Von Gül Güzel und Markus Rolle – Stuttgart. Vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart wurde am Dienstag, 22. November, das Hauptverfahren gegen den kurdischen Politiker Muhlis Kaya (46) nach § 129b des Strafgesetzbuchs („Terroristische Vereinigung im Ausland“) eröffnet. Er wird beschuldigt, von Anfang August 2013 bis Februar 2016 als mutmaßlicher PKK-Sektorleiter für verschiedene Gebiete Deutschlands verantwortlich tätig gewesen zu sein.
In der Mittagspause gab es zum Prozessauftakt eine kurze Kundgebung vor dem OLG in der Stuttgarter Olgastraße 2 mit Beiträgen, Transparenten und Parolen. Das Verfahren wurde am Donnerstag, 24. November, mit den Anträgen der Verteidigung fortgeführt. Der Prozess ist immer Dienstag und Donnerstag bis in den März 2017 terminiert.
Erst im Oktober 2016 war Ali Özel als angeblicher Gebietsleiter der PKK zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Özel wurde vorgeworfen, in Deutschland für die PKK Spenden gesammelt, Veranstaltung organisiert und an Demonstrationen teilgenommen zu haben. Der Angeklagte hatte zwar keine Straftaten begannen, weil er aber ein PKK Kader gewesen sein soll, wurde er dafür trotzdem zu dreieinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt (wir berichteten).
Die Anklage nennt keine konkreten Straftaten
Muhlis Kaya wurde am 16. Februar dieses Jahres in Düsseldorf festgenommen. Er befindet sich seither in U-Haft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart-Stammheim. Den Prozess gegen ihn führt der selbe Vorsitzende Richter und der gleiche Senat in zum Teil identischer Besetzung. Auch dieses Mal nannte die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Anklage keine Straftaten. Dagegen führte sie auf, was ihrer Meinung nach „typisch“ für einen Kader der PKK in Deutschland sei, und unterstellte dem Angeklagten, dies auch getan zu haben.
In der Anklage hieß es lediglich allgemein: Der Angeklagte „befasste sich mit den typischen Aufgaben eines Sektorverantwortlichen“. Diese Sektorenverantwortlichen „haben Vorgaben umzusetzen und Berichte zu erstatten“. Weil die Bundesgeneralstaatsanwaltschaft den Angeklagten weiter oben in der Hierarchie der PKK als Ali Özel verordnet hat, ist unabhängig von seinen tatsächlichen Handlungen auch mit einem höheren Strafmaß zu rechnen.
Solidarität mit Muhlis Kaya zum Prozessauftakt
Das Gewicht der Anklage wird von zwei Vertretern der Bundesanwaltschaft höchstselbst demonstriert. Sie stellen lapidar und als gerichtsbekannt fest, dass die PKK für Mord und Totschlag stehe und der Angeklagte in Kenntnis der Ziele und der Programmatik der PKK gehandelt habe. So als „terroristische Vereinigung“ definiert, werden alle Aktivitäten, die der normalen Vereinstätigkeit entsprechen – Veranstaltungen und Demos organisieren, Geld sammeln etcetera – zur mitgliedschaftlichen Betätigung.
Zum Prozessauftakt gegen Kaya begleiteten an die 50 Leute das Verfahren solidarisch. Sie klatschten, als der Angeklagte kam. Von den typischen Einlass-Prozeduren bei solchen Prozessen wie Ausweis-Kopien oder Körperkontrollen ließen sie sich nicht abhalten. Alle BesucherInnen mussten durch einen engen Gang aus 17 spalierstehenden Justizangestellten und Polizeibeamten.
Verteidiger: § 129b ist nicht verfassungskonform
Auch Muhlis Kaya wurde wie Ali.Özel mit Handschellen gefesselt in den Prozesssaal gebracht und bei jeder zehnminütigen Verhandlungspause wieder gefesselt abgeführt. Er machte keine Äußerungen zur Sache oder zur Person. Seine Verteidigung, Rechtsanwalt Carl W. Heydenreich und Rechtsanwältin Anna Busl, stellten den Prozess mit zwei Anträgen grundsätzlich in Frage:
Zum einen entspreche §129 b des Strafgesetzbuchs über die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nicht der deutschen Verfassung. Zum anderen sei die Verfolgungsermächtigung des Bundesjustizministeriums von 2011 aus Sicht der Verteidigung nicht mehr gegeben. Sie sei willkürlich und historisch überholt, da der türkische Staat seit einigen Jahren diktatorisch vorgehe, gegen Menschenrechte verstoße und kein geeignetes Schutzobjekt mehr darstelle.
