Von unseren ReporterInnen – Berlin. Der Andrang beim Jahresauftakt der Linksfraktion war stark. Die meisten Interessierten dürften nicht nur wegen des Kulturprogramms oder der kämpferischen Rede Jean-Luc Mélenchons ins Berliner Kino Kosmos gekommen sein. Nach den Debatten der Vorwochen harrten auch viele darauf, wie sich Sahra Wagenknecht positioniert. Der Vorwurf, sie wolle die Linke spalten, sei grotesk, erklärte sie.
Sie wolle die Linke stärken – als Bewegung und als Partei, versicherte die Fraktionsvorsitzende. „Es geht darum, dass wir einen starken linken Aufbruch brauchen“, forderte sie unter tosendem Beifall.
Sahra Wagenknecht war die letzte Rednerin des Jahresauftakts am Sonntag, 14. Januar unter dem Motto „Links, wo das Herz schlägt“. Bei der Diskussion über die von ihrem Mann Oskar Lafontaine und auch ihr selbst geforderte Sammlungsbewegung finde sie es „merkwürdig oder teilweise auch abenteuerlich, was da so geschrieben oder debattiert wird“. Bei manchem Journalisten sei wohl der Wunsch der Vater des Gedankens: „Wer den Unterschied zwischen einer Spaltung und einer Sammlung nicht erkennen kann, der hat doch gar nichts verstanden“, erklärte sie.
Die Linke habe große Erfolge erzielt, dürfe sich aber nicht mit ihnen begnügen. Die SPD habe seit 1998 eine Zahl von zehn Millionen Wählerinnen verloren, und man könne davon ausgehen, dass die Verluste weitergehen, wenn sich die Partei erneut auf eine Große Koalition einlässt. Die Linke habe heute 2 Millionen WählerInnen mehr als die PDS 1998.
Sie wolle das nicht klein reden. Dennoch: „Wir müssen trotzdem drüber nachdenken, wie wir mehr bewegen. Wir müssen uns doch wünschen, dass etwas in Bewegung kommt in diesem Land.“ Der „entfesselte Globalkapitalismus“ bringe viele Menschen um ihre sicheren Lebensumstände und versetze sie in Angst. Da dürfe man nicht zuschauen, wie gerade die Betroffenen dieser Entwicklung und Politik rechte Parteien wie die AfD wählten.
Bevor sie ihre eigene Position klarstellte, kritisierte Wagenknecht das zwei Tage zuvor veröffentlichte Sondierungsergebnis. Offenbar solle alles weitergehen wie bisher. Die Linke werde eine starke Opposition sein und der Großen Koalition „ihre Lügen nicht durchgehen lassen“. Neben Niedriglöhnen, Altersarmut oder Privatisierungen geißelte sie die Europa- und Außenpolitik der Koalitionäre – speziell gegenüber Russland: „Willy Brandts Ostpolitik war der Kniefall von Warschau, nicht der Kniefall vor der Rüstungslobby oder einem US-Präsidenten, der sich in pubertärer Manier mit der Größe seines Atomknopfs öffentlich brüstet.
Bartsch: „2018 muss das Jahr der Kooperation werden“
Etwa dreieinhalb Stunden zuvor hatte die frühere Parteivorsitzende Gesine Lötzsch den Nachmittag im Kosmos eröffnet. Sie begrüßte besonders die Antifaschistin und frühere Präsidentschaftskandidatin der Linken Beate Klarsfeld. Auch Egon Krenz war im Publikum. Er war 1989 als Nachfolger Erich Honeckers SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR. Der Sänger Dirk Zöllner begrüßte die Gäste mit Gitarrenbegleitung musikalisch.
„Wir brauche keine neuen Parteien, wir brauchen vor allem die Stärkung der Linken im Jahr 2018“, erklärte Fraktions-Chef Dietmar Bartsch, der zwei Tage zuvor auch am Jahresauftakt des Parteivorstands in der Berliner Kulturbrauerei teilgenommen hatte (siehe Die Linke will Sammlungsbewegung bleiben).
Dort fehlte Sahra Wagenknecht, so wie umgekehrt die Parteivorsitzenden Bernd Riexinger und Katja Kipping nicht zum Jahresauftakt der Bundestagsfraktion kamen. Die gesamte Parteispitze trat nur am Vormittag am Mahnmal der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde beim Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gemeinsam auf (siehe Demonstrative Einheit im Gedenken). Der Mord an den beiden Sozialistenführern jährt sich im nächsten Jahr zum hundertsten Mal.
Zu einer Stärkung der Linken gehöre vor allem Kooperation, sagte Bartsch. Weltweit gebe es einen Kulturkampf von Rechts, in dem selbst bürgerliche Werte angegriffen würden. Die Ursache seien „Jahrzehnte des Neoliberalismus“.
