Von Franziska Stier – Basel. Leyla Imret ist Bürgermeisterin von Cizre. Am 30. März 2014 wurde sie dort zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt. Sie startete mit 20 ambitionierten Projekten ins Amt, verbunden mit dem Ziel, Cizre zu einem wohnlichen Zuhause für alle Menschen zu machen. Doch vieles kam anders. Der fragile Waffenstillstand zwischen der türkischen Regierung und kurdischen Milizen brach. Cizre versank im Krieg. Leyla Imret wurde ihres Amtes enthoben und lebt jetzt wieder wie schon zu ihrer Schulzeit in Deutschland. Franziska Stier sprach bei einer Veranstaltung in Basel mit ihr.
Nach dem Ende des Waffenstillstands wurde Cizre mehrfach belagert, und die Regierung verhängte Ausgangssperren. Die längste dauerte 79 Tage. Wohngebiete wurden bombardiert. Menschen verbrannten in ihren Kellern. Leyla Imret wurde ihres Amtes enthoben, verhaftet, freigesprochen und erneut angeklagt. Nun lebt sie wieder in Deutschland, aber im Herzen ist sie in Cizre.
Es gibt keine Befreiung, wenn Frauen Politik machen wie Männer.
Es gibt hundert Fragen, die man ihr stellen möchte, und aus jeder Antwort ergeben sich neue. Doch das Eindrücklichste an ihr ist wohl ihr Blick auf Politik und ihre Art zu gestalten. Für dieses eine Mal sollen nicht die Gräuel, die in Cizre passiert sind, im Zentrum stehen, sondern das politische Alltagsgeschäft und eine etwas andere Haltung zu Kommunalpolitik, als wir sie kennen.
Franziska Stier, Beobachter News: Die HDP hat das Prinzip der gemischt geschlechtlichen Präsidien. Das gilt nicht nur für parteiinterne Funktionen, sondern auch auf Bürgermeisterebene. Du teilst dir also das Amt mit einem Mann. Wie kam es dazu, und was hat sich damit verändert?
Leyla Imret: Zunächst gab es in unserer Partei eine 40Prozent-Quote für Frauen. Mit der Zeit zogen auch bei den anderen Parteien immer mehr Frauen ein. Wir haben aber gemerkt, dass sich damit nicht viel verändert hat. Viele Frauen traten weiterhin nicht aus dem Schatten der Männer, und auch bei uns waren die Frauen nicht gleich beteiligt. Innerhalb der Partei hatten wir ein Co-Präsidium. Wir haben das Konzept dann auch für die kommunale Ebene in den gewählten Strukturen umgesetzt.
Es geht uns darum, eine weibliche Sicht in die Politik zu tragen. Denn nur so können wir auch die Gesellschaft verändern. Es gibt keine Befreiung, wenn Frauen Politik machen wie Männer. Wir sollten keine Politik von oben herab machen.
Wie habt ihr das gemacht? Die Türkei anerkennt ja nur eine gewählte Person.
Es war nicht einfach. Besonders dort, wo Männer die offiziell gewählten Bürgermeister waren, war es schwierig, die Co-Bürgermeisterinnen gleichermaßen zu beteiligen. Wir mussten uns neue Strategien überlegen. Also haben wir beispielsweise die Finanzen geteilt. Und ein Teil der Gelder war ausschließlich den Frauen vorbehalten. Wir haben dann Frauenstrukturen geschaffen und miteinander diskutiert, was wir mit dem Geld machen und was die Frauen in der Stadt brauchen. Das haben wir den Männern dann einfach mitgeteilt.
Wir haben nicht gewartet, bis sie uns etwas geben, sondern wir haben Tatsachen geschaffen (lacht). Wir haben ihnen gesagt, dass wir als Frauen über unser Leben und unsere Projekte selbst entscheiden wollen. Dann sind wir auch auf die Straßen gegangen und haben mit den Frauen vor Ort gesprochen und sie einbezogen. Als wir angefangen haben, diese Politik in den kommunalen Strukturen umzusetzen, waren unsere Bürgermeisterinnen nicht mehr allein. Sie hatten viele Frauen um sich, die mit ihnen gemeinsam überlegt und gemeinsam gehandelt haben.
Gab es keinen Widerstand der Männer?
