Kommentar von Anne Hilger – Bonn. Die SPD hat sich in die Sackgasse manövriert. Man kann nur den Kopf darüber schütteln, wie tumb sie sich von CDU/CSU und einflussreichen Medien in eine ausweglose Situation dirigieren ließ. Nach der Wahl die großspurige Ankündigung von Martin Schulz, in die Opposition und niemals in ein Kabinett Merkel zu gehen. Jetzt die weinerliche Bitte an die Genossen, ihn als Juniorpartner in Richtung Große Koalition stolpern zu lassen.
„Schulz warnt SPD vor Absturz bei Neuwahlen“, titelten am Samstag, 20. Januar, die Zeitungen. Mit welchem Gewicht will denn jemand so in Koalitionsverhandlungen gehen? Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Vorsitzende einer einst stolzen Arbeiterpartei bettelt aus Angst vor Prozentverlust darum, dass ihm das Wählervotum erspart bleiben möge – statt in Zeiten eines massiven weltweiten Rechtsruck die Chance für einen Neuanfang zu sehen. Statt den Kampf aufzunehmen und seinen Parteifreunden vor dem Parteitag am Sonntag Mut zu einer eigenständigen Entscheidung zu machen. Bei so viel Ängstlichkeit ist es wirklich kein Wunder, dass bei den Sondierungsgesprächen für die SPD so wenig heraussprang.
Nein, Neuwahlen sind für die SPD kein Zuckerschlecken. Sie würden die Partei dazu zwingen, im Zeitraffer ihre Positionen und ihren Kurs zu klären. Doch man konnte sich schon lange nur wundern über die Weigerung der alten Männer der SPD, aus dem stetigen Verlust von WählerInnen, Mitgliedern, Stimmen und Einfluss nach der neoliberalen Wende der Partei ernsthaft Konsequenzen zu ziehen oder wenigstens über sie nachzudenken. Jetzt, da alle Welt die SPD drängt, aus Angst vor dem Tod gleich Selbstmord zu begehen, wird der Partei gar nichts anderes übrig bleiben.
Was versteht die SPD unter Gerechtigkeit? Reichen „gleiche Chancen“, um der Ungleichheit einen fairen Anstrich zu geben? Oder fordert die Partei wieder Verteilungsgerechtigkeit, Rückverteilung von oben nach unten? Stellt sie angesichts der Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt auch die Eigentumsfrage? Wie hält sie es mit der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen? Entspricht der Moloch Hartz IV mit seinem entwürdigenden Sanktionssystem tatsächlich dem Menschenbild der Partei? Oder findet sie den Mut zu bekennen, mit ihren „Arbeitsmarktreformen“ den falschen Weg eingeschlagen zu haben? Wie hält sie es mit den toten Flüchtlingen an den Grenzen Europas? Wie mit dem 2-Prozent-Ziel der Nato und der Militarisierung? Will sie wirklich einer Regierung angehören, die Waffenlieferungen in alle Welt genehmigt, die mit Despoten wie Erdogan paktiert? Mit wem überhaupt will sie eine politische Machtperspektive suchen?
Was also bedeutet heute Sozialdemokratie? Die SPD hat einen langen Katalog von Fragen zu klären. Und es wird ihr nicht viel Zeit dafür bleiben.
Doch wer gejagt wird, wer kein Schlupfloch und keinen Spalt im Zaun findet, hat nur zwei Möglichkeiten: Er kann sich vollends in die Enge treiben lassen oder sich umdrehen und dem Gegner die Stirn bieten, um seine letzte Chance zu nutzen. Man kann der SPD nur wünschen, dass sie am Sonntag den Mut zu einem Nein und damit zu einem Neuanfang findet. Die Jusos, selbstbewusst wie in besten Tagen, machen immerhin Hoffnung.
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