Kommentar von Franziska Stier – Hamburg. Das Portal G20-Doku berichtete – Stand 20. Juli – von rund 90 Fällen von Grundrechtsverletzungen und 450 Hinweisen während des G20-Gipfels Anfang Juli in Hamburg. Doch der Persilschein des Regierenden Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) für die Beamten, es habe keine Polizeigewalt gegeben, bleibt bestehen. Auch der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) ergriff Partei für Vorgänge, die man nur als Grundrechtsverletzungen bewerten kann. In einer Talkrunde am 13. Juli bei Markus Lanz entwarf er ein Schreckensszenario über die Reisenden im Sonderzug aus Basel und forderte eine europaweite „Extremistendatei“. Doch die gibt es offenbar längst.
Mit seiner Forderung steht der CDU-Mann nicht allein. Obwohl es offenbar vor dem Gipfel einen intensiven Austausch zwischen Schweizer und deutschen Behörden gab, um „potenzielle Gewalttäter bereits frühzeitig zu erkennen und in der Folge […] gewalttätige Aktionen dieses Personenkreises […] zu verhindern.“ So steht es in der Stellungnahme der Bundespolizei zu unserer Frage nach dem Ziel des Einsatzes am G20-Sonderzug in Basel.
Am Badischen Bahnhof hatte mehr als eine Hundertschaft in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Grenzschutz und der Kantonspolizei Basel-Stadt 210 Zugreisende kontrolliert und 33 Einreiseverbote ausgesprochen (siehe „Polizei verzögert die Abfahrt und verhängt Einreiseverbote„). Auch Fedpol, die Schweizer Bundespolizei, leistete dem Nachrichtenportal „Watson“ zufolge in 12 Fällen Amtshilfe. Davon wusste die Bundespolizeidirektion Stuttgart offenbar nichts – zumindest verneinte sie eine direkte Zusammenarbeit.
Beweise für eine Gefährdung gab es nicht
Waffen und gefährliche Gegenstände fand die Polizei nicht. Bei zwei Personen stellte sie Schutzausrüstung sicher. Auf den Zetteln, die den Abgewiesenen übergeben wurden, war zu lesen: „Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet würde eine gegenwärtige, schwerwiegende Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft begründen oder die öffentliche Gesundheit gefährden.“
Leon (Name geändert) ist einer der vom Einreiseverbot betroffenen. „Ich habe mich wie im falschen Film gefühlt und lange gedacht, dass sich das noch klären wird“, erklärt er gegenüber Beobachter News. Gegen ihn lag vor Jahren ein unbestätigter Verdacht wegen Landfriedensbruchs vor, weil er in der Nähe einer unbewilligten Demonstration aufgegriffen wurde. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
Heute zweifelt er massiv an Rechtsstaat und Verhältnismäßigkeit: „Wenn also auch nicht vorbestrafte Menschen als schwerwiegende Gefährdung angesehen werden – das heißt ein unbestätigter Vorwurf ausreicht -, dann öffnet das dem Staat Tür und Tor für willkürliche Repressionen. Man könnte also irgendwen willkürlich beschuldigen. Und dies reicht aus, um die Person über zehn Jahre hinweg zu fichieren“ – also Informationen über sie zu sammeln und zu speichern.
Präventiv und willkürlich eines Grundrechts beraubt
Gegen den schwerwiegenden Vorwurf der Gesellschaftsgefährdung legte der anwaltliche Notdienst in mehreren Fällen Widerspruch ein und erhielt Recht. Das waren bis dahin nicht die einzigen Gerichtsentscheide, die das Vorgehen der Exekutive kritisierten. Die Zahlen von G20-Doku legen nahe, dass weitere folgen werden.
Entscheidend ist hier aber: Es wurde mehreren Personen präventiv und willkürlich eines der höchsten demokratischen Grundrechte, die Demonstrationsfreiheit, geraubt. Fragwürdig und unklar ist zudem, welche personenbezogenen Daten hier ausgetauscht wurden und ob die Betroffenen in Kenntnis gesetzt wurden, welche Informationen (wer auch immer) über sie gespeichert und weitergegeben hat.
Man kann also durchaus die Vermutung aufstellen, dass es die herbeigesehnte „Extremistendatei“ bereits gibt – vielleicht nicht europaweit, aber in kameradschaftlicher Zusammenarbeit geführt.
Ein Rechtsstaat darf keine Fake-News verbreiten
Selbstverständlich darf eine Demokratie auch wehrhaft sein und sich gegen antidemokratische Tendenzen zur Wehr setzen. Was sie jedoch nicht darf, ist Grundrechte willkürlich aberkennen. Die ausgesprochenen Einreiseverbote müssen gut begründet und belegbar sein. Und das war hier nicht der Fall.
Was eine Demokratie auch nicht darf: Fake-News verbreiten. Hamburgs Regierender Bürgermeister Olaf Scholz erklärte gegenüber dem NDR: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“ Das war keine Aussage, die – zumal die Aufarbeitung bereits begonnen hatte – unüberlegt oder in Unkenntnis erfolgt sein kann, sondern eine offensichtliche Lüge.
Keine Waffenfunde im Gepäck der Reisenden
Auch Thomas Strobl schreckt vor Verzerrungen nicht zurück. Im Zusammenhang mit dem Sonderzug von Basel nach Hamburg sprach er davon, dass man Leute, die gewaltbereit mit Zwille und Stahlkugel anreisen, aus dem Verkehr zog. Nach Angaben der Bundespolizei wurden jedoch keine Waffen im Gepäck der Reisenden in Basel gefunden, und auch an den Haltestellen Baden-Württembergs wurde nichts dergleichen sichergestellt. Dennoch wurde aus einem Zug voller vielfältiger AktivistInnen schnell das Bild eines durchgehend gewaltbereiten Mobs konstruiert.
