Von Markus Rolle – Stuttgart. Nach zehn Monaten Verhandlung hat das Oberlandesgericht Stuttgart einen kurdischen Aktivisten am 13. Oktober nach dem Strafrechts-Paragraphen 129b StGB zu dreieinhalb Jahren Gefängnis wegen der aktiven Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt. Dem Angeklagten Ö. wurde vorgeworfen, zwischen 2010 und 2015 in Deutschland für die PKK gearbeitet zu haben. Die Verteidigung zeigte sich enttäuscht, dass die Aktivitäten der PKK trotz der extensiven Gewalt der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung von den RichterInnen als terroristisch eingestuft und dem Angeklagten kein völkerrechtlicher Kombattantenstatus zuerkannt wurde.
Die Verteidigung hatte mehrfach vor Gericht geltend gemacht, dass die Geschichte der Auseinandersetzungen in der Türkei eine Klassifizierung der PKK als „terroristisch“ keineswegs rechtfertige. Dabei schlug sie einen Bogen von der willkürlichen Grenzziehung durch die Siegermächte nach dem 1. Weltkrieg über die Gründung der PKK 1978 bis zu den durch die PKK eingeleiteten Friedensprozess 2012.
Keine Straftat – dennoch Anklage
Schon während des gesamten Prozesses äußerte die Verteidigung, – ebenso wie verschiedene ZuschauerInnen – Unverständnis darüber, dass es überhaupt zur Anklage gekommen war, obwohl der Angeklagte keinerlei Straftat begangen hatte. In einer Pressemitteilung des Verteidigers Martin Heiming zum Urteil heißt es:
Was dem Angeklagten nachgewiesen werden konnte, so die Richter, sind Spendensammlungen, Verkauf von Zeitungen, Organisierung von Bussen zur Fahrt zu kurdischen Veranstaltungen usw. – das übliche, das die deutsche Justiz einem Gebietsleiter so zuschreibt. Und alles ist einzeln betrachtet eigentlich legal, dient aber dem Zusammenhalt der PKK, also einer terroristischen Vereinigung, und deswegen muss dies alles mit dreieinhalb Jahren Gefängnis bestraft werden.
Terror gefährdet die Integrität von Staaten – auch der Türkei
Im Plädoyer des Staatsanwalts wurde deutlich, weshalb es diesen Prozess gab, obwohl nie klar wurde, welche Gefahr eigentlich für die Menschen in der BRD vom Angeklagten ausgehe: „Terror sind gegen das Leben und die Freiheit gerichtete Taten, die die Integrität eines Staates gefährden. Dazu gehört auch die Türkei.“
Ö., der in der Gegend um Hasankeyf aufgewachsen ist, hatte in seinem von einem Verteidiger verlesenen Plädoyer deutlich gemacht, dass das Ziel der kurdischen Freiheitsbewegung nicht in einer Kriegserklärung gegen andere Völker bestehe, sondern ihr Ziel sei, „die Geschichte der Vergangenheit bis zum heutigen Tage sichtbar zu machen“. Weil die PKK das Selbstbestimmungsrecht der Völker am Leben erhalte, sei er seit 25 Jahren Anhänger der PKK.
Jede Handlung ist strafbar
Die Beweislast gegen den Angeklagten war auch nach 56 Sitzungstagen mit über 25 ZeugInnen und 200 abgehörten Telefonaten und Kurznachrichten äußerst gering. Daher zogen die RichterInnen des Oberlandesgerichts zahlreiche auffallend unterroristische Aktivitäten heran, um ihr Urteil zu begründen. Im Prozessverlauf wurde deutlich, dass so ziemlich jede Handlung des Angeklagten vor Gericht hätte gegen ihn verwendet werden können.
Neben konspirativem Sprechen am Telefon, der Anmietung von Reisebussen zu Demonstrationen und Festen, dem Verkauf von Kalendern und Spendensammlungen führten die RichterInnen dafür auch den persönlichen Beistand des Angeklagten gegenüber einer Familie an, deren Tochter 2013 in Paris ermordet wurde. Im Januar 2013 hatte ein Attentäter Fidan Dogan, Sakine Cansiz, und Leyla Saylemez in einem Informationsbüro in Paris aufgesucht und niedergeschossen.
Pariser Ermittlungsbehörden gehen laut einem Bericht des Spiegel inzwischen davon aus, dass der türkische Geheimdienst MIT für das Attentat mitverantwortlich ist. Nachdem der Angeklagte die Angehörigen der Ermordeten zum Flug nach Paris an einen Flughafen begleitet habe „besorgte er Blumen und Kerzen“ für eine Gedenkveranstaltung in Halle, heißt es in der Urteilsbegründung.
Erdogan bestimmt, was als Terror gilt
Der Senat folgte mit seiner Urteilsbegründung dem Argumentationsmuster des Generalstaatsanwalts, der in seinem Plädoyer ausführte, dass der Angeklagte zwar nicht wie ein Terrorist daherkomme, er aber genauso „wie der Mörder, der Attentäter oder der Erpresser“ ein Terrorist sei, weil er die Organisation insgesamt stärke.
