Von Anne Hilger – Stuttgart. Mit einer stimmungsvollen Matinee feierte die VVN Baden-Württemberg ihr 70-jähriges Bestehen – und zwar dort, wo sie 1947 gegründet wurde: im damaligen Gasthaus „Rebstöckle“, dem heutigen Linken Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach.
Es waren die Überlebenden der Konzentrationslager, die nach ihrer Befreiung Antifa-Ausschüsse bildeten, aus denen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hervorging. Ihre Botschaft scheint in einer Zeit des Rechtsrucks, toter Flüchtlinge im Mittelmeer und drohender Kriege aktueller denn je. Denn die Unteilbarkeit der Menschenwürde ist längst nicht mehr Konsens. „Da hat sich was verändert“, sagte die stellvertretende DGB-Landesvorsitzende Gabriele Frenzer-Wolf in ihrem Grußwort.
Die VVN empfing ihre Gäste am Sonntag, 3. September, mit Sekt und Orangensaft. Viele langjährige Mitglieder und Freunde der Organisation füllten den Saal des Linken Zentrums, der mit Plakaten aus der Geschichte der VVN dekoriert war. Auch Büchertische waren aufgebaut. Die VVN-Landessprecherin Ilse Kestin erinnerte an die Anfänge der zwei Jahre nach Kriegsende gegründeten Organisation. 72 Jahre liegt der Schwur von Buchenwald, Faschismus und Krieg nie wieder zuzulassen, nun zurück.
Zunächst hatten die ehemaligen KZ-Häftlinge und Verfolgten des Nazi-Regimes eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, sagte Kestin. Doch das änderte sich in der jungen Republik mit dem Beginn des Kalten Krieges. Die VVN wurde als kommunistisch unterwandert gebrandmarkt. Bis 2010 galt ein Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD aus derzeit Kurt Schumachers.
Sicherung der Demokratie bleibt eine Aufgabe
Die „übergreifende Interessenvertretung aller vom Nationalsozialismus Verfolgten“ war die große Aufgabe der VVN. Sie verstand sich aber auch als politisch gestaltende Kraft: „Unsere erste Aufgabe ist, am Aufbau und der Sicherung einer wirklichen und nicht nur formalen Demokratie mitzuwirken“, sagte der württembergische VVN-Vorsitzende Friedrich Schlotterbeck 1948. „Das ist unser Selbstverständnis bis heute“, erklärte Kestin.
Wichtig sei, bündnisfähig zu sein. Es gelte, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und nicht nachzulassen, sagte sie unter Beifall. Man habe es nun mit einer neu erstarkten Rechten zu tun: „Offensichtlich ist der Schoß fruchtbar noch.“
Erst 2013 beendete die damalige grün-rote Landesregierung die Erwähnung der VVN im Jahresbericht des baden-württembergischen Verfassungsschutzes. Möglicherweise gebe es auch weiterhin Beobachtung, doch „die jährliche öffentliche Diffamierung und Stigmatisierung in dem Bericht ist seither unterblieben“, sagte Kestin. 70 Jahre antifaschistische Arbeit seien nicht ohne Spuren in der Gesellschaft geblieben. Doch es habe immer wieder Versuche gegeben, den antifaschistischen Konsens der Nachkriegsjahre zurückzudrängen.
Keine Toleranz für Fremdenhass
Eine Reihe von Grußworten zeigte die starke Verankerung der VVN. Landtagspräsidentin Muhterem Aras hatte einen Beitrag für die Jubiläumsausgabe der „Antifa Nachrichten“ verfasst. Die VVN sei heute „überparteilicher und konstruktiver Teil all derer, die sich um eine lebendige, kritische, ja auch mahnende Erinnerungskultur bemühen und daraus Zukunft gestalten wollen“.
Michael Kashi sprach als Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg vor Ort in Heslach. Er zitierte aus Hetz- und Hassbriefen, die seine Gemeinde ständig erhalte. In der Nacht auf 26. August sei die Fassade ihrer Synagoge in Ulm stark beschädigt worden. „Ich bin froh, dass es viele Menschen gibt, die das nicht tolerieren wollen, die gegen Fremdenhass und Antisemitismus, gegen Faschismus und Krieg eintreten“, sagte er. Die langjährige Arbeit der VVN verdiene Hochachtung.
Einst das Europa der Schlachtfelder
Gerade aus dem Urlaub zurück, erinnerte die stellvertretende DGB-Landesvorsitzende Gabriele Frenzer-Wolf in einer bewegenden Ansprache an die vielen Schlachtfelder Europas. Sie sei jedoch unterwegs in Prag oder in der slowakischen Tatra auch auf Spuren des Widerstands gestoßen. Es komme darauf an, an ihn zu erinnern. „Wenn es nicht seit 70 Jahren die VVN gäbe, müsste man sie gründen“, sagte sie.
Wer glaubte, in Europa seien Rassismus und Faschismus überwunden, werde derzeit eines Besseren belehrt. Es sei nicht mehr Konsens, dass es in der politischen Auseinandersetzung keine Verletzung der Menschenwürde geben darf, erklärte sie mit Blick auf den AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland, der davon sprach, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz zu „entsorgen“.
Eine andere Welt bleibt möglich
Europa sei in einem desolaten Zustand, sagte Frenzer-Wolf. Man arbeite mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und mit Libyen zusammen, obwohl es in den Flüchtlingslagern schwerste Menschenrechtsverletzungen gibt, und nenne die Seenotrettung von Menschen Fluchthilfe. „Da hat sich was verändert“, sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende. Deshalb sei die Arbeit der VVN „so wertvoll“.
Man dürfe nicht aufhören, zu erinnern und die Geschichten der Verfolgung und des Widerstands zu erzählen. Denn eine andere Welt sei möglich, schloss sie mit Bertolt Brechts Gedicht „Das Gedächtnis der Menschheit“: „Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! … Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind“.
Musikalische Revue zur Erinnerung
Das Revueensemble Kultur und Widerstand der VVN-BdA Ortenau bot einen historischen Rückblick mit Gesang, Lyrik und Musik. Zuletzt wurden das Lied von den Moorsoldaten und „We shall overcome“ gemeinsam gesungen.
Weitere Grußworte schlossen sich an. Bernd Riexinger, der Bundesvorsitzende der Linken, forderte in einer ausführlichen Ansprache, gegen Rassismus und die AfD zu halten und dem Rechtspopulismus den sozialen Nährboden zu entziehen. „Der Kampf gegen Rechts heißt immer, gleichzeitig gegen Ungerechtigkeit und soziale Polarisierung anzugehen“, erklärte er. Vor dem Hintergrund wachsender Kriegsgefahr forderte er einen Stopp der Rüstungsexporte.
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„Lilo Herrmann war eine mutige Frau“
Klaus Mausner überbrachte die Grüße der DKP. Er erinnerte daran, dass es „bekanntlich die Mitglieder der KPD waren, die die schlimmsten Blutopfer bringen mussten“. Wie Lilo Herrmann seien 30 000 Kommunisten von den Nazis ermordet worden. 200-bis 300 000 seien inhaftiert gewesen. Dennoch hätten sie bis zuletzt Widerstand geleistet.
Man könne sich leider nicht zurücklehnen, sagte Mausner. Der Kapitalismus selbst trage die Tendenz zur Entwicklung nach rechts in sich. „Die DKP ist und bleibt ein zuverlässiger und aktiver Teil des gemeinsamen antifaschistischen Widerstands“, versprach er.
Eine Sprecherin des Zentrums Lilo Herrmann schilderte, wie das Projekt im ehemaligen Gasthaus Rebstöckle, wo auch Mundarttheater gespielt wurde, entstanden ist. Im September 2012 war die offizielle Eröffnung. Sie erinnerte auch an die von den Nazis ermordete Namensgeberin Lilo Herrmann – eine „mutige Frau“ (siehe auch „Gedenkstein wird wieder eingeweiht„).
„Der Schwur von Buchenwald darf nicht beschmutzt werden“
Das Schlusswort übernahm der VVN-Bundesvorsitzende Axel Holz. „In Zukunft wird der Schwerpunkt der Arbeit im Kampf gegen den Rechtspopulismus liegen“, kündigte er an. Es werde „immer deutlicher: Die AfD stellt ein Teil des neofaschistischen Netzwerks dar, und vielleicht den zur Zeit gefährlichsten“. Als Beispiel führte er Chatprotokolle und in Mecklenburg-Vorpommern aufgetauchte „Todesliste“ an.
Vor allem aber sei es der AfD gelungen, die politische Debatte nach rechts zu verschieben und die CDU vor sich herzutreiben. Hart kritisierte Holz den Verfassungsschutz, der beispielsweise in Hessen Silvia Gingold beobachtet und verfolgt: „Der Schwur von Buchenwald darf nicht beschmutzt werden“, erklärte er. Es sei ungeheuerlich, jemanden als Feind der Demokratie abzustempeln, der sich auf ihn beruft.
Nach dem offiziellen Teil bot ein üppiges, teils vom Zentrum Lilo Herrmann und teils von der VVN-Landessprecherin bestücktes Büffet weitere Gelegenheit zum Austausch von Einschätzungen und Erinnerungen.
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