Von unseren ReporterInnen – Tübingen. Mit einer Matinee feierte die VVN-BdA Württemberg-Hohenzollern am Sonntag, 5. November, in Tübingen ihr 70-jähriges Bestehen. Gut 120 Mitglieder und Gäste versammelten sich im Museum, in dessen Schillersaal die VVN der damaligen französischen Besatzungszone am 31. August 1947 gegründet worden war. Hauptredner der Feier war Prof. Jürgen Wertheimer.
Der emeritierte Tübinger Literaturwissenschaftler warnte vor der AfD, deren Leute jetzt im Bundestag pöbelten, und thematisierte eine „Achillesferse des demokratischen Systems“: seine „strikte Rechtsstaatlichkeit“. Sie wahre die Rechte der Gegner, die um diese Schwäche wüssten und strategisch mit ihr spielten. Geprägt wurde der Vormittag außerdem von einem bewegenden und mitreißenden Auftritt der Klezmer-Gruppe „Jontef“.
Jürgen Wertheimer erinnerte auch an den 2001 gestorbenen Literaturwissenschaftler, Jurist und Sozialforscher Hans Mayer, der von den Nazis ins Exil getrieben wurde und ab 1963 in Tübingen lebte. Mayer war Mitgründer der gesamtdeutschen und hessischen VVN. Die wenigen Begegnungen mit ihm in den 90er Jahren hätten „extrem zwiespältige Gefühle“ in ihm ausgelöst, bekannte Wertheimer. Einerseits habe Mayer als „Inkarnation gutbürgerlicher Gediegenheit, ja Behaglichkeit“ gewirkt, doch auf „brüchigem Boden“: „Als Jude, Kommunist aus Deutschland geflogen, exiliert in der Schweiz, über die DDR in der BRD gelandet, fühlte er sich nirgends mehr so recht heimisch.“
Lothar Letsche: VVN vertritt alle Opfer der Nazipolitik
Lothar Letsche von der VVN-Kreisvereinigung Tübingen-Mössingen hatte die Matinee eröffnet. Er schlug einen Bogen von der März-Revolution 1949 zur Machtergreifung 1933 und zum März 1947. Die VVN habe sich als Organisation der politisch Verfolgten gegründet: „Es ging um eine überparteiliche, alle Opfer der Nazipolitik umfassende Vertretung.“
Die SPD Kurt Schumachers habe sich von Anfang an schwer getan mit der VVN. Eine Gegengründung Verfolgter aus SPD, CDU und FDP in Tübingen habe die Arbeit erschwert. Die VVN hatte eine „schwere Gratwanderung“ zu bestehen, sagte Letsche. Der kalte Krieg sei schon damals ein „heißer Krieg“, die Angst vor einem dritten Weltkrieg groß gewesen. Die Interessenvertretung von Naziverfolgten habe stets zum „Kerngeschäft“ der VVN gehört.
Letsche erinnerte auch an die Jahre von 1968 bis 1972, als die NPD dem baden-württembergischen Landtag angehörte. Schon zuvor hatte es einen Block der Heimatvertriebenen gegeben. Später folgten die „Republikaner“ und schließlich die AfD: „Wir als VVN waren berufen, darauf hinzuweisen, dass Faschismus keine Meinung ist, sondern ein Verbrechen.“
Arbogast: Wahlergebnis der AfD ist besorgniserregend
Die Tübinger Erste Bürgermeisterin Christine Arbogast berichtete in ihrem Grußwort auch über Erfahrungen aus ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Dass „erstmals seit Langem auch wieder Abgeordnete in den Deutschen Bundestag eingezogen sind, die fordern, dass ein Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit Deutschlands gezogen werden müsse“, sei „schier unerträglich“. Es zeige, wie wichtig es sei, ein mahnendes Gedächtnis zu erhalten.
Die Arbeit der VVN sei keine leichte, da es nicht wenige Menschen gebe, die meinten, die Vergangenheit ruhen zu lassen sei besser, als sich dauernd mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Viele, die demokratische Prinzipien als verhandelbar betrachteten, machten sich nicht bewusst, dass sie damit auch an den eigenen Stuhlbeinen sägten.
Arbogast forderte, nicht darin nachzulassen, demokratische Werte zu verteidigen und sich für die Menschenrechte stark zu machen. Sie warb auch für „die Idee einer europäischen Union, die seit Jahrzehnten für die längste Friedensphase sorgt, die wir in Europa je hatten.“
Die Erste Bürgermeisterin zählte Projekte der Stadt und der Universität Tübingen zur Erforschung der und Erinnerung an die NS-Zeit auf. So wurde ein Geschichtspfad zum Nationalsozialismus angelegt, und es werde die Einrichtung eines Lern- und Dokumentationszentrums zum Nationalsozialismus in der alten Güterhalle des Bahnhofs geprüft.