„SPD-Basis sollte Groko-Verhandlungen ablehnen“
„Wir kämpfen gegen die ungerechten Verhältnisse und nicht gegen die Menschen, wir müssen über den nationalen Tellerrand hinausschauen“, forderte er. Seit den achtziger Jahren seien überall die Staatshaushalte geschwächt und immer mehr Reichtum in den Händen immer weniger Menschen angehäuft worden.
Die Linke kämpfe „gegen die obszön ungleiche Verteilung“. Wer gesellschaftlichen Zusammenhalt wolle, müsse „endlich große Vermögen und große Einkommen anders besteuern“. Er könne der SPD-Basis nur raten, am Sonntag Koalitionsverhandlungen abzulehnen: Was bei den Sondierungen ausgehandelt wurde, habe „mit Sozialdemokratie nichts zu tun“. Die Linke werde gegen eine Große Koalition konsequente Politik machen.
Gysi wirbt für sicheres Israel und sicheres Palästina
Wohl um Zusammengehörigkeit zu demonstrieren, gab es einen von Lötzsch moderierten Dialog zwischen Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, der am Dienstag, 16. Januar, den 70. Geburtstag feierte. Für das Land wünsche er sich, dass der Niedriglohnsektor überwunden und prekäre Beschäftigung verboten werde, sagte Gysi – ebenso, dass sich Deutschland an keinem Krieg mehr beteiligt. Und auch dies: „Ich möchte, dass es ein souveränes, sicheres Israel und ebenso ein souveränes, sicheres Palästina gibt.“
Der Rechtsruck sei eine große Herausforderung, sagte Oskar Lafontaine. Erstmals sei nun eine starke rechte Partei, die „zumindest in Teilen rassistisch ist“, im Bundestag. „Alle Linken in Deutschland müssen zusammenfinden, um die Rechte klein zu halten“, forderte er. Er sei stolz auf die Linke als Partei gegen Krieg und für soziale Gerechtigkeit im Bundestag, erklärte er.
Lafontaine: „Die Eigentumsfrage bleibt die Machtfrage“
Seine Worte zielten vor allem auf die SPD: „Ich will nicht zusehen, wie die SPD immer weiter den Bach runtergeht. Wenn sie bei 15 Prozent liegt, reicht das nicht, um die Rechte zu stoppen“, sagte der frühere Vorsitzende der Linken und der SPD. Der Auftrag sei, dass die Linke stärker werde, um die Politik in Deutschland und Europa zu verändern.
Er könne akzeptieren, wenn einige ihren Schwerpunkt in einem urbanen Milieu sehen, sagte Lafontaine. Doch die Linke müsse vor allem für Arbeiter, Arbeitslose und sozial Schwache da sein: „Ein Linker muss immer die Eigentumsfrage stellen, die die Machtfrage ist.“ Wenn die Sozialdemokratie noch nicht einmal in der Lage sei, eine Vermögenssteuer zu fordern, sei das eine Rechtsentwicklung, die ihm Angst macht, sagte er und stellte klar: „Es geht nicht um Umverteilung, es geht um Rückverteilung.“ Immer mehr Gruppen würden jedoch ausgegrenzt und gegeneinander in Stellung gebracht. „Gemeinschaftsleben, Solidarität muss wieder erlernt werden“, forderte er.
Gysi: „Die Linke braucht vieles, aber keine neue Partei“
Dieter Dehm, der das Kulturprogramm des Nachmittags organisiert hatte, kündigte die Sängerin Julia Neigel an, die mit Songs wie „Freiheit, die ich meine“, Begeisterung hervorrief. Die 51-jährige Neigel, die sich früher Jule nannte, engagiert sich seit Beginn ihrer Karriere sozial und karitativ etwa für Toleranz, für Kinder, für Opferschutz, Zivilcourage und gegen Rassismus.
Dann sprach erneut Gregor Gysi. Den weltumspannenden Konzernen stehe heute keine politische Macht mehr gegenüber. Die Nationalstaaten konkurrierten miteinander. „Versuche, sich von internationalen Entwicklungen abzukoppeln, können nicht funktionieren“, warnte der Chef der Europäischen Linken angesichts einer „Art von Gegenreformation“, die gerade in Europa zu beobachten sei.
Linke beteiligt sich nicht an Obergrenzen-Debatte
Angesichts der extremen Umverteilung und wegen der weltweiten Vernetzung könne die soziale Frage nicht mehr national gestellt werden. „Wir sollten uns an der Obergrenzen-Debatte weder direkt noch indirekt beteiligen“, stellte Gysi klar. Sache der Linken sei vielmehr, „den finanzmarktgetriebenen und räuberischen Kapitalismus zu bekämpfen“.