Viele Männer würden ihre Macht nicht von allein teilen. Sie wollen mitentscheiden, auch über das Leben der Frauen, weil sie es so gewohnt sind. Wir müssen also partnerschaftlich mit unseren Männern und Co-Bürgermeistern streiten, damit sie lernen, dass sie nicht über unsere Belange entscheiden dürfen. Das war für uns alle ein revolutionärer Schritt.
In Cizre haben wir beispielsweise nur sechs Stadträtinnen von dreißig gewählten. Ich habe dann entschieden, dass in jeder Kommission mindestens zwei Frauen sitzen müssen. Das wollten die Männer nicht, und für die Frauen bedeutete es viel mehr Arbeit. Aber es war nötig, um in allen Gremien auch eine weibliche Perspektive zu haben.
Was hat sich in deiner Amtszeit Zeit für die Frauen verändert?
Ich war die erste Frau, die in Cizre zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Als ich begann, haben 20 Frauen in der Verwaltung gearbeitet. Sie waren in Bereichen tätig, in denen man sie nicht gesehen hat und sie kaum Entscheidungen treffen konnten. Wir haben dann zusammen geschaut, wie sie sich weiterbilden können, und ihnen mehr Sichtbarkeit im Rathaus verschafft.
Es gab aber auch Veränderungen in der Gesellschaft. Bisher gingen fast ausschließlich Männer zu den Bürgermeistern, um ihre Anliegen vorzutragen. Doch als ich gewählt wurde, kamen fast nur Frauen in unsere Sprechstunde. Einige wollten auch nur mit mir allein sprechen. Oft wurden sie von ihrer Familie oder ihren Männern geschickt, im Glauben, dass ich ihnen besser zuhöre als ihrem Mann. Das stimmt zwar nicht, aber dadurch erhielten sie auch neue Aufgaben und Wertschätzung in der Familie und begannen, den politischen Alltag der Familie zu gestalten. Sie haben dabei gelernt, sich selbst und ihre Anliegen zu vertreten.
Wie wirkte sich das aus?
Die kurdische Befreiungsbewegung hat zwar gezeigt, dass Frauen alles können, doch die politische Vertretung durch eine Frau war neu und hat nochmal eine andere Dimension eröffnet. Wenn eine Frau beispielsweise familiäre Probleme hat, konnte sie diese bisher nur mit dem Bürgermeister, einem Mann besprechen. Und ein Mann sieht die Probleme oft anders: „Bleib ruhig, halt dich zurück, mach doch einfach mit… Es ist dein Mann… dein Bruder… dein Vater… Es ist nicht schlimm.“ Als wäre es dein Schicksal und als würde es große Scham bringen sich gegen die Männer zu stellen.
Gewalt gegen Frauen ist ein großes Thema. Unsere Partei hat in Cizre zudem einen Verein gegründet, der Frauen bei familiärer Gewalt Unterstützung gibt. Wir haben Soziologen und Psychologen geholt, die sich um die Sicherheit und Gesundheit der betroffenen Frauen kümmern. Dieses Projekt brachte große Erleichterung.
Im Film „Dil Leyla“ gibt es eine Sequenz, in der du mit den Kindern über einen Spielplatz sprichst. Eure Begegnung ist sehr herzlich. Wie ist die Situation der Kinder in Cizre?
Ich habe mich nicht nur mit Frauen, sondern auch mit den Jugendlichen und separat mit den Kindern getroffen. Von den 140 000 Einwohnern in Cizre sind 35 Prozent Kinder und 45 Prozent Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren.
In der Zeit des Friedensprozesses kam beispielsweise die Polizei zu mir. Sie fragten mich, warum die Kinder sie immer wieder mit Steinen bewerfen und ob ich das ändern könne.
Die Kinder oder die Jugendlichen?
Die Kinder. Wenn sie einen Panzer sehen, werfen sie mit Steinen. Es ist fast wie ein Spiel für sie. Die Polizei wirft Tränengasgranaten nach ihnen, und sie laufen und verstecken sich. Aber es ist kein Spiel. Sie verbringen ihre ganze Kindheit im Krieg. Und sie sehen, dass Polizisten und Panzer Schaden bringen, Menschen töten, ihr Zuhause zerstören.
