Von Michael Janker – Stuttgart. Einige Menschen erinnern sich mit Sicherheit noch an den 20. Juni 2011. An die Erstürmung des sogenannten Grundwassermanagements (GWM) für die Tiefbahnhof-Baustelle oder die „S-21-Unruhen“, wie es in der bürgerlichen Presse so schön hieß. Unruhen klingen nach Aufstand, sogar ein wenig nach Revolution. Nach Widerstand! In der Historie, speziell in feudalistischen und kapitalistischen Systemen, wurden und werden deshalb zum reinen Machterhalt solche „Unruhen“ stets mit Repression verfolgt. Den AktivistInnen, die sich an diesem Abend auf dem GWM-Gelände oder auch nur in der Nähe davon befanden, erging es nicht anders.
Es wurden hunderte von Ermittlungsverfahren eingeleitet, meist wegen des Vorwurfes des besonders schweren Landfriedensbruches. Für so etwas kann es bis zu zehn Jahren Knast geben. Viel übrig geblieben ist von diesem Vorwurf übrigens nicht. Im Lauf der seitdem vergangenen fünf Jahren ist der angebliche besonders schwere Landfriedensbruch auf einen popeligen Hausfriedensbruch abgestiegen. Sozusagen von der Bundesliga in die Kreisklasse.
Da es sich aber immerhin noch um einen „Bruch des Friedens“ handelt, kassiert die Staatskasse weiterhin fleißig ab.
Friedensbruch! Was müsste da eigentlich die NATO bezahlen, die jeden Tag bedenkenlos in vielen Teilen der Welt den Frieden bricht?
Die Solidarität hat nie nachgelassen
Ich selbst bin auch einer der Betroffenen dieser Repressionswelle der Stuttgarter Justiz und habe in den Printausgaben der Beobachter News schon 2013 meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen an jenem 20. Juni 2011 und in der Folgezeit geschildert. In den mittlerweile vergangenen weiteren drei Jahren ist diese ganze Angelegenheit etwas aus den Schlagzeilen geraten. Kein Wunder. Jede/r, der/die in politischen und sozialen Bewegungen aktiv ist, weiß nur zu gut, welche Vielzahl von Problemen gerade die BRD, Europa und die Welt beherrschen.
Die Solidarität unter den betroffenen AktivistInnen hat trotzdem nie nachgelassen. Das hat sich unter anderem an einer Vielzahl von Veranstaltungen in den letzten drei Jahren gezeigt. Ein Geburtstagsfest des AK-Jura im Sommer 2014 im mittleren Schlossgarten vor dem GWM; eifrige Spendensammlungen zum Beispiel bei der Anti-AKW-Demo in Neckarwestheim 2015, um die teilweise horrenden Geldbußen und Anwaltskosten der Betroffenen mildern zu können; und zum vierjährigen „Jubiläum“ der „Erstürmung“ am 20. Juni 2015 eine sehr gut besuchte Infoveranstaltung im selbstverwalteten Stadtteilzentrum Gasparitsch.
Verfahren verschleppt, Prozesse vermieden
Die Rolle, die die Justiz vor allem seit 2013 gespielt hat, ist dagegen ziemlich erbärmlich.
Die zuständigen Richter und Staatsanwälte wechselten häufiger als viele Zeitgenossen ihre Unterwäsche. Der vorgeworfene Straftatbestand wurde auf besagten Hausfriedensbruch gesenkt, das Verfahren verschleppt. Prozesse werden tunlichst vermieden. Kein Wunder. Da droht nämlich, dass die völlig überzogenen Reaktionen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten thematisiert würden. Eine solche Blamage muss vermieden werden, abkassieren will die Justiz trotzdem.
Aus diesem Grund gab es seit 2013 mehrere Wellen sogenannter „Einstellungsangebote“. So ein Angebot ist nicht umsonst! Das Verfahren wird nur gegen Zahlung einer teilweise saftigen Geldbuße eingestellt. Nach meiner Kenntnis hat sich eine Vielzahl der Betroffenen auf diese „Angebote“ eingelassen.
Es dräuen weitere Prozesse
Ich möchte dies persönlich nicht bewerten; dafür mag es Gründe im persönlichen oder beruflichen Bereich geben. Für mich wäre dies allerdings keine Option gewesen, da ich einen Prozess angestrebt habe. Einige wenige andere haben ähnlich gedacht und sind auf diese „Angebote“ der Justiz ebenfalls nicht eingegangen. Für diese Subversion wurden sie dann mit Strafbefehlen belohnt.