Der einzige Weg, Flucht zu verhindern, sei, Kriege durch Diplomatie zu ersetzen und Fluchtursachen wie Hunger zu bekämpfen. Es sei Aufgabe der Linken, sich der nationalistischen Rechtsentwicklung in Deutschland, den USA und Europa entgegenzustellen. „Die Linke braucht vieles, aber ich finde, keine neue Partei“, erklärte Gysi unter Applaus.
Ali Reza: „Kein Tausch von Gefangenen gegen Waffen“
Es gab noch mehrere Talkrunden im Kosmos: eine von Judith Benda moderierte mit Fabio De Masi, Matthias Höhn und Sabine Zimmermann, dazu eine weitere mit Ali Reza, dem Vater von Mesale Tolu, Sharo Garip von der Organisation Akademiker für den Frieden und der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen, bei der Dieter Dehm die Gesprächsleitung hatte.
Zuvor wurde eine Video-Botschaft der in der Türkei inhaftierten Journalistin Tolu gezeigt, die inzwischen freigelassen wurde, das Land aber nicht verlassen darf. Am Donnerstagmorgen wurde ihr Mann Suat Çorlu erneut verhaftet. Tolus Vater verwahrte sich gegen einen Deal mit Staats-Chef Recep Tayyip Erdogan zugunsten politisch Verfolgter: „Wir wollen keinen Tausch von Gefangenen gegen Waffen und ein Massaker in Kurdistan.“
Türkisches Spitzel- und Geheimdienstnetz
Ebenso eindrucksvoll wie die Botschaften Mesale Tolus und Ali Rezas war, was Sevim Dagdelen über ihre eigene Gefährdung berichtete. Sie steht unter Polizeischutz. Erdogan betrachte „türkischstämmige Abgeordnete“, überhaupt alle, die irgendetwas mit der Türkei zu tun haben, als seine ureigenen Interessenvertreter und reagiere hoch aggressiv, wenn sie kein Wohlverhalten zeigten.
Von der Religionsbehörde Ditib und die Osmanen Germania bis zu den Grauen Wölfen reiche ein „hoch gefährliches Netzwerk“, das zuletzt den deutsch-türkischen Fußballprofi Deniz Naki angriff. Es sei nicht auszuschließen, dass man Todesschwadronen nach Deutschland schickt, um Andersdenkende auszuschalten. Um so skandalöser sei die „Charmeoffensive“ Erdogans und seines Außenministers Mevlüt Cavusoglu, aber auch, dass CDU und SPD „einen Kuschelkurs mit einem so gefährlichen Regime“ einschlügen.
Jean-Luc Mélenchon macht Mut zum Aufbruch
Jubelnd begrüßte das Publikum Jean-Luc Mélenchon, der bei der französischen Präsidentschaftswahl fast 20 Prozent erzielte. Zu den „schönsten Begegnungen seines Lebens“ gehöre die mit Oskar Lafontaine, verriet er. Von dem Saarländer habe er gelernt, den Mut zu fassen, „giftige Kompromisse hinter sich zu lassen und mit den Sozialdemokraten zu brechen, erklärte der Linkspolitiker.
Unter dem Slogan des Arabischen Frühlings „Haut ab!“ berichtete Mélenchon von „neuen Kampfmethoden“ und politischen Aktionsformen. Er rief dazu auf, gegen Krieg, die Nato, die Umweltzerstörung, gegen Armut und die Spaltung in Arm und Reich anzugehen. Stattdessen sollten die Menschen Teilen, was ihr Glück ausmacht: Liebe, Dichtung, Malerei oder Zärtlichkeit.
Auch die Frage nach dem Glück ist politisch
Konkret rief er dazu auf, gegen die Austeritätspolitik der Europäischen Union anzugehen. Die Politik unter Angela Merkel sei eine Politik der Aktionäre und der Dividenden. „Dafür haben die deutschen Wähler nicht abgestimmt“, zeigte sich der Redner überzeugt.
Je größer die soziale Spaltung sei, desto mehr empfänden die Menschen Fremde als Bedrohung. Dabei müssten die Menschen aus purer Not vor Kriegen, Armut oder Klimawandel fliehen. Es sei eine gemeinsame Pflicht, die Umweltkrise, die soziale und die geopolitische Krise nicht noch zu verschärfen.
Auch die Frage nach dem Glück sei eine politische Frage. „Glück ist eine neue Idee in Europa, und es sind immer die Revolutionären, die gute Ideen haben. Worauf warten wir noch, um glücklich zu sein?“, schloss Mélenchon seine für viele ZuhörerInnen eher überraschende Rede.
Ehe Sahra Wagenknecht auftrat, sang und spielte Toni Krahl von „City“ zur Auflockerung etwas beinahe Programmatisches: „Mir geht es wie dem Jesus, mir tut mein Kreuz so weh.“
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