Von unseren ReporterInnen – Stuttgart/Mannheim/Ulm. Die Plattform „Nein“ in Europa rief europaweit für Samstag, 25. März, zu Demonstrationen gegen die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei auf. Über 1500 DemonstrantInnen wandten sich in Stuttgart und an die 100 in Ulm „gegen Erdogans Diktatur“, wie auf vielen Plakaten stand. Immer wieder riefen sie „Hayir“ – „Nein“. In Mannheim gab es schon am Freitagnachmittag, 24. März, eine Info-Aktion der CHP auf dem stark frequentierten Vorplatz des Hauptbahnhofs. Seit Montag sind die Wahllokale für BürgerInnen mit türkischer Staatsangehörigkeit zur Abstimmung über das Präsidialsystem geöffnet.
Die Demonstration in Stuttgart startete unter Polizeischutz in der Lautenschlager Straße. Sie zog am neuen Schloss und am Karlsplatz vorbei auf die Hauptstätter Straße mit dem Ziel Wilhelmsplatz. Dort versammelten sich die Teilnehmerinnen zur Abschlusskundgebung.
Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) zeigte sich solidarisch mit den DemontrantInnen. Sie suchte die Nähe zu den Versammelten. Immer wieder ließ sie sich mit DemonstrantInnen fotografieren. Aras, am 11. Mai 2016 mit den Stimmen von 96 Abgeordneten zur Landtagspräsidentin gewählt, ist deutschlandweit die erste Vertreterin der Grünen, die erste Muslimin und in Baden-Württemberg die erste Frau in diesem Amt.
Unterdrückung würde sich verfestigen
Die Demonstrantinnen befürchten, dass die Unterdrückung von Andersgläubigen und Oppositionellen in der Türkei rechtlich verfestigt wird. Auch die Rechte von Arbeitern würden abgeschafft. Die Verfassung müsse das Recht auf freie Meinungsäußerung, Religionsausübung und Frauenrechte beinhalten. Es gelte die Verfassung zu behalten, so die Plattform Hayir.
Mehrere Redner kritisierten Erdogans Vorhaben. Ahmet Nesin, Schriftsteller und Journalist, wurde am 20. Juni 2016 wegen des Vorwurfs, „Propaganda für eine terroristische Organisation“ betrieben zu haben, in der Türkei festgenommen. Die Verhaftung des Schriftstellers stand in Zusammenhang mit einer Solidaritätskampagne für die bedrängte prokurdische Zeitung „Özgür Gündem“. Nesin hatte dabei für einen Tag symbolisch den Chefredakteursposten der Zeitung übernommen.
- Turgut Öker Alevitische Union Europa AABK
- Ahmet Nesin, Schriftsteller und Journalist
Bundesregierung muss Unterstützung Erdogans beenden
In Ulm beteiligten sich am 25. März über 100 Menschen an einer Kundgebung unter dem Motto „Ulm/Neu-Ulm trifft sich im Nein“ auf dem Münsterplatz. Den Organisatoren war es wichtig, dass keine Fahnen oder Symbole gezeigt werden. Der Teilnehmerkreis setzte sich aus Privatpersonen und nicht aus Parteien oder Organisationen zusammen. Ihm gehörten auch Ärzte und Rechtsanwälte an, die gegen das Präsidialsystem stimmen.
Die Kundgebung begann mit Musik, zu der getanzt wurde. Die Redner wiesen auf die derzeitige Situation in der Türkei hin und erläuterten, was es bedeuten würde, wenn Erdogan die Möglichkeit bekäme, als Präsident und Parteichef in einer Person zu agieren. Das angestrebte System werde die Gewaltenteilung aufheben und alle Macht in den Händen Erdogans konzentrieren.
