Von Gastautor Jürgen Klotz – Stuttgart. Im Juli des Jahres 1995 wurden im bosnischen Srebrenica 8372 männliche Muslime von bosnischen Serben verschleppt und ermordet. Der jüngste war gerade einmal elf Jahre alt. Das Massaker gilt als das grausamste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wurde als Völkermord eingestuft. Um der Opfer zu gedenken, gab es am Sonntag, 16. Juli, in Stuttgart einen Schweigemarsch. Er endete am Schillerplatz mit einer Kundgebung.
Sara Novkinic ist 18 Jahre alt und war noch nicht geboren, als in Srebrenica, einer UN-Schutzzone, der größte Völkermord nach 1945 stattfand. Sara hat den Ort des Schreckens besucht, wollte wissen, was den Menschen dort angetan wurde. Ihre Reise nach Srebrenica hat Spuren hinterlassen, über die sie am Schillerplatz spricht.
„Srebrenica. Für mich ein Ort der Stille. Ein Ort der Traurigkeit und ein Ort der Ungerechtigkeit. Dort angekommen spüre ich diese Stille. Diese Stille bedrückt mich und verursacht ein erschütterndes Gefühl in mir. Aber das war keineswegs normale Stille, vielmehr spürte man durch diese Stille, dass dieser Stadt das Leben genommen wurde. Sie ist wie ausgelöscht. Ich hätte mir das nie so vorstellen können. Im nächsten Moment überkam mich eine große Trauer. Allmählich realisierte ich, was hier geschah, wie viele Menschen auf grausamste Art und Weise ermordet wurden, wie viele Frauen ihre Männer verloren haben, wie viele Mütter ihre Söhne verloren haben und wie viele Schwestern ihre Brüder verloren haben. Auch war es nicht selten, dass eine Frau alles verloren hat! Ihren Vater, ihren Bruder, ihren Sohn und ihren Ehemann.“
Ihre Worte treffen einen als Zuhörer tief. Man merkt Sara an, wie sehr ihr die Reise nahe ging. Sie ist noch immer dabei, das Unvorstellbare aufzuarbeiten, das sich dort ereignet hat. Sie erzählt vom Besuch der alten Lagerhalle:
„Die Erschütterung nahm auch hier kein Ende, denn dies war der Ort, an dem die meisten Männer ermordet wurden. An den Wänden konnte man noch genau die Einschlaglöcher der Projektile sehen. Ziemlich schnell erkannte ich, dass die meisten jeweils in etwa Kopfhöhe waren. Dies erzeugte eine grausame Vorstellung in mir. Ich ging weiter und blieb an einer Wand stehen. Diese war beschrieben und an einer Stelle stand: ,,Killing is my business. And business is good“. Wie kann ein Mensch so sein? Wie gefühlslos kann man sein? Doch das wohl schlimmste Gefühl bekam ich in einem Raum, den ich nie vergessen werde. Es war sehr dunkel, dennoch konnte man das dunkle Blut noch an den Wänden erkennen. Die Wand war nur noch an wenigen Stellen zu erkennen. Dies war wohl das grausamste Gefühl und die grausamste Vorstellung, die ich jemals bekam. An dieser Stelle war es dann auch zu Ende für mich, viel mehr als diese Anblicke konnte ich nicht ertragen. Ich verlasse diesen Ort voller Trauer und Wut. Doch auch mit voller Entschlossenheit.“
Abda Novkinic denkt viel über Srebrenica nach. Er ist in Deutschland aufgewachsen, zu Schule gegangen, hat jüngst seine Berufsausbildung beendet. In seinem Redebeitrag sagt er, dass viele der Ermordeten in Srebrenica gerade einmal in seinem Alter waren, einige noch viel jünger.
„Das Leid des bosnischen Volkes, die Trauer, aber auch die Wut sind unermesslich! Noch heute haben viele, vielleicht auch hier unter uns, den Schrei einer vergewaltigten Frau in den Ohren, den Anblick von massakrierten Zivilisten vor Augen, und den Schmerz über den Verlust von Familienangehörigen in der Brust.“
Abda Novkinic warnt aber auch vor dem Hass, der neue gewalttätige Konflikte schüren könnte:
„Lasst uns die Energie aus dem Hass in die Liebe unserer Heimat stecken, lasst uns, einzeln oder gemeinsam in den Gemeinschaften, in denen wir organisiert sin, weitere Brücken in die Gesellschaft bauen, in der wir heute leben und diesem Land zumindest einen Teil dessen zurückgeben, was es uns oder unseren Eltern gegeben hat, als sie es am nötigsten hatten. Lasst uns unsere Erfahrungen nutzen, um diesen Ort, der ebenso zu unserer Heimat geworden ist, zu einem besseren machen, ohne Hass und ohne Gewalt. Lasst uns aber auch dem Land, das wir als Heimat bezeichnen, eine Stütze sein, denn es befindet sich immer noch, sowohl politisch als auch wirtschaftlich in einer schweren Situation. Wir sind heute hier, um an den Genozid von Srebrenica zu erinnern. Aber auch zum Mahnen! Zum Mahnen, weil sich Srebrenica jederzeit und überall wiederholen kann!“
Bis heute werden Opfer aus den Massengräbern rund um Srebrenica geborgen und mühsam identifiziert.