Auch Medienschaffende bleiben von den Verzerrungen des CDU-Landesvorsitzenden und stellvertretenden Bundesvorsitzenden nicht verschont: „Es ist jetzt nicht so eine Schwierigkeit an einen Presseausweis zu kommen – in irgendeinem Land. Dann reist einer in dem Sonderzug und sagt den Polizisten: Ich bin ein Journalist und möchte nach Hamburg um da zu berichten. In Wahrheit ist das natürlich kein Journalist, sondern es ist jemand, der gewalttätig ist“, klärte Strobl die Fernsehzuschauer auf.
Auch Medienschaffende massiv behindert
Möglicherweise offenbart die Sichtweise des baden-württembergischen Innenministers auf die Pressefreiheit auch, weswegen ein Journalist der „Tageswoche“ daran gehindert wurde, zu den AktivistInnen auf den Bahnsteig zu kommen. Er war damit wohl einer der ersten Journalisten, die in Zusammenhang mit dem G20-Gipfel an der Ausübung der Pressefreiheit gehindert wurden.
In Hamburg wurde schließlich 32 JournalistInnen die Akkreditierung entzogen und teilweise auch der entsprechende, bereits ausgegebene Ausweis abgenommen (siehe „Angriff auf die Pressefreiheit„). Acht Betroffene haben inzwischen Klage beim Berliner Verwaltungsgericht gegen dieses Vorgehen eingereicht – unter ihnen der Chefredakteur der „Beobachter News“ Alfred Denzinger (siehe „Journalisten klagen wegen G20„).
Nachwuchsjournalistin im Visier der Polizei
Das war jedoch noch längst nicht alles. Einige Polizeieinheiten hinderten Medienschaffende aktiv an der Ausübung ihrer Arbeit. Sie beleidigten, stießen oder überrannten sie. Auch vor Pfefferspray- und Wasserwerfereinsätzen schützten Ausweis und Akkreditierung nicht. Auch nach dem Gipfel blieben JournalistInnen, die den Sonderzug zurück nach Basel nutzten, im Visier der Polizei. Die Nachwuchsjournalistin Lisa wurde trotz Presseausweis bei der Abreise videografiert, ihre Sachen wurden durchsucht.
Sie sagt dazu: „Wenn man mitten in der Nacht vor die Wahl gestellt wird, entweder in Hamburg zu stranden oder wie eine Straftäterin durchsucht und vor eine hellgraue Wand gestellt zu werden, seine Daten und sich selbst abfilmen zu lassen, dann fühlt man sich ohnmächtig. Dabei wollte ich nach den drei Tagen eigentlich nur nach Hause und schlafen. Welche Möglichkeiten hat man, wenn dann der Polizeibeamte bei Sichtung des Presseausweises mit den Schultern zuckt, verschmitzt auf einen herab grinst und sagt, man könne ja auch einen anderen Zug nehmen?“, fragt sie. „Es darf wirklich nicht sein, dass die Anerkennung des Presseausweises von der Willkür der Polizeibeamten abhängt. Die Deutungshoheit über die Ausstellung der Presseausweise und ihre Gültigkeit obliegt den journalistischen Verbänden!“ fasst Lisa die Situation zusammen.
Auch für die Anwohner brachte der G20-Gipfel Unfreiheit
Wenn also Hamburgs Bürgermeister Scholz (SPD) oder Strobl (CDU) darüber sprechen, dass man sich in einer Demokratie nicht die Freiheit nehmen lassen dürfe zu tagen, weil man sonst kapituliere, dann muss man dazu sagen, dass der Gipfel viel Unfreiheit bedeutete. Nicht nur im Schanzenviertel gab es rechtsfreie Räume. In weiten Teilen Hamburgs wurden sie geschaffen, und auch an Basels Badischem Bahnhof. Nur eben hier politisch gewollt und durchgesetzt von der Polizei.
Die Diskussion um Schutz vor Vandalismus wird erneut zu Lasten demokratischer Grundrechte geführt. Und statt erfolgreiche deeskalative Polizeistrategien in eine politische Auswertung einfließen zu lassen, wird in diversen Polittalksendungen darüber diskutiert, faktische Rechtsbrüche des Staates künftig zu legalisieren. Gleichzeitig grätschen Boulevardmedien wie „Bild“ oder Rechtspopulisten in die hitzige Debatte hinein und veröffentlichen in Eigenregie Fahndungsaufrufe.
Die totale Überwachung wird real
Dazu rief die Hamburger Polizei Privatleute auf, Handyvideos einzusenden. Die totale Überwachung (durch den Nachbarn) wird real. Die Unschuldsvermutung weicht dem Gedanken „Es hätte mein Auto sein können.“ Und so tobte auch der Online-Mob wütend über zu wenig Rechtsmittel und Zwangsmaßnahmen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es auch um die eigene Freiheit geht.
Die AfD-Landtagsabgeordnete Christel Weißig aus Mecklenburg-Vorpommern übertrumpfte die Debatte noch, indem sie zur Schussfreigabe gegen Plünderer aufrief. Und CDU-Vize Strobl erdreistet sich, der Justiz, die bisher bemüht war, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu wahren, schwere Fehler vorzuwerfen.
So funktioniert das mit dem Rechtsstaat einfach nicht.
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