Wir haben daraufhin einen Kindertag organisiert, und ich habe mich mit ihnen getroffen, um herauszufinden, was ihre Wünsche sind. Fast keines der Kinder wünschte sich einen Ort zum Spielen. Sie wollen, dass keine Panzer mehr kommen und keine Kinder mehr getötet werden. Sie wollen Frieden und Rechte, aber auch Kurdisch sprechen in der Schule. Das waren keine Kinderträume. Es waren Wünsche von Erwachsenen. Sie sind gezwungen, schon so früh erwachsen zu sein. Es macht mich traurig zu sehen, dass ihnen ihre Kindheit von der türkischen Regierung genommen wird. Sie haben ein Recht darauf. Wie soll ich all diese Verletzungen heilen?
In der Türkei erhalten gewählte Abgeordnete viel Respekt und große Wertschätzung. Aber man ist auch für nahezu alles zuständig. Wie bist du damit umgegangen?
Wenn dich jemand wählt und dir sein Vertrauen schenkt, dann darfst du es nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Man muss wissen, was man auf sich nimmt. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich alles tun muss, um die Liebe, die mir entgegengebracht wird, nicht zu verlieren. Das ist nicht so einfach. Ich wollte am liebsten immer für alle da sein. Manchmal ist das nicht möglich. Wie bei dem Massenmord oder den Unruhen der letzten Zeiten. Das ist schwer. Aber die Menschen haben gesehen, dass ich immer alles versucht habe und bei ihnen war.
Manchmal musste ich auch radikale Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die mir weh taten. Aber ich habe auch Verantwortung für ganz Cizre. Das wird nicht immer sofort gesehen. In anderen Momenten wurden Entscheidungen getroffen, die ich nicht beeinflussen konnte und die ich falsch fand. Ich stand aber dennoch hinter meinem Volk. Es ist nicht einfach diese Verantwortung zu tragen, aber es ist für mich die schönste Sache, für die Menschen da zu sein.
Du bist mit 20 Projekten zum Aufbau der Stadt angetreten. Ein neuer Markt, eine Kläranlage für sauberes Wasser… und jede Woche kamen Menschen zu dir, um ihre Probleme und Anliegen zu besprechen. Wie bist du damit umgegangen und wie hast du entschieden, was zuerst getan wird?
Wir haben das mit dem Volk abgestimmt. Wir haben sie gefragt, welche Projekte die größte Dringlichkeit haben. Jeder der 30 Stadträte hat in einem Stadtgebiet gefragt. Es gab Volkstreffen und schließlich Online-Befragungen. Einige kamen auch direkt mit ihrer Liste ins Rathaus.
Wir haben unsere Verwaltung so umgebaut, dass sich jeder beteiligen, Projekte und Wünsche einbringen konnte. Die Euphorie war groß, und die Menschen haben die Gestaltung der Stadt wahrgenommen wie die Gestaltung ihres eigenen Hauses und sich überall beteiligt.
Gleichzeitig haben wir geschaut, dass auch überall eine Frauenperspektive hineingetragen wird. Das fängt schon beim Stadtdesign an. Wenn wir einen Park bauen, dann muss er nicht nur hübsch sein, sondern auch praktisch. Er muss Platz für die Frauen bieten zum Sitzen und zum Genießen. Wir wollten Cizre zu einem wohnlichen Zuhause machen.
Angenommen die Menschen in Cizre würden das Interview lesen, was würdest du ihnen sagen?
Ich habe große Sehnsucht nach Cizre und seinen Menschen. Im Herzen fühle ich mich noch immer für sie verantwortlich und bin bei ihnen. Cizre ist mein Zuhause, und ich wollte für immer dort leben. Aber die Regierung hat mich erneut von meinem Boden, meinem Zuhause, meiner Familie und meinem Volk getrennt. Es ist das zweite Mal, und es ist noch schwieriger, weil meine Familie so groß ist wie Cizres Bevölkerung.
Ich würde alles daransetzen, dass sie diese schwere Zeit nicht noch einmal durchleben müssen. Und ich fühle noch immer ihren Schmerz, aber auch ihre Freude. In der Hoffnung und Erwartung, dass sich die Zeiten bald normalisieren, warte ich hier auf eine baldige Umarmung von euch in Cizre.
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