Als Präsident wäre er jederzeit in der Lage, das Parlament aufzulösen, Gesetze zu erlassen sowie Minister einzusetzen und abzusetzen. Erdogan könnte als Präsident alleine 12 von 15 der obersten Richter ernennen. Ferner würde es keine strafrechtliche Verfolgung für Straftaten des Präsidenten geben – er genösse lebenslang Immunität. Eine Rednerin sagte: „Wir appellieren an die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, damit sie ihre Unterstützung beendet und dem Treiben der Befürworter des Ein-Mann-Regimes nicht weiter tatenlos zuschaut.“
Kein Frieden mit Einschüchterung und Gewalt
Einer anderer Redner war SPD-Stadtrat Haydar Süslü. Er thematisierte die eingeschränkte Pressefreiheit in der Türkei nach einem „vermeintlichen“ Putschversuch. Er wies auf die vielen inhaftierten Journalisten hin, die kritisch berichtet hatten, und forderte, Deniz Yücel sofort freizulassen. „Wie hier in der internationalen Stadt Ulm die Menschen aus verschiedenen Nationen leben können, so ist es mir wichtig, dass auch in der Türkei die Menschen in Frieden zusammen leben können“, sagte Süslü: „Das geht nur mit einem freien Volkswillen, der für gemeinsame demokratische und humane Werte steht. Mit Druck, Angst, Einschüchterung und Gewalt funktioniert das nicht.“
Eine Teilnehmerin verteilte einen Zettel mit selbst verfasstem Inhalt: „Am 16. April wird in der Türkei eine Volksabstimmung über die Verfassung, welche seit 1982 präsent ist, stattfinden. Der Grund für diese Volksabstimmung ist der Wunsch der Durchsetzung des Präsidialsystems im Lande. Während 1923 die Demokratie in der Türkei durch das Staatsoberhaupt Mustafa Kémal Atatürk eingeführt wurde, entsteht fast 100 Jahre später unter einem anderen Staatsoberhaupt der Wunsch, diese Demokratie wieder abzusetzen.“
Nein zur Einschränkung von Rechten und Freiheiten
Und weiter: „Wir als Deutsch-Türken sind der Meinung, dass nicht ein alleiniges Staatsoberhaupt die Probleme des Landes, welche seit 14 Jahren immer mehr zunehmen, bewältigen kann. Im Gegenteil, diese Probleme können nur mit Hilfe von demokratischer Politik, welche uns den Frieden und die Freiheit gewährt, gelöst werden. Und somit sagen wir Nein, Nein zur Einschränkung unserer Rechte und Freiheiten, welche seit Jahren gefährdet sind. Wir sagen Nein zum Krieg gegen das Zeitalter! Nein zum Präsidialsystem, das in einer Diktatur münden wird!“
Vereinzelt versuchten einzelne überwiegend junge Leute, die Kundgebung mit lauten „Erdogan, Erdogan“-Rufen zu stören. Die Veranstalter ließen sich nicht provozieren.
Gegen Werbeveranstaltungen für Referendum
In Mannheim rief die Partei CHP Baden-Württemberg Genclik Kollari am Freitagnachmittag, 24. März, zu einer Informationsveranstaltung auf. Etwa zehn AktivistInnen verteilten über Stunden hinweg auf dem stark frequentierten Vorplatz des Hauptbahnhofs Infomaterial an PassantInnen. Die Akteure bezeichneten sich auf Nachfrage als parteienübergreifendes Bündnis. Es habe sich zur Aufgabe gemacht, über die Risiken und negativen Konsequenzen für die Demokratie in der Türkei und für das Zusammenleben türkischstämmiger Menschen in der Bundesrepublik bei einer Mehrheit für das Erdogan-Referendum aufzuklären.
Emrah Durkal, Mitorganisator und Mitglied der SPD in Mannheim, sagte uns, man wolle den Kontakt zu noch unentschlossenen Wählern suchen, um sie im Gespräch mit Argumenten und Fakten von einem „Hayir“ zu überzeugen. Außerdem wolle man klare Position gegen Veranstaltungen unter dem Titel „Evet“ (türkisch Ja) beziehen.
Ein autokratisches Ein-Mann-Regime
In einem Flugblatt mit der Überschrift „Was passiert, wenn Sie nicht ‚Nein‘ sagen“, wird anhand von 12 Punkten aufgelistet, was geschehen wird, wenn das AKP-Edogan-Referendum erfolgreich sein sollte. Unter anderem ist dort zu lesen, dass das Präsidialreferendum de facto eine Abkehr von der demokratischen türkischen Republik nach Kemal Atatürk hin zu einem autokratischen Ein-Mann-Regime darstellen würde.
In diesem Fall sei mit drastischen Einschnitten für die Meinungs- und Pressefreiheit, den Arbeitsmarkt, die wirtschaftliche Entwicklung und die internationalen Beziehungen zu rechnen, ebenso mit einer Begünstigung der Korruption.
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