Gastkommentar von Eva Așkın – Stuttgart. Mit einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen aktiver Mitgliedschaft in der PKK hat das Oberlandesgericht Stuttgart Mulis Kaya von jeder eigenen Urteilsfähigkeit freigesprochen. Das Gericht wollte ihn nicht für seine durchweg legalen Taten, sondern für eine Führungsfunktion bei der Festigung der Ziele der PKK in Deutschland verurteilt wissen. Das Gericht zog niemals in Betracht, dass Kaya mit seiner politischen Tätigkeit seine eigenen Ziele oder die des kurdischen Volkes verfolgte, die sich eventuell mit den Zielen der PKK gedeckt haben mögen. Die Logik des Urteils beruht auf der Überzeugung, dass jede Selbstbestimmung, jede gedankliche Reifung oder Urteilsbildung der KurdInnen unmöglich ist.
Für Mitglieder des deutschen Staatsapperates ist jede kurdische Organisation, jeder kurdischer Verein, jedes kurdische Kulturzentrum und jede KurdIn unselbstständig, vernunftsunfähig und ein Instrument in den Händen der PKK. Der Senat konstruierte die Schablone „guter Kurde, der Opfer der türkischen Regierung ist, und böser Kurde, der sich gegen die Unterdrückung der türkischen Regierung wehrt“. Er will damit politisch organisierte KurdInnen schon einmal vorverurteien.
Moral ist keine Frage der Perspektive
Verurteilte der Senat tatsächlich die Instrumentalisierung von Menschen durch in verschiedenen Ländern mordende Vereinigungen, könnte er sich gut selbst in den Kontext zu seiner Arbeitgeberin setzen. Zwar erhebt der Senat den Anspruch, Mulis Kaya und der PKK moralisch weit überlegen zu sein, wofür er in seiner Urteilsverkündung reichlich wirbt. Doch beruht die Legitimität der Staatsgewalt, die eine deutsche SoldatIn oder GrenzpolizistIin repräsentiert, das Gewicht eines deutschen Freihandelsabkommens, einer deutschen EntwicklungspolitikerIn oder deutscher Lebensmittelpolitik nur auf der Machtposition als Nationalstaat – und mitnichten auf einem moralisch höheren Niveau.
Was sind diese RichterInnen selbst anderes als Justizmaschinen, denen man Angeklagte vorführt, damit sie nach dem Schema der Gesetzgebung Urteile aussprechen, welche eigentlich schon mit der Anklage und Untersuchungshaft umgesetzt werden? Ein sechköpfiger Senat, von dem nur zwei Richter überhaupt Fragen an die 33 ZeugInnen formulieren, zeugt nicht vom Versuch einer eigenen Urteilsbildung.
Was hat Mulis Kaya mit einem Anschlag in der Türkei zu tun?
Was hat Mulis Kaya, der in Deutschland einen Bus zu einer Demonstration gebucht hat, mehr mit einem Anschlag eines PKK-Mitgliedes in der Türkei zu tun als der Vorsitzende Richter, der Angehörige genau jener Volksgurppe auf der Grundlage inhaltsloser Kurznachrichten wegsperren lässt, mit der diplomatischen und militärischen Unterstützung der deutschen Regierung für die türkische Regierung, die Massaker an eben dieser Volksgruppe verübt?
Mit der gleichen Logik könnte man Wolfgang Schäuble als Mitglied der Troika für die Verelendung und Bereicherung des deutschen Staates an der griechischen Bevölkerung verurteilen. Oder die Führungsfunktionäre des Bundesministeriums des Innern für die Festigung der Ziele der Frontex-Agentur, die den Mord und den Tod zahlreicher Menschen an den europäischen Außengrenzen organisiert.
Wer mit aller Gewalt Recht spricht, will vernichten
In dem Selbstverständnis dieses Urteils zeigt sich das Ausmaß der Unterdrückung gegen kurdische Menschen und ihre Kultur in Deutschland. Es ist eine Gewalt an der Mündigkeit kurdischer Persönlichkeiten. Sie speist sich aus dem Zusammenwirken der Verfolgungsermächtigung durch das Justizministerium, der Anklageschrift durch die Bundesstaatsanwaltschaft, dem Haftbefehl durch das Gericht, der Überwachung durch den Verfassungsschutz, der Verhaftung und dem Einsperren durch polizeiliche Institutionen – aus der Zusammenarbeit zwischen den Kontaktpersonen der deutschen und türkischen Regierungen und vielem mehr.
Kurz: Sie speist sich aus dem Zusammenwirken der Mitglieder der deutschen und türkischen Staatsapparate. Die Richtersprüche gegenüber den einzelnen Angeklagten zeugen keineswegs von einer Gewaltenteilung, sondern von einer Bündelung der Gewalten staatlicher Institutionen.
Siehe auch Kurdischer Aktivist zu Gefängnis verurteilt
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