Kommentar von Alfred Denzinger – Hamburg. Die Protestbewegung gegen den G20-Gipfel setzte ein starkes Zeichen. Allein am Samstag zogen 76 000 Menschen durch Hamburg. Es gab dabei die eine oder andere Polizeiprovokation, auf die aber glücklicherweise niemand hereinfiel. Abseits der vielen Demonstrationen gegen den Gipfel sah man allerdings andere Szenen. Es gab erhebliche Gewaltausbrüche. Sie stehen nun im Fokus von Presse und Politik. Die riesige legitime Protestwelle gegen das Treffen der Mächtigen dieser Welt interessiert niemanden mehr.
Auch der Bruch der Rechtsstaatlichkeit durch die Polizei interessiert nicht. Die absolut unangemessene Polizeigewalt an allen Tagen des Protests wird nur vereinzelt thematisiert. Für die meisten Medien und Politiker sind die vermummten Beamten ja schließlich „unsere Helden“, die ja nur „unser Deutschland“ vor dem Untergang bewahrt haben. Jetzt überwiegt der Hass auf alles, was irgendwie „links“ erscheint. Der Bundesvorsitzende der Linken Bernd Riexinger erhielt Morddrohungen. Die Hetzjagd hat begonnen.
Ausbrüche von Gewalt
Ja, es gab in Hamburg Gewalt, die alles übertraf, was ich bisher bei Protestaktionen erlebt habe – auf Seiten der Polizei und auf der Seite von ZivilistInnen. Pfefferspray, Tränengas, Wasserwerfer, Schlagstock, Pistolenschüsse. Die Zahl der verletzten DemonstranInnen ist nicht bekannt. Es herrscht darüber absolute Funkstille. Ich schätze, dass es mindestens dreimal so viele verletzte Zivilisten wie Polizisten gibt.
Laufend kam es zu Einschränkungen der Versammlungs- und der Pressefreiheit. Andererseits gab es Brandstiftung, Sachbeschädigung, Plünderung, Angriffe auf Polizeibeamte. Die Polizei spricht von rund 500 Verletzten in ihren Reihen. Alles in allem keine schöne Sache. Allerdings wurde inzwischen berichtet, dass die Zahl der tatsächlich verletzten Polizeibeamten wesentlich niedriger sei. So sollen mehr als die Hälfte der Verletzungen von den Polizisten schon vor den Protesten gemeldet worden sein. Auch Kreislaufprobleme und Dehydrierung sind mitgezählt.
Cui bono – wem nutzt es?
Einige Fragen zu dem Erlebten in Hamburg treiben mich um. Warum stoppt die Polizei eine friedliche Demonstration? So geschehen am Donnerstag (siehe hierzu „„Welcome to Hell“ für Staatsgäste und Gipfelgegner„). Warum hat die Polizei später Ausschreitungen nicht im Ansatz erstickt? Warum hat die Polizei die Straßen rund um die Ausschreitungen im Schanzenviertel nicht abgeriegelt, sondern Partygänger und Touristen zugelassen? Wer waren die ZivilistInnen, die dort randaliert haben? Wer profitiert von dem Geschehen?
Warum stoppt die Polizei eine friedliche Demonstration?
Die Demonstration „Welcome to Hell“ wird nach wenigen Metern gestoppt. Die VersammlungsteilnehmerInnen werden von einer martialisch auftretenden Polizei bedroht und provoziert. Es kommt zur (gewünschten?) Eskalation. Es fliegen Gegenstände in Richtung Polizei. Sie reagiert mit Wasserwerfer-, Pfefferspray- und Schlagstock-Einsatz. Auch Pressevertreter sind unter den Opfern des massiven Polizeiangriffs.
Klar ist, dass die Polizei am Fischmarkt mit brachialer Gewalt gegen eine bis zu diesem Zeitpunkt absolut friedliche Demonstration vorging. Angeblich wollte sie keine größere Zahl vermummter DemonstrantInnen hinnehmen. Tatsächlich handelte es sich wohl um eine Eskalation mit Ansage. Der Plan der Polizei scheint aufgegangen zu sein. Die Veranstalter erklärten ihre Demo entnervt für beendet. Polizei und Boulevard-Presse haben ihre gewünschten Bilder. Der Grundstein für die weitere Eskalation war gelegt.
Warum hat die Polizei die Ausschreitungen nicht im Keim erstickt?
Am Donnerstagabend feierten ein paar hundert Menschen im Schanzenviertel vor der Roten Flora. Es herrscht eine absolut friedliche Stimmung. Unsere Truppe von den Beobachter News sitzt im Freien und isst Pizza. Hin und wieder erscheinen mehre Polizeitrupps in Vollausrüstung – vermummt und behelmt. Sie stellen sich provokativ an mehreren Stellen auf. Nichts passiert. Diese Situation scheint der Polizeiführung – warum auch immer – nicht zu passen. Die Trupps rücken ab. Nach wenigen Minuten fahren mehrere Mannschaftswagen der Polizei durch die Straße an der Roten Flora. Nichts passiert. Wenige Minuten später nochmal das Spiel: 10 bis 15 Mannschaftswagen mit Blaulicht und Martinshorn donnern zwischen den feiernden Leuten hindurch.
Es fliegen die ersten Flaschen in Richtung der Polizeiautos. „Haut ab“-Rufe wird dem Polizeikonvoi hinterhergerufen. Über den Sinn dieser Polizeiaktion kann man nur spekulieren. Jedenfalls errichten in der Folge Personen auf der Straße unter den Augen von Polizisten eine Minibarrikade. Irgendwann zündet jemand diese Barrikade an. Die Polizei greift nicht ein. Ein Wasserwerfer fährt vor – und fährt nach wenigen Augenblicken wieder weg. Die Polizei hätte das Minifeuer mit einem Feuerlöscher oder einem Wasserwerferstrahl löschen können. Offensichtlich war das aber nicht gewollt.
Selfies vor brennenden Barrikaden
Es gab Leute, die weitere Gegenstände ins Feuer warfen – und es gab Leute, die Gegenstände wieder herauszogen und Fragen stellten wie zum Beispiel „spinnst du?“. Die Akteure bei dieser Szene waren überwiegend nicht vermummt und machten einen auffällig betrunkenen Eindruck. Diese Leute fertigten vor der brennenden Barrikade mit ihrem Handy Selfies an. Lauter Umstände, die ich bei politisch links gerichteten Ereignissen bisher noch nie beobachtet hatte.
Das Feuer wurde größer und größer. Die Polizei schaute zu. Das Feuer und die Menschenmenge wuchs unter den Augen der untätigen Polizei.
Erst als das Feuer eine stattliche Größe erreicht hatte, rückte die Polizei mit Wasserwerfer und Räumfahrzeug an. Diese Fahrzeuge standen über einen längeren Zeitraum am Rande bereit. Der Strahl des Wasserwerfers löschte das Feuer innerhalb kürzester Zeit, und das Raumfahrzeug schob die Barrikadereste einfach weg.
Warum riegelte die Polizei die Straßen im Schanzenviertel nicht ab?
Dieses „Spiel“ ereignete sich in ähnlicher Form auch in den beiden folgenden Nächten. Auffallend war dabei, dass die handelnden Akteure jedes Mal jünger wurden. Von Freitag auf Samstag waren sehr viele Heranwachsende beteiligt.
Die Ausschreitungen gipfelten schließlich in Plünderungen, Brandstiftungen und nach Polizeiangaben auch in massiven Angriffen auf die Polizei. Seltsamerweise wurden die als gefährlichste Gruppe vorgeführten Akteure zunächst zwar festgenommen, aber kurzfristig wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie sollen Steinplatten und einen Molotowcocktail auf Beamte geworfen haben.
Immer mehr Menschen strömten aus allen Richtungen ins Schanzenviertel. Darunter augenscheinlich viele Touristen. Schaulustige, welche die Akteure buchstäblich anfeuerten. Die Polizei war zwar massiv rund ums Schanzenviertel präsent, sie sperrte die Zugänge aber nicht ab.
Auch Neonazis unter den Randalierern
Es waren die unterschiedlichsten Menschen zu sehen. Von geschätzt 14 bis maximal 50 Jahre alt waren die Personen, die da randalierten. Zu fast hundert Prozent Männer. Es waren Unterhaltungen – eher Wortfetzen – in deutscher, italienischer, französischer und holländischer Sprache zu hören. Es waren nur sehr wenige Fahnen oder ähnliches zu sehen. Solche Symbole werden bei politischen Ereignissen sonst zahlreich zur Schau gestellt.
Es waren nahezu keine politischen Parolen zu hören. Es handelte sich um ein sehr breites Spektrum aus allen möglichen Lagern. Von Linksautonomen über angetrunkene „Unpolitische“ bis hin zu rechten Hooligans, Pegida-Anhängern und Neonazis. Verschiedene Neonazi-Organisationen bekennen sich inzwischen dazu, dabei gewesen zu sein.
