Von Andreas Scheffel und Steffen Schenk – Stuttgart. Medienstationen geschlossen, ihre MitarbeiterInnen und JournalistInnen nach Verhängung des Ausnahmezustands in der Türkei bedroht, verhaftet und arbeitslos. Leyla Abay, Mitarbeiterin des inzwischen verbotenen türkischen Radiosenders Özgür Radyo, schildert im Interview die Repressionen. Sie fordert Pressefreiheit und die Freilassung der inhaftierten JournalistInnen in der Türkei. Am Mittwoch, 14. Dezember, spricht Leyla Abay in Stuttgart bei einer Kundgebung, zu der Journalistenorganisationen und Gewerkschaften aufrufen. Beginn ist um 17 Uhr auf dem Wilhelmsplatz (siehe auch „Gegen Angriffe auf die Pressefreiheit in der Türkei“).
Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlichte am Dienstag, 13. Dezember, ihre Bilanz zur Pressefreiheit. Bei der Zahl inhaftierter Journalisten sieht sie die Türkei, die in der Bilanz 2015 noch eine kleine Rolle gespielt hatte, 2016 fast an die Spitze der Statistik.
Seit die Regierung Präsident Recep Tayyip Erdogans am 20. Juli 2016 den Ausnahmezustand in der Türkei verhängt hat, wurden 121 Journalistinnen und Journalisten verhaftet und in Gefängnisse gebracht. 168 Zeitungen, Radio- und Fernsehsender und andere Medien wurden unter Führung des türkischen Präsidenten Erdogan zwangsweise geschlossen. Über 2500 Journalistinnen und Journalisten sind ohne Einkommen und Arbeit. Davon betroffen sind ausschließlich Journalistinnen und Journalisten sowie Medien, die über die Regierung Erdogans kritisch berichten und kommentieren.
Leyla Abay, Mitarbeiterin des Radiosenders Özgür, schildert ihre Erlebnisse in der Türkei vor und nach der Schließung des Senders im Interview mit Steffen Schenk.
Steffen Schenk: Herzlich Willkommen, Frau Leyla Abay. Sie leben seit 40 Jahren in der Türkei und waren Geschäftsführerin im Bereich Werbung beim Radiosender Özgür, der nach Verhängung des Ausnahmezustandes geschlossen wurde. Schildern Sie uns bitte die Tage vor der Schließung der Radiostation Özgür.
Leyla Abay: Erst einmal möchte ich mich für die Einladung bedanken. Nach dem Militärputsch haben wir erwartet, dass der Radiosender gestürmt und geschlossen wird. Aus diesem Grund hatten wir angefangen, Wachen zu halten. Wir haben den Sender nicht verlassen und sind bis zum Morgengrauen in den Räumlichkeiten geblieben. Am Morgen wurde der Sender nicht geschlossen. Etwa eine Woche hielten wir Mahnwachen ab. Dann wurden zwei TV-Sender geschlossen, und wir hatten die Befürchtung, dass wir als nächster Sender geschlossen werden.
Dann wurden drei Sender geschlossen, einer davon, wo auch meine Tochter arbeitete. Ich selbst war zu dieser Zeit unterwegs gewesen und wurde von meiner Tochter informiert. Sofort habe ich mich zum Sender auf dem Weg gemacht. Als ich vor Ort war, sah ich, wie die Personen des Senders in Polizeiwagen abgeführt und verfrachtet wurden. Vor dem Gebäude des Senders waren viele Leute, Passanten und unsere Hörer, die in das Gebäude des Senders wollten. Die Personen wurden jedoch von der Polizei daran gehindert. Es war auch so, dass die Polizei einen weiten Bereich um das Gebäude des Senders sperrte, sodass man sich nicht einfach nähern konnte.
Nach den Festnamen, circa um 17 Uhr, haben wir vor dem Gebäude zur Presseinformation eine Erklärung abgegeben. Anschließen hielten wir gemeinsam mit Hörern und Personen, die sich solidarisierten, eine Mahnwache abermals ab. Sehr viele Vertreter von Organisationen, Gewerkschaften, Parteien, Verbänden, sowie Mitglieder von Reporter ohne Grenzen und ein Bürgermeister von einem Stadtteil von Istanbul zeigten sich vor dem Gebäude solidarisch und versuchten, uns Unterstützung zukommen zulassen. Die Personen, die sich solidarisch vor dem Gebäude zeigten und verhindern wollten, dass die Polizei das Gebäude stürmen konnte, wurden von den Polizeikräften angegriffen.
Inzwischen habe ich erfahren, dass eine Frau, die vor dem Gebäude war, an den Haaren gezogen und am Boden von Polizisten weggezerrt und anschließend abgeführt wurde. Nach der Presseerklärung vor dem Gebäude haben wir uns mit vielen anderen Journalisten zusammengetan und sind zum Galatasaray- Platz, der im Stadtteil Istiklâl Caddesi in Istanbul liegt, gezogen. Auf dem Platz sind verschiedene Verbände zu Wort gekommen, darunter ich als Vertreterin des Senders. Wir haben mit einer Masse von Menschen gemeinsam eine Presseerklärung dort abgegeben und riefen die Bevölkerung auf, sich mit uns zu solidarisieren.
Steffen Schenk: Ich möchte nochmals auf den 4. Oktober zurückkommen, auf den Tag als die freie Radiostation Özgür gestürmt und geschlossen wurde. Es waren 18 Menschen vor Ort, wie ging es vonstatten, was ist da passiert? Ging es friedlich zu?
Leyla Abay: Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 18 Personen im Gebäude. Unter den Leuten befanden sich Besucher, Mitarbeiter und Personen, die an der Mahnwache teilgenommen hatten. Die Polizei hatte zunächst geklopft und hatte die Personen im Gebäude aufgefordert, die Türe zu öffnen. Die Polizei gab an, den Sender schließen zu wollen. Die Personen die sich im Gebäude befanden, gaben an, dass sie erst die Türe öffnen wollen, wenn ihre Rechtsanwälte eingetroffen sind.
Kurze Zeit später, traten die Beamten die Türen des Senders ein und stürmten die Räumlichkeiten. Es gab Schreie, Angst, da die Beamten sehr brutal vorgingen. Personen wurden von den Polizisten geschoben, einen Mitarbeiter haben die Beamten so stark verletzt, dass er später mit mehreren Stichen genäht werden musste. Bei einem anderen Mitarbeiter gingen die Beamten so brutal vor, dass dieser mehrere Rippenbrüche erlitt. Diese letzte Person versuchte, Widerstand zu leisten, indem sie nicht aufstand. Sie gab an „ich bleibe hier, es ist meine Redaktion“. Danach führten die Beamten die Personen aus dem Sender ab und verfrachteten diese in die Einsatzfahrzeuge. Anschließend wurden die Personen zum Gericht gefahren.
Dort angekommen durften die Festgenommenen die Fahrzeuge bis zum nächsten Morgen nicht verlassen. Kurze Zeit später wurden dann die Personen freigelassen. Wir sind in der Zwischenzeit ebenfalls nach den Erklärungen, die wir am Galatasaray- Platz vornahmen, zum Gerichtsgebäude gefahren. Dort angekommen konnten wir die Mitarbeiter und Unterstützer abholen. Anschließend sind wir mit den Personen zu Ärzten gefahren, damit sie versorgt werden konnten. Von den Ärzten haben wir alle Verletzungen bescheinigen lassen, die durch den brutalen Polizeieinsatz zustande kamen. Bis jetzt ist noch nichts passiert, aber wir gehen davon aus, dass die Personen, die in Gewahrsam genommen wurden, eine Anzeige wegen Widerstand gegen Polizeibeamte erhalten werden.
Steffen Schenk: Auf welcher Grundlage basierte die Schließung der Radiostation, die am 4. Oktober 2016 stattgefunden hat?
Leyla Abay: Das ist eine wichtige Frage, die sie stellen. Als Grundlage wurde uns nichts genannt, keine Gesetzesgrundlage. Wir hatten selbst das Gefühl, dass die Beamten keine hatten. Wir denken, dass es auf dem Ausnahmezustand beruht und dass sie sich auf den Paragraphen 660 berufen werden. Uns selbst hatten die Beamten nichts vom Staatsanwalt oder vom Gericht vorgezeigt oder in die Hand gegeben, worauf sie die Schließung der Radiostation berufen.
Steffen Schenk: Es wurde nicht nur ihre Radiostation geschlossen wo sie gearbeitet hatten, sondern weitere 18 Fernsehstationen und 23 Radiostationen bis zum heutigen Tag. Wie waren für sie die Tage danach? Wie haben sie ihre Erlebnisse in der Türkei verarbeitet?
Leyla Abay: Es ist sehr schwer, so etwas zu akzeptieren. Wir werden wieder neu anfangen, noch stärker auftreten und unseren Sender über das Internet neugestalten und ausrichten. Wir sind erst 40 Tage nach der Schließung des Senders mit einer neuen Sendung online gegangen. Aufgrund der Beschlagnahmungen benötigten wir erst einmal neue Geräte und Materialien, damit wir arbeiten und senden konnten. Unsere Hörer haben uns Sachspenden wie Generatoren, Mischpulte oder ähnliche Geräte gespendet.
In den darauffolgenden Tagen war es sehr schwierig, die Situation zu akzeptieren. Wir haben mit viel Hingabe gearbeitet, viele Menschen haben sehr viel geholfen. Die vielen Emotionen, die wir erfahren mussten, die aus der Unterdrückung entstanden sind, aber im Gegenzug die Unterstützung aus der Bevölkerung zu erfahren, waren nicht einfach. Die Hoffnung und das Wissen, was dahinter sich verbirgt, und gleichzeitig bin ich ein Gefühlsmensch. Es war nicht einfach. Jedoch, dass Gefühl des weiteren Kämpfens stärkt mich.
Wir planen nicht, ein neues Radio zu gründen, weil wir wissen, dass sie es schließen werden. Wir möchten mit Özgür Radyo auf jeden Fall weitersenden. Ich möchte noch etwas Besonderes hervorheben. Wir sind eine Radiostation, welche seit 21 Jahren sendet. Das besondere an unserem Radio ist, dass 80 Prozent der Mitarbeiter Frauen sind und leitende Funktionen besetzen. Das macht unsere Radiostation zu etwas Besonderen.
Steffen Schenk: Sie sind aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Wie schätzen sie die Situation in der Türkei ein, was die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und die Menschenrechte angeht?
Leyla Abay: Ich hatte die Möglichkeit auszureisen, da mein Mann hier in Deutschland lebt und ich über ihn Aufenthalt hier in Deutschland bekam. Es war angedacht, dass die leitende Editorin unseres Radios ausreist. Sie hätte diese Gespräche in Deutschland führen sollen. Bei ihr bestand die Möglichkeit auszureisen, nicht wie bei mir. Aus diesem Grund bin ich hier.
Es sind sehr schwere Zeiten bei uns im Land. Die Medien werden angegriffen, sie werden geschlossen. Wenn wir als Beispiel „Cumhuriyet“ nehmen – selbst heute stehen vor dem Gebäude von „Cumhuriyet“ viele Menschen und halten Mahnwachen ab, um das Medienorgan, dessen Leiter mittlerweile im Gefängnis inhaftiert ist, zu schützen. Es wird versucht, neue Medien zu etablieren, wie „Cumhuriyet 1“ , „Cumhuriyet 2“ damit sie weiterhin ihre Arbeit verrichten können.
Wir haben das gleiche gemacht. Zurzeit senden wir über Internet mit Özgür Radio 1, und wenn sie das schließen wollen, senden wir mit Özgür Radio 2 weiter. Wir werden unsere Arbeit in diesem Land weiter verrichten, in dem Land, wo die Menschenrechte nicht beachtet werden. Sie schließen alles, Vereine und Verbände. Ich denke, es wird soweit kommen, dass die Menschenrechtsorganisationen gesperrt werden.
Wir können gar nicht von einer Demokratie in der Türkei reden. Unser Präsident Erdogan, schreit immer „wir haben den Putsch verhindert und haben Demokratie eingeführt“. Ich als Frau, die den Putsch am 12. September 1980 erlebte, kann mit Gewissheit behaupten, dass die heutigen Zustände viel schlimmer sind als die zuvor, die ich als junge Frau erleben musste. Vor allem, falls sie es mitbekommen haben, möchte die Türkei ein neues Gesetz einführen, um Vergewaltiger freizusprechen, wenn ihre Opfer sie heiraten würden.
Aufgrund dieses Vorgehens der Justiz sind sehr viele Frauen, Frauenverbände auf die Straße gegangen, um dagegen zu demonstrieren. Durch den Wiederstand wurde die Gesetzesvorlage wieder zurückgenommen. Das sehe ich als Erfolg. Wir müssen alle mehr tun, in einem Land, wo Abgeordnete der HDP inhaftiert wurden, was sie sicher mitbekommen haben. Beide Vorsitzende der HDP wurden inhaftiert. In solch einer Situation empfindet man Wut, aber sogleich auch Angst. Die Menschen, die dort leben, haben beide Gefühle ineinander.
An diese Stelle möchte ich auf einen wichtigen Termin hinweisen. Es wird eine Protestkundgebung am 14. Dezember, auf dem Wilhelmplatz um 17 Uhr in Stuttgart geben, der von vielen Verbänden und Organisationen ausgerichtet wird. Unter anderen von der dju (Deutsche Journalisten und Journalistinnen in Verdi Baden-Württemberg,dem VS (Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Verdi), dem Deutschen Gewerkschaftsbund DGB Baden-Württemberg, vom DJV (Deutscher Journalisten Verband) Baden-Württemberg“ und den „Reportern ohne Grenzen“, wo ich referieren werde.
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