Senat und Generalstaatsanwaltschaft argumentierten damit ähnlich wie Recep Tayyip Erdogan selbst, der einem Bericht des Deutschlandfunks zufolge als Reaktion auf einen offenen Brief zahlreicher AkademikerInnen in der Türkei im Januar 2016 ausführte: „Es besteht kein Unterschied, ob jemand Kugeln im Namen einer Terrororganisation schießt oder ob er Propaganda für sie macht.“
Die Verantwortung der BRD
Ö. forderte in seinem Plädoyer den deutschen Staat auf, der Zustimmung der deutschen Öffentlichkeit zum Befreiungskampf in der Türkei und Syrien gerecht zu werden und einen Prozess zu unterstützen, der zu erneuten Verhandlungen führt. Dazu „wäre es unerlässlich, nicht vorweg eine Seite der Konfliktparteien als terroristisch zu listen“, so Ö.: „In der deutschen Öffentlichkeit ist die ursprünglich zurückhaltende Stimmung gegenüber den Kurden nach Kobane, Rojava und dem Wahlerfolg der HDP in hohem Maße überwunden.“
Die Befreiungsbewegung sei die einzig ernstzunehmende Kraft im Kampf gegen den Islamischen Staat. Mit Blick auf die Türkei, führte der Angeklagte aus, müsse eine „positive Politik und ein Demokratisierungsprozess eingeleitet und vorangetrieben werden“. „Das PKK-Verbot wird zunehmend bedeutungslos und muss aufgehoben werden“, hieß es zum Abschluss seines Plädoyers.
Die Konstruktion von Beweisen
Da es kein einzelnes hinreichendes Beweismittel gab, das den Angeklagten als Gebietsleiter belastet hätte, stützten sich die AkteurInnen auf einzelne Ereignisse, die im Sinne der Anklage auf die Kader-Funktion des Angeklagten hinweisen sollten. Darunter fiel etwa ein Treffen 2010 in Hannover mit Personen, die von den Behörden ebenfalls den PKK-Kadern zugeordnet werden. Den Ermittlungsbehörden blieb allerdings unbekannt, worüber auf diesem Treffen gesprochen wurde.
Darunter fiel auch der Tonfall, mit dem der Angeklagte am Telefon gesprochen haben soll. Aus ihm ergebe sich eine mutmaßliche Hierarchie gegenüber mutmaßlichen Vorgesetzten oder untergeordneten Parteimitgliedern. Vor Gericht wurde jedoch nie aufgeklärt, mit wem telefoniert wurde und welche Funktion diese Person in der PKK gehabt haben soll. Auch fielen die Fahrten des Angeklagten durch genau die Städte darunter, die von den Behörden etwa dem PKK-Gebiet Sachsen zugeordnet werden. Auffallend daran ist, dass keine Stadt mehr oder weniger angefahren wurde, die nicht zum „PKK-Gebiet-Sachsen“ gerechnet wird. Genau so, als ob das „PKK-Gebiet-Sachsen“ eben genau dort sein soll, wohin der Angeklagte gefahren war.
Von der Behauptung über die Zeugenaussage zum Freiheitsentzug
Die meiste Kontur in das Bild des Gebietsleiters, das vom Angeklagten gezeichnet wurde, brachten jedoch die Ermittlungsbehörden durch ihre eigenen Ermittlungsverfahren. Die Ermittlungsverfahren oder Gefahrenabwehrvorgänge, die die Überwachung des Angeklagten rechtlich absicherten, tragen als Überschrift die Schlagworte „PKK-Gebietsleiter“ oder „terroristische Vereinigung“ zusammen mit dem Namen des Angeklagten.
Jeder Zeuge und jede Zeugin des LKA oder BKA (Landes- oder Bundeskriminalamts), der oder die vor Gericht aussagte, begann seine oder ihre Aussage wie zuvor auch die Ermittlungsarbeit in der Überzeugung, es müsse sich bei dem jetzigen Angeklagten und vorigen Zielobjekt um einen PKK-Gebietsverantwortlichen handeln. Warum der Vorwurf der Gebietsverantwortlichkeit besteht, war ihnen dabei größtenteils unbekannt. „Wir sind eine reine Service-Einheit“, so der Einsatzleiter einer Observationseinheit des LKA Sachsen vor Gericht. „Der Beschluss ist von einem Gericht abgesegnet, ich gehe davon aus, dass das seine Richtigkeit hat.“
Ermittlungsansatz wird zum Urteil
Dass der Kriminalhauptkommissar über den Angeklagten nur deswegen als Gebietsverantwortlichen sprach, weil er diese Information in der Überschrift seines Arbeitsauftrags gelesen hatte, hielt die RichterInnen jedoch keineswegs davon ab die Aussage des Beamten als Beweis für die Schuld des Angeklagten heranzuziehen. So wurde die Akte über den Gefahrenabwehrvorgang, durch den die Schuld der überwachten Person erst ermittelt werden sollte, zur Zeugenaussage eines Kriminalhauptkommissars und dann zur Verurteilung des Angeklagten, die in dessen Freiheitsentzug endete.
Bei den Observationen des Beamten vom LKA Sachsen selbst hatte an sich nur festgestellt werden können, dass die überwachte Person verschiedene Örtlichkeiten aufgesucht hatte. So der Kriminalhauptkommissar vor Gericht: „Ich würde den Tag mit Schlendern beschreiben.“
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