Auf den von uns dokumentierten Videos ist zu hören, wie bei einem massiven Angriff auf Polizisten der rechte Hooligan-Schlachtruf „Ahu, ahu, ahu“ gebrüllt wird. In einer anderen Szene erschallt die Pegida-Parole „Wir sind das Volk“.
Eine Gewerbetreibende, deren Geschäft sich im direkten Umfeld der Roten Flora befindet, erklärte gegenüber den Beobachter News, dass sie unter den Randalierern keine Leute aus der Roten Flora gesehen habe. Sie sei jeden Tag mehrfach am späten Abend auf die Straße gegangen, um zu schauen, was da geschieht. „Ich bin seit rund 40 Jahren im Schanzenviertel und kenne die Leute aus der autonomen Szene hier sehr genau. Da war keiner von denen dabei. Das würden die auch niemals tun. Die zerlegen doch nicht ihren eigenen Kiez“, erklärte sie uns (siehe hierzu auch die Erklärung von Gewerbetreibenden aus dem Schanzenviertel).
Die zunächst festgenommenen 13 „Terroristen“, die von einem Hausdach Steinplatten und einen Molotowcocktail auf Polizisten geworfen haben sollen, wurden nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Warum? Haben die nichts getan? Oder handelt es sich um Personen, die die Polizei nicht verfolgen will? Passte die Gruppe nicht in das gewünschte (Feind-)Bild? Waren es gar Polizeiprovokateure?
Festgenommene „Terroristen“, aber keine Haftbefehle
Die Hamburger Morgenpost meldete, dass Georg Dittié, Fachingenieur für Wärmebildtechnik und anerkannter juristischer Sachverständiger, zu einem anderen Ergebnis als die Polizei kommt. Nach seiner Einschätzung handelte es sich bei dem vom Dach geworfenen brennenden Gegenstand gar nicht um einen Molotowcocktail, sondern um einen Böller.
Es gibt einen weiteren „Terroristen“. Er soll einen Hubschrauberpiloten mit einem Laserpointer attackiert haben. Der Vorwurf lautet unter anderem auf versuchten Mord. Das ist nun wirklich eine sehr gefährliche Sache. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn der Hubschrauber abgestürzt wäre. Womöglich in eine Menschenmenge. Wer ist diese Person, die das getan hat? Ein linksautonomer Gewalttäter? So wie es bisher aussieht, war es ein genervter Vater, der sich darüber aufregte, dass seine vierjährige Tochter wegen des Hubschrauberlärms nicht schlafen konnte.
Alles in Allem scheint es sich insgesamt um keine eindeutig bestimmte politische Ausrichtung gehandelt zu haben. Es war ein Gemisch aus den verschiedensten politischen Lagern und aus unpolitischen Gaffern, die sich – meist angetrunken – zum Mitmachen berufen fühlten. Und dann gab es noch Leute, die nach Verfassungsschutz- und/oder Polizeiprovokateuren buchstäblich gerochen haben. Zivilpolizei soll jedenfalls genug dabei gewesen sein (siehe Video).
Wer profitiert von den Ereignissen?
Den Profit aus den heftigen Ausschreitungen ziehen eindeutig nicht die G20-GegnerInnen. Die Hamburger RotfloristInnen schon gar nicht. Einzig und allein die politischen Kreise, denen alles, was auch nur ein bisschen nach „links“ aussieht, ein Dorn im Auge ist.
Die Hetzjagd auf Linke hat begonnen. Es werden Forderungen laut, alle „Autonomen Zentren“ zu schließen. Der „Linksextremismus“ müsse viel stärker bekämpft werden. In Nordrhein-Westfalen sprachen sich am Donnerstag die Fraktionen von CDU, FDP und AfD dafür aus, die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte abzuschaffen. Die Kennzeichnung sei ein Ausdruck von Misstrauen gegenüber den Beamten.
Es gibt für mich absolut keinen Zweifel, wem die Bilder von den Ausschreitungen nutzen. Die reaktionären Kräfte wollten diese Bilder – und sie haben sie leider zur Genüge erhalten. Sie lachen sich ins Fäustchen, die Herrschenden. Zusammen mit Neonazis, Pegida und Co.
Es wird (noch) deutscher in Kaltland!
Man sieht sich… auf der Straße! 😉
Siehe auch
Hunderte Nadelstiche gegen G20
Starkes Zeichen für grenzenlose Solidarität
Die Inszenierung der Macht brechen
Angriff auf die Pressefreiheit
„Welcome to Hell“ für Staatsgäste und Gipfelgegner
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