Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. Nach einer Kundgebung gegen Wohnungsnot im Stadtteil Heslach wurden am Samstag, 27. April, zwei leerstehende Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 besetzt. Nachbarn solidarisierten sich mit dem AktivistInnen, viele kamen am Wochenende und am 1. Mai zu Besuch. Die „Stuttgarter Zeitung“ berichtet von einer Strafanzeige, die inzwischen gegen die Besetzer vorliege.
Unter den Gästen beim Hoffest am Sonntag war auch der Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende der Linken Bernd Riexinger. Er sprach von einem „Akt der Notwehr gegen eine Politik, die Menschen bei der Suche nach bezahlbaren Wohnungen im Stich lässt“. Es sei gut, dass viele BürgerInnen zusammen mit dem lokalen Aktionsbündnis Recht auf Wohnen, an dem auch die Stadtratsfraktion SÖS LINKE PluS beteiligt sei, selbst aktiv werden.
„Wohnen ist Menschenrecht! Leerstand, Mietenwahnsinn und Verdrängung stoppen!“ war das Motto der Kundgebung am Samstagnachmittag auf dem Erwin-Schöttle-Platz in Heslach, an die sich eine Spontandemonstration in Form eines entspannten Spaziergangs in die Wilhelm-Raabe-Straße anschloss.
Die BesetzerInnen brachten Tische, Stühle, Lampen, Regale und Topfpflanzen mit. Die AktivistInnen intonierten Sprechchöre wie „Wohnungsnot im ganzen Land. Unsere Antwort: Widerstand“, und es wurden Transparente aufgehängt, von denen sich inzwischen viele auch an den Fassaden der Nachbarhäuser finden.
Hauseigentümer hat Gespräch angesetzt
Im Haus Nummer 4 sind drei Wohnungen bewohnt. Die Wohnungen im Erdgeschoss und im obersten Stockwerk stehen jedoch seit bis zu zehn Jahren leer. Das Haus soll im letzten dreiviertel Jahr mehrfach verkauft worden sein und inzwischen einem Investor aus England gehören. Die „Stuttgarter Zeitung“ berichtet, der Hauseigentümer wolle die Sache einvernehmlich lösen. Er habe am Montagnachmittag im Beisein von Polizisten mit den Besetzern gesprochen, ging nach ihren Angaben aber nicht auf ihre Forderungen ein. Für Mittwoch, 2. Mai, ist ein weiterer Termin mit dem Hauseigentümer und dem Verwalter anberaumt, berichten die neuen Bewohner.
In eine der beiden Wohnungen zog am Samstag eine alleinerziehende Mutter ein, die mit ihrem neunjährigen Sohn zuletzt bei ihrer Schwester in einem 16-Quadratmeter-Zimmer gelebt hatte. In der anderen Wohnung wohnt jetzt ein Paar mit seinem einjährigen Kleinkind. Die Familie sucht seit fast zwei Jahren nach einer bezahlbaren Wohnung. Ihr bisheriges Anderthalb-Zimmer-Appartement war zu eng.
Weil der schmale, lauschige Innenhof des Hauses zu klein war, um am Samstag alle DemoteilnehmerInnen aufzunehmen, wurden in einer Parkbucht vor dem Haus in der ruhigen Seitenstraße Biertische und -bänke aufgestellt. Auch die Polizei war mit einigen Beamten vor Ort, beobachtete die Szenerie und sprach die AktivistInnen und die anwesenden Stadträte der SÖS-Linke-Plus an. Die PolizistInnen wirkten jedoch unsicher. Offenbar waren sie unschlüssig, was zu tun wäre. Schließlich zogen sie ab.
„Die Stadt verliert durch Konfektionskästen ihr Gesicht“
Bei der Kundgebung auf dem Erwin-Schöttle-Platz wurde auf seit Jahren leerstehende Wohnhäuser in Heslach aufmerksam gemacht. Weitere Themen waren das Zweckentfremdungsverbot, das die Stadt Stuttgart nicht konsequent umsetze, und die Verdrängung alteingesessener Bewohnerinnen und Bewohner.
Joe Bauer, Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“ und bekannt für seinen „Flaneursalon“, ging in seiner Rede auch auf den aktuellen Arbeitskampf der Tageszeitungsjournalisten ein. Sie befanden sich übers Wochenende im Streik, weil ihnen die Zeitungsverleger selbst in der 5. Verhandlungsrunde kein Angebot für eine Gehalts- und Honorarerhöhung gemacht hatten, die auch nur annähernd den Kaufkraftverlust durch Inflation ausgleichen könnte.
„Wir kämpfen gegen respektlose, arrogante Verlagsmanager, die auch noch die letzten Voraussetzungen für einen soliden Journalismus im Sinne einer Demokratie kaputtsparen und abschaffen wollen“, stellte Bauer klar.
„Auch bei uns in Stuttgart wächst der Widerstand gegen den teils kriminellen Leerstand, gegen die brachiale Mietexplosion und die eklatante Wohnungsnot“, ging er auf die Wohnungssituation in Stuttgart ein und warnte: „Diese Stadt verliert durch den Bau von immer mehr Konfektionskästen und Einkaufszentren ihr Gesicht, ihren Charakter. Was zählt, ist nur noch die leblose Architektur des Konsums und des Profits“ (siehe Joe Bauers Rede unten im Wortlaut).
Tausende Wohnungssuchender trotz Leerstands
Ursel Beck sprach für die Initiative Leerstandsmelder Stuttgart. Sie berichtete von explodierenden Mieten und Mietwucher – so etwa von einer 55-Quadratmeter-Wohnung Baujahr 1956 und angeblich möbliert in der Friedhofstraße, für die die „Vonovia“ eine Kaltmiete von 1100 Euro verlange. Viele Häuser seien Spekulationsobjekte für Investoren, die Geld parken und auf weiter steigende Preise warten. In Stuttgart stünden 11 400 Wohnungen leer – eine Zahl, die von der Stadtverwaltung als veraltet bestritten wird.
Auch 200 000 Quadratmeter Bürofläche seien ungenutzt, sagte Beck. Man könne in Stuttgart 30 000 Menschen unterbringen, ohne neu bauen zu müssen. Doch während Grundstückseigentümer für das Tiefbahnhof- und Immobilienprojekt Stuttgart 21 enteignet würden, könnten Spekulanten machen, was sie wollen. Weitere Informationen befinden sich auf der Homepage des Aktionsbündnisses Recht auf Wohnen.
In der städtischen Vormerkkartei sind über 4000 Wohnungssuchende registriert. Diese Zahl steigt von Jahr zu Jahr. „Was ist die Gründung eines Immobilienunternehmens gