortführen.
So konnten auch denjenigen, die mittags noch keine Zeit hatten, an den „Schwarzen Donnerstag“ zu erinnern, dabei sein. Vor der Lusthausruine zündeten sie Kerzen zum Gedenken an und legten mit Kastanien die Worte aus: „Wir vergessen nicht.“
Folge uns!