Rechtsanwalt fordert Aussetzung des Prozesses
Rechtsanwalt Heydenreich begann mit der Verlesung des 1. Antrags und forderte, das Verfahren auszusetzen und die Rechtslage vor dem Bundesverfassungsgericht zu klären. Der Paragraf 129b sei verfassungswidrig, da es nicht auf den Tatbestand ankomme. Für einen Staatsbürger sei es „nicht ersichtlich, ob sein für sich genommenes Verhalten strafbar ist oder nicht“. Dies verstoße gegen das Bestimmungsverbot, wonach aus dem Gesetzestext erkennbar werden müsse, welche Taten als Straftaten gelten.
Der Paragraf sei nach dem 11. September 2001 als Teil einer Art „Symbolgesetzgebung“ eingeführt worden. Die Definition, was als terroristisch gelte und was als Befreiungskampf, werde anhand politischer Interessen entschieden. „Die Frage was terroristisch ist und was nicht, klärt sich nicht am Richtertisch, sondern in einem Telefonat zwischen Tramp und Putin“, so der Verteidiger.
AZADÎ: Deutschland unterstützt ein diktatorisches Regime
Wie der Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland AZADÎ mit Sitz in Köln mitteilt, versucht die Anklage, mithilfe einer Vielzahl abgehörter Telefonate, ausgelesener SMS und anderen Observationsmaßnahmen sämtliche Aktivitäten von Muhlis Kaya in einen terroristischen Zusammenhang zu stellen. Dazu gehörten das Organisieren von Demonstrationen, Mahnwachen, Newroz-Feiern, Festivals oder Protestveranstaltungen zu den IS-Angriffen auf Rojava. Kriminalisiert werden auch seine Teilnahme an Kongressen, das Anmieten von Bussen für eine Demonstration in Paris zum Jahrestag des Mords an Sakine Cansız, Fidan Doǧan und Leyla Șaylemez oder die Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen der Europaführung.
All dies belege die hochrangige Position des Kurden als professioneller Kader der PKK und rechtfertige eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ (§ 129b Strafgesetzbuch), deren Zwecke und Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten des Mordes oder Totschlags gerichtet sei.
Ermächtigung zur Strafverfolgung veraltet
Eine Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung nach § 129b StGB (Strafgesetzbuch) hat das Bundesjustizministerium (BMJV) in Absprache mit dem Innen- und Außenministerium sowie dem Bundeskanzleramt bereits am 6. September 2011 erteilt. Sie ist ungeachtet von politischen Entwicklungen und Paradigmenwechseln der kurdischen Bewegung bis heute Grundlage der Verfolgung mutmaßlicher Mitglieder der PKK. Die Entscheidung des BMJV ist weder begründet noch kann sie juristisch angegriffen werden.
Dass Deutschland fest an der Seite eines diktatorischen Regimes steht, hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bei seinem Besuch in Ankara am 15. November klargemacht. Nach Anschuldigungen seines Kollegen Mevlüt Cavusoǧlu, Deutschland biete den „Terroristen“ der PKK Schutz, versicherte der Außenminister umgehend: „Wir stehen zusammen gegen Terrorismus, egal, ob er vom ‚Islamischen Staat‘ oder der PKK ausgeht“ – eine ungeheuerliche Gleichsetzung.
Komplizenschaft mit Erdoğan
Mit seiner Aussage habe sich der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten zum Komplizen eines Regimes gemacht, das Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begeht, einen schmutzigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt, alle zivilgesellschaftlichen Strukturen zerstört, jeden oppositionellen Widerstand mit Waffengewalt erstickt, die Medien gleichschaltet, völkerrechtswidrig in Nachbarländer einfällt und die Wiedereinführung der Todesstrafe anstrebt, so AZADÎ weiter.
Erdoğan könne zufrieden sein – „Steinmeier hat pariert und den Kurdinnen und Kurden signalisiert, dass sie in der Türkei weiterhin mit staatlichem Terror und in Deutschland mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen haben“.
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