Von Doris Keller – Waiblingen. Dem Vortrag „Pulverfass Türkei – der Weg Erdogans in die Diktatur“ des Vorsitzenden der türkischen Gemeinde in Deutschland Gökay Sofuoglu beim DGB Kreisverband Rems-Murr verfolgten die ZuhörerInnen mit großem Interesse. Das zeigte sich am Mittwoch, 29. März, auch in der anschließenden Diskussion, die die DGB-Kreisvorsitzende Christa Walz moderierte. Dabei gab es teilweise unterschiedliche Positionen. Doch alle waren sich einig in der Botschaft Hayir. Also im Nein beim Referendum.
Der Ortsvorsitzende des DGB Fellbach Dieter Keller stellte den Referenten vor: Gökay Sofuoglu, Bundes- und Landesvorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland und Baden-Württemberg. Die türkische Gemeinde bestehe aus 260 Verbänden mit zirka 60 000 Mitgliedern. Derem einstimmigen Beschluss, gegen die Verfassungsänderung zu stimmen, könne er und der DGB Rems-Murr sich nur anschließen, sagte Dieter Keller.
Nur ein Nein beim Referendum kann die Diktatur stoppen
In dem Titel der Veranstaltung „Pulverfass Türkei – Erdogans Weg in die Diktatur“ liege einerseits viel Sprengkraft, und andererseits zeige er auf, „dass Erdogans Weg in die Diktatur irgendwann mal angefangen hat“. Er hoffe, dass dieser Weg in die Diktatur durch ein Nein beim Referendum gestoppt und beendet wird, wenn sich Erdogan überhaupt noch aufhalten lässt.
Die Türkei und Erdogan seien gegenwärtig in aller Munde, sagte Gökay Sofuoglu . Das sei von Erdogan so gewollt. Seine Provokationen seien bewusst gewählt. „Die Gefahr einer nationalistischen, diktatorischen Entwicklung sehe ich jedoch nicht nur bei Erdogan. Schauen wir uns nur die USA und ihren Präsidenten Trump an. Auch in der EU gibt es nicht wenige Länder mit gefährlichen, rechtsgerichteten nationalistischen Regierungen und Entwicklungen.“
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Erdogan stand einst für Würde und Nationalstolz
Wie wurde Erdogan zu dem was er heute ist? Den Weg Erdogans in die Diktatur zeigte Gökay Sofuoglo an Hand vieler politischer und ökonomischer Ereignisse, Zusammenhänge und Hintergründe. Als Ausgangspunkt nannte er die Rolle Erdogans und seiner internationalen Unterstützung als Oberbürgermeister von Istanbul von 1994 bis 1998 und seine erste Wahlperiode als Ministerpräsident. „Die gute Konjunktur nutzend hat er viele soziale, gesundheitspolitische und demokratische Veränderungen nach vorne gebracht. Dies auch in Kooperation mit den Gewerkschaften, die er heute bekämpft.“
Die Türken fühlten sich oft als Menschen zweiter Klasse behandelt. Mit diesen Veränderungen habe sich eingeprägt, mit Erdogan gehe es voran. Erdogan gab ihnen etwas ihrer Würde, Selbstbewusstsein und Nationalstolz zurück. Seine Popularität habe sicherlich damit etwas zu tun, sagte Sofuoglo. „Die gute Konjunktur hat für Erdogan gearbeitet. Doch schon damals hatte er andere Pläne. Nun fühlt er sich fast an seinem Ziel seiner Wünsche.“
Hinter Erdogan stehen mächtige Wirtschaftsinteressen
Regierungen der europäischen Länder und die bürgerlichen Massenmedien hätten ihn hofiert und als „Wunder vom Bosporus“ gefeiert. Erdogan gehörte und gehört heute noch zu den engsten Freunden des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Hinter ihm standen mächtige Wirtschaftsinteressen.
Gökay Sofuoglu kritisierte die „Militärhilfe und Rüstungsexporte der Bundesregierung an die Türkei“. Sie stärke Erdogans Machstreben. Die Bundesrepublik hat die Türkei im letzten Jahr von Platz 25 auf Platz 8 der Empfängerländer deutscher Rüstungsexporte gehievt. Nach wie vor sind die Bundeswehr und Tornados in Incirlik stationiert. Es sei ganz offensichtlich: „Die NATO braucht die Türkei und die Türkei die NATO.“
Der Putsch vom Juli war ein Geschenk Allahs für Erdogan
Er wisse nicht genau, wer hinter dem Putsch vom Juli 2016 steckte und wer ihn ausführte, sagte Sofuoglu. Doch eines sei gewiss: „Es war kein Militärputsch. Das türkische Militär hat Erfahrung beim Putschen. Sie machen das gründlich.“ Entlarvend aber ist die Feststellung Erdogans, dieser Putsch sei „ein Geschenk Allahs“. Ein Geschenk für ihn, um seinem Ziel einer Präsidialdiktatur näher zu kommen.
Der Ausnahmezustand der heute noch in Kraft ist, sei ein Weg zu diesem Ziel. Erdogan herrsche mit Terror und Gewalt. Täglich würden Menschen zu tausenden und abertausenden verfolgt, verhaftet und ihrer beruflichen Existenz beraubt. Selbst vor vom Volk gewählte Abgeordneten wird kein Halt gemacht. Menschenrechte und Menschenwürde würden mit Füßen getreten. Der Druck gegen das kurdische Volk werde verschärft, selbst auf die Gefahr, dass dies zu einem Bürgerkrieg führen kann.
Auch in Deutschland lebende Türken haben Angst
In diesem Ausnahmezustand findet das Referendum statt. Das türkische Fernsehen könne er sich kaum noch ansehen, sagte der Referent.“Es ist gleichgeschaltet. Über alle Kanäle wird nationalistische Hetze betrieben und die Bevölkerung aufgerufen, beim Refendum mit Ja zu stimmen. Die Neinsager werden hingegen werden als Vaterlandsverräter und Terroristenschützer denunziert, diffamiert und kriminalisiert. Auch viele in Deutschland lebende Türken fühlen sich eingeschüchtert. Sie haben Angst.“
Auf die Frage aus dem Publikum, wie er bei einer solch einseitigen Ausgangslage das Ergebnis des Referendums einschätze, sagte Sofuoglu: „Es gibt nicht nur Erdogan sondern auch ein starkes Nein.“ Das mache ihm Hoffnung. Selbst im Lager Erdogans gebe es mittlerweile viele Neinsager. Wenn all die Neinsager und Eingeschüchterten zur Abstimmung gingen, sei er zuversichtlich, dass die Mehrheit mit Nein stimmt.
Provokationen im Vorfeld sind nicht auszuschließen
Dazu gebe es aber noch viel zu tun – auch für GewerkschafterInnen. Nicht bevormundend, sondern ermunternd. „Wir sollten solidarisch sein mit den Menschen, die sich in der Türkei wie bei uns für Demokratie und Menschenrechte, gegen staatliche Willkür und Gewalt einsetzen“, war man sich einig. Gökay Sofuoglo schloss nicht aus, dass es im Vorfeld noch zu Provokationen kommen könnte, um die Stimmung auch in Deutschland negativ zu beeinflussen.
Auch der menschenfeindliche Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei spielte in der Diskussion eine wichtige Rolle. Dazu Gökay Sofuoglu: „Das Abkommen macht Deutschland und Europa erpressbar. Erdogan nutzt das immer wieder aus. Schon deshalb muss es aufgekündigt werden.“
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