Nermina Zolj-Sabanovic erinnerte an die erst in diesem Jahr zur letzten Ruhestätte begleiteten jungen Männer:
„Mujić Hajrudin, Nukić Đemal, Ademović Šefik, Suljić Damir, Selimović Mesud fanden dieses Jahr am 11. Juli in Potocari ihre letzte Ruhe. Sie hatten eins gemeinsam: Ihnen wurde ihr Leben genommen, bevor es überhaupt angefangen hatte. 16 waren sie damals, geboren 1979 – im gleichen Jahr, in dem auch ich zur Welt kam. Wären sie am Leben heute, hätten sie wahrscheinlich Familie, Kinder. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit ihren Söhnen Fußball spielen, wie sie ihren Töchtern ein Eis kaufen.
Und dann sehe ich mich, wie ich mit meiner Tochter spiele. Sie ist jetzt sieben, voller Leben und Liebe. Unschuldig und unbelastet, sie weiß nicht, was Hass und Krieg sind. Und ich hoffe, sie wird es nie erleben. Ich hoffe und bete, dass sie nicht mit den Bildern aufwächst, mit denen wir aufgewachsen sind. Sie soll nie erfahren, was es heißt, Familie zu verlieren, fliehen zu müssen, Angst vor dem Nachbarn zu haben. Viele von uns haben genau das erlebt, viele leiden heute noch darunter.
Doch dass wir heute hier sind und gemeinsam die Erinnerung, die Trauer und die Schmerzen teilen, zeigt eins: Dass wir stark sind! Stark genug, um unser Leid in Stärke zu verwandeln! Stark genug, um unsere Kinder so zu erziehen, dass sie die Wahrheit kennen, aber nicht hassen! Stark genug, um die Veränderung zu sein, die wir in der Welt sehen wollen! Der 11. Juli ist der Tag unserer Trauer, dieser Tag ist wichtig, wir brauchen ihn zur Erinnerung und als Mahnung! Doch wichtiger als dieser eine Tag, sind die 182 Tage vor und die 182 Tage nach Srebrenica, denn in diesen Tagen gestalten wir unsere Zukunft.
Sophie Scholl sagte einmal: Man muss etwas machen, um selbst keine Schuld zu haben. Dazu brauchen wir einen harten Geist und ein weiches Herz. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur suchen wir sie zu wenig. Wir als Menschen, als Gesellschaft, als Gemeinschaft haben es in der Hand, was wir daraus machen. In einer Welt, geprägt von Hass, Terror, Krieg und geschürten Ängsten können wir ein positives Zeichen setzen.
Deswegen: Lasst uns füreinander da sein! Lasst uns unseren Kindern ein Vorbild in Sachen Wahrheit, Gerechtigkeit, Charakter sein! Lasst uns miteinander – nicht übereinander reden! Lasst uns so leben, dass der Tod dieser 8372 unschuldig Ermordeten nicht umsonst war! Mögen ihre Seelen Ruhe und Frieden finden, möge jede Mutter, Tochter, Schwester, Ehefrau Kraft, Stärke und Halt finden, aus Respekt, Solidarität und Mitgefühl, für jeden, der trauert, ich stehe heute hier und sage: ich bin Srebrenica, ich vergesse nicht!“
Das Böse darf nicht das letzte Wort haben
Der bosnische Künstler Mustafa Sirbic trug seine Verse in bosnischer Sprache vor. Elma Prosic übersetzte ins Deutsche. Ein Satz stach daraus besonders hervor: „Das Böse darf nicht das letzte Wort haben!“
Diesen Satz sollten wir uns alle immer wieder in Erinnerung rufen, gerade heute, da Europa wieder sehr unter Spannungen leidet.
Mit einem musikalischen Beitrag und einem Gebet für die Getöteten und deren Angehörigen ging die Kundgebung zu Ende.
Info über die Veranstalter:
Hinter dem kleinen Organisatoren-Team steht keine Partei oder eine muslimische Organisation, obwohl es derlei Anfragen gab. Da legt Nermina Zolj-Sabanovic auch allergrößten Wert darauf. Es soll eine privat organisierte Veranstaltung sein und auch bleiben. Es gehe nicht um Politik oder Religion, sondern um Menschlichkeit. Bereits vor zwei Jahren organisierte das Team eine Veranstaltung im Stuttgarter Lindenmuseum, an welcher Hatidza Mehmedović (Vorsitzende von „Majke Srebrenice“-„Mütter aus Srebrenica“), Dr. Ewa Klonowski (International Commission on Missing Persons -ICMP), Salih Brkić (Bosnischer Filmemacher und Journalist), Dirk Planert (Journalist und Vorsitzender des Vereins Help Srebrenica) sowie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Stefan Schwarz auf dem Podium saßen.
Wenige Wochen später fand der erste Schweigemarsch in Stuttgart statt (siehe „Nur wissen hilft gegen das Vergessen„). Viele Menschen hatten sich angeschlossen, und so stand für Nermina Zolj-Sabanovic fest, dass es eine Wiederholung geben muss. Mit Sara Novkinic, Abda Novkinic und Elma Prosic hat sie den erneuten Schweigemarsch organisiert.
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