Sie selbst habe sich in den 90er-Jahren in ihrer Doktorarbeit mit dem Thema NS auseinander gesetzt und ihre historische Forschungsarbeit auch auf die Nachkriegsjahre ausgedehnt. Es sei bis heute eine „sehr spannende Frage, wie man in Deutschland mit der Aufarbeitung von Schuld umgegangen ist und heute noch umgeht“. Sie habe 1991 einen Archivar getroffen, der ihr sagte, es sei noch zu früh für die Bearbeitung ihres Themas. Arbogast hatte über Kreisleiter und Kreisfrauenschaftsleiterinnen der NSDAP in Württemberg geforscht. Viele Akten seien noch nicht sortiert und damit unzugänglich gewesen.
„Ich finde es besorgniserregend, dass wir in Deutschland eine AfD haben, die mit rund 13 Prozent der Wählerstimmen nun viele Ressourcen nutzen kann, um Werte und Normen in Frage zu stellen, die bisher bei uns Konsens waren“, erklärte sie: „Eine Partei, die das Grundrecht auf Asyl in Frage stellt, aus dem Euroraum aussteigen will und postuliert, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.“
Martin Gross: „Wir brauchen ein Europa der Menschen“
Verdi-Landesleiter Martin Gross widersprach Arbogast in einem Punkt: „Ich bin ein großer Verfechter der europäischen Idee, aber wir brauchen ein soziales Europa, und diese Idee ist zu kurz gekommen“, sagte er unter Beifall – auch von Arbogast selbst. Arbeitnehmer-Schutzrechte seien von der EU eher abgebaut worden. „Wir brauchen ein Europa der Menschen und nicht der Märkte“, forderte er.
Auch Gross hielt sein Grußwort sehr persönlich. Er erinnerte daran, wie Arbeiter, Bürgerliche und linksgerichtete Christen nach dem Krieg Antifa-Ausschüsse bildeten und versuchten, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden und einen antifaschistischen Grundkonsens zu vertreten. Vielerorts hätten sie die Rolle von Ortsverwaltungen übernommen, die für Lebensmittel, Unterkünfte und Reparaturen sorgten.
Die Antifa-Ausschüsse hätten aber keine Chance erhalten, eine Gesellschaft in ihrem Sinn aufzubauen. Die Militärverwaltungen ließen bereits im Sommer 1945 die traditionellen Parteien und Gewerkschaftsorganisationen wieder zu. Gerade in Baden-Württemberg seien wieder Menschen in Amt und Würden gekommen, die mit dem Nationalsozialismus und den ehemaligen Machtträgern des Faschismus verwoben waren.
Doch viele Gewerkschafter kamen aus der antifaschistischen Tradition, sagte Gross. Sie mussten sich um Nahrung und Kohle kümmern, erinnerte er an die Kältewelle 1947 im Gründungsjahr de VVN. Millionen von Flüchtlingen waren unterwegs. Im Ruhrgebiet traten 300 000 Kumpel in Streik. „Wir haben Hunger!“, stand auf ihren Plakaten. Sie forderten eine Bodenreform und die Enteignung der Grundbesitzer. Die britischen Besatzungsbehörden erließen Streikverbote und drohten harte Strafen an.
Als 16-Jähriger habe er an einem Seminar mit Alfred Hausser teilgenommen. Als Kommunist von den Nazis inhaftiert, war er einer der Gründer der VVN. Heute ist ein Preis nach ihm benannt. Die Idee, dass man sich nicht spalten lassen dürfe auf dem Weg zur Demokratie, habe ihn fasziniert und geprägt, sagte Martin Gross – aber auch „diese Souveränität und Lebenslust“. Nun komme die VVN in die Situation, dass bald keine Zeitzeugen und Betroffene mehr ihre Erfahrung weitergeben können. Umso wichtiger sei, im Umgang mit Jüngeren zu verdeutlichen, dass es für sie nicht um Schuld gehe, sondern „um eine besondere Verantwortung für unsere Demokratie“.
Die VVN sei nicht nur ein „Verband mit großer Geschichte“, sondern auch „so wichtig wie nie zuvor“, sagte Gross. Er sei vor einem Jahr im Landtag bei der Auschwitz-Gedenkfeier acht Meter von Jörg Meuthen von der AfD entfernt gesessen. „Wenn man seine Miene sah war klar: Diese Menschen dürfen nie an die Macht kommen.“
Verschiedene Mittel, doch das selbe Ziel
Der letzte Redner vor dem Auftritt der Gruppe „Jontef“ kam vom Tübinger Jugendbündnis „Offenes Treffen gegen Faschismus und Rassismus“. Ein mahnendes Gedenken an die Verbrechen der Faschisten gehe Hand in Hand mit dem aktiven und aktuellen Engagement „gegen alle, die sich in der menschenfeindlichen Tradition all derer befinden“, erklärte er.