Ein echtes Aussiebverfahren. Die verbliebenen AktivistInnen, die gegen diese Strafbefehle mit Einsprüchen vorgingen, müssen ja wohl so was wie der harte Kern sein. Da dräuen also doch noch Prozesse. Bei mir wird es aber doch nicht zu einem Prozess kommen, was ich sehr bedaure! Ich habe zwar niemals ein „Einstellungsangebot“ erhalten, dafür aber einen Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 31. Juli 2015. Mir wurde darin generös mitgeteilt, dass die Kosten des Verfahrens von der Staatskasse übernommen werden.
Auf einmal ging es ratz-fatz
So weit, so gut! Die Sache hat aber natürlich einen Haken! Ich sollte nämlich meine eigenen Auslagen bezahlen. Das heißt in meinem Fall das Pflichtverteidigerhonorar. Nach Rücksprache mit meinem Anwalt erfuhr ich, dass ich von staatlicher Seite dafür eine „Kostennote“ von zirka 400 Euro zu erwarten habe.
Daraufhin legte ich eine sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss ein, in der ich darauf verwies, dass ich eine Haftentschädigung für 25 Tage U-Haft erwarte, die ich nach dem 20. Juni 2011 in Stammheim verbringen musste. Während sich die Justiz bis dahin über vier Jahre Zeit gelassen hatte, ging es jetzt auf einmal ratz-fatz.
Nobelpreis-verdächtige Ablehnungsbegründung
Bereits am 19. August 2015 lehnte das dafür zuständige Landgericht Stuttgart meine Beschwerde mit der drolligen Begründung ab, sie sei „nicht statthaft, weil ich durch die Verfahrenseinstellung nicht beschwert sei.“ (Sic!) Super Formulierung, konnte ich da nur sagen, aus der Ferne winkt der Literatur-Nobelpreis. Etwas überrascht war ich auch über den Hinweis, das ich auf mögliche Entschädigungsansprüche bereits verzichtet hätte. Wusste ich bis dahin gar nicht; habe ich auch gar nicht; aber wenn es das Landgericht sagt, muss es ja stimmen. Oder!?
Da mir dieser Beschluss des Landgericht Stuttgart doch etwas obskur erschien, habe ich erneut eine sofortige Beschwerde gegen ihn eingelegt. Das nunmehr zuständige Oberlandesgericht Stuttgart lehnte mit Beschluss vom 4. September 2015 auch diese Beschwerde ab. Die ironische Begründung: Eine Beschwerde sei nur in Ausnahmefällen – wie zum Beispiel Haft – zulässig! Dies sei bei mir nicht gegeben. Punkt!
Statt Gefängnisessen lieber Hungerstreik
Das OLG Stuttgart hat aber zumindest nicht vergessen, mir mitzuteilen, dass gegen diese Entscheidung keine Beschwerden mehr zulässig sind. Endlich die lästige Zecke losgeworden, mögen sie gedacht haben. Nebenbei: Die Kosten für das Beschwerdeverfahren habe natürlich ich zu tragen.
Ich bin damit aus dem Spiel. Aber halt! Noch nicht ganz. Irgendwann werden bei mir die entsprechenden „Kostennoten“ ins Haus flattern. Diese werde ich nicht bezahlen.
Ein solch rebellisches Verhalten führt unweigerlich zu einer Ersatzfreiheitsstrafe.
Darauf freue ich mich schon, vielleicht bekomme ich meine alte Zelle in Stammheim wieder.
Um weitere Kosten zu vermeiden, wie zum Beispiel für das opulente Gefängnisessen, habe ich mich für diese Zeit zu einem Hungerstreik entschlossen.
Siehe auch die früheren Folgen:
Eine kleine Odyssee durch die Welt der Justiz (1)
Eine kleine Odyssee durch die Welt der Justiz (2)
Eine kleine Odyssee durch die Welt der Justiz (3)
Unterschiedliche Ereignisse – gemeinsame Ursachen
Kommentar von Michael Janker
Mir ist durch eine Vielzahl persönlicher Erzählungen bekannt, dass viele AktivistInnen des 20. Juni 2011 durch die erfahrenen Repressionsmassnahmen traumatisiert wurden. Dies gilt zweifelsfrei in noch größerem Maße für die Opfer des Schwarzen Donnerstags 2010. Trotzdem verblassen diese Daten natürlich, wenn wir uns die Vielzahl von schrecklichen Ereignissen vergegenwärtigen, die in jüngster Zeit die ganze Welt erschüttern.
In Erwägung, dass in der BRD Pegida, AfD, Hogesa und ähnliche Neonazibanditen völlig ungehindert und geschützt von der Polizei ihre rassistischen und menschenverachtenden Parolen herausbrüllen können, dass angestachelt von diesen Verbrechern und von bürgerlichen Politikern, die diese Hassparolen direkt und indirekt unterstützen, aufgewiegelte Fanatiker nahezu jeden Tag Flüchtlinge angreifen und deren Unterkünfte in Brand stecken (wobei die Täter quasi nie gefasst werden), dass Tausende und Abertausende von Refugees, die sich auf der Flucht vor Hunger, Elend und Krieg befinden, auf dem Weg nach Europa durch eine gewissenlose Abschottungspolitik der EU elendiglich sterben müssen, dass diejenigen Flüchtlinge, die nach unsäglichen Mühen doch hier ankommen, nicht nur Angriffen der etablierten bürgerlichen Politik und offen auftretender Nazis ausgesetzt sind, sondern auch in „nützliche“ und „unnütze“ Gruppen aufgeteilt werden; mit dem perfiden Ziel die „Nützlichen“ hemmungslos in unserem kapitalistischen System ausbeuten zu können; während die „Unnützen“, allen voran Sinti und Roma, in sogenannte „sichere Staaten“ wie den Kosovo oder die Türkei abgeschoben werden.
In weiterer Erwägung, dass die Gründe, warum alle diese Menschen flüchten, darin zu suchen sind, dass die imperialistische Politik vor allem der USA und der EU immer mehr Regionen der Welt in Chaos und Zerstörung treibt. Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, der Jemen, die Ukraine und so weiter. Mit euphemistischen Begriffen wie Freiheit, Demokratie oder „humanitärer Intervention“ wird verschleiert, um was es wirklich geht: um den ungehinderten Zugriff auf Rohstoffe und menschliche Ressourcen; um den Zugang auf noch mehr globale Märkte; um aus geostrategischen Überlegungen mögliche Konkurrenten zu schwächen oder gar auszuschalten.
In der Erwägung, dass dieser zunehmende Imperialismus auch unweigerlich zu einer zunehmenden Faschisierung und Radikalisierung vieler Gesellschaften führt: der Front National in Frankreich; Orban in Ungarn; das faschistische AKP-Regime in der Türkei, das unter Erdogan einen grauenhaften Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden und türkische linke Gruppen in Syrien, dem Irak und im eigenen Land führt, auf der anderen Seite aber Mörderbanden wie den IS offen unterstützt, dass auch in der angeblich so sicheren und wohlhabenden BRD immer mehr Menschen in Armut und an den Rand der Gesellschaft getrieben werden und damit häufig in die offenen Arme rechter Ideologen und Rassisten. Die Bezieher von Hartz-IV leiden unter Demütigungen schikanöser Behörden, werden überwacht und kontrolliert. Kinder, Rentner oder kranke Menschen werden durch sinkende Ausgaben für Bildung und Gesundheit existenziell bedroht, während auf der anderen Seite der Militäretat genauso exorbitant steigt, wie der Profit der Rüstungsindustrie… erscheint es also zunächst nicht angebracht, Daten und Ereignisse wie den Schwarzen Donnerstag oder den 20. Juni mit den gegenwärtigen Kriegen und Katastrophen des globalen Kapitalismus zu vergleichen. In Stuttgart sind keine Menschen gestorben. Bei solch unnützen Großprojekten wie BER, der Fehmarnbelt-Querung oder S-21 werden „nur“ Milliarden an Steuergeldern (die in anderen Bereichen besser aufgehoben wären) verschleudert sowie Umwelt und Natur zerstört.
Diese auf den ersten Blick so unterschiedlichen Ereignisse haben aber trotzdem gemeinsame Ursachen und Wurzeln. Sie sind begründet in unserem kapitalistischen Gesellschaftssystem, das in seiner Gier nach Mehrwert und Profit keinerlei Skrupel, Hemmungen oder menschliche Solidarität kennt. Dieses System wird sich auch nicht durch Gerichte, Parlamente oder sonstige reformistische Maßnahmen ändern.
Um diese Missstände wirklich zu beseitigen, brauchen wir einen radikalen und grundlegenden Gesellschaftswandel. Diesen Wandel bekommen wir nicht geschenkt. Dazu bedarf es direkter klassenkämpferischer, internationalistischer und solidarischer Massenaktionen auf der Straße. In diesem Sinne: Vive la revolucion!
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