Er verschwieg jedoch nicht, dass es sich „mit der Zeit so eingeschlichen“ habe, dass es „bei aller Verbundenheit und Vertrautheit in der Zusammenarbeit manchmal generationsbedingte Herausforderungen“ gebe, und spielte auf unterschiedliche Aktionsformen älterer und jüngerer AntifaschistInnen an. „Was uns eint, ist der stete und gemeinsame Wille, die kontinuierliche Arbeit in Hinsicht auf eine Gesellschaft ohne Diskriminierung und ohne Hass in all seinen Facetten und seiner tödlichen Konsequenz“.
Dieses Ziel erreiche man vor allem, indem man Begegnungen, Bündnisse und Strukturen schaffe, die immer wieder ein solidarisches Konzept verfolgten. Man wähle gleichberechtigt unterschiedliche Mittel, finde aber doch immer wieder zurück und zusammen. So erinnerte der Redner an das gemeinsame Gedenken vor fünf Jahren an den Mössinger Generalstreik, gemeinsame Vorträge und Fortbildungen oder gemeinsamen Protest gegen die jährlichen Fackel-Aufmärsche von Neonazis in Pforzheim.
Jürgen Wertheimer: „Neue deutsche Weinerlichkeit“
Die Ausführungen Jürgen Wertheimers zu „AlternativeN für Deutschland“ nach der Klezmer-Musik der Gruppe Jontef hatten viele mit besonderer Spannung erwartet. Der Redner erinnerte zunächst an Hans Mayer und wandte sich dann der aktuellen Situation mit einer angesichts des Flüchtlings-Zuzugs aufgeheizten Atmosphäre zu. Dabei ging er auch speziell auf Tübinger Verhältnisse ein.
„In jeder Diskussion kommt nachher irgendjemand und erklärt Dir mit Brio in der Stimme, ob ich eigentlich wüsste, wie es ‚draußen‘ zugeht. Ob das der Herr Professor in seinem Elfenbeinturm wüsste… Wutschäumend. Erregt. Ich finde diese neue deutsche Weinerlichkeit widerlich. Man bekommt den Eindruck vermittelt, ‚blonde deutsche Töchter‘ könnten auch in Tübingen kaum mehr über die Straße gehen, ohne von dunkelhäutigen Araberrudeln verfolgt zu werden“, sagte Wertheimer und spielte damit – ohne den Urheber namentlich zu nennen – auf eine Bemerkung des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer über „blonde Professorentöchter“ an.
Die Blessur der Demokratie
Und weiter: „Von wegen: ‚Wir schaffen das.‘ Hallo! Wir haben es schon längst geschafft! Betten in Auffanglagern stehen leer – abkassiert wird weiter. Und: Das Abendland ist allem Anschein nach nicht untergegangen.“
Trotz aller Normalität des Spekulierens, Konsumierens, Feierns: „Etwas hat sich geändert: Die AfD-Leute pöbeln im Bundestag. Die Demokratie hat jetzt eine Blessur.“ Wertheimer warnte jedoch davor, „den vorhandenen Rassismus nur am rechten Rand zu suchen und das Phänomen weit von uns zu weisen“. Ein Teil des Kampfes gegen rechts gelte der Rechten. „Ein anderer Teil dieses Kampfes aber richtet sich notwendigerweise gegen etwas in uns selbst. Und daran sollten wir nicht vorbeischauen, sondern diesen Reflex bearbeiten“, forderte er.
Asymmetrie der Kampfmittel
Eine weitere „Problemzone“ aus Wertheimers Sicht: „Das demokratische System hat eine Achillesverse, eine Schwachstelle, die es extrem verletzlich macht. Das ist seine strikte Rechtsstaatlichkeit.“ Deren Prinzipien irritierten im Kampf gegen Rechts zumindest bisweilen: „Wir müssen den Gegner zu Wort kommen lassen, wir müssen ihm Raum geben. Müssen bisweilen mehr als berechtigte Gefühle unterdrücken. Wir wissen das.“
So wie der Gegner – sei es die AfD, seien es Islamisten – ebenfalls von dieser Schwäche wisse und mit ihr spiele. „So kommt es zu einer gravierenden Asymmetrie der Kampfmittel, der wir nur schwerlich entkommen können, ohne uns selbst in den Rücken zu fallen“, sagte Wertheimer.
Wie man diesem Dilemma entgehen kann – dafür wage er kein Patentrezept zu geben. Aber Kampf gegen rechts bedeute auch Kampf gegen die eigene Unbeweglichkeit im Kopf.
Erst vor kurzem hatte die VVN Württemberg-Baden ihr 70-jähriges Bestehen gefeiert, und zwar ebenfalls an ihrem Gründungsort: im heutigen linken Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach (siehe unseren Bericht Niemals aufhören zu erinnern).
Bewegender und mitreißender Auftritt der Klezmer-Gruppe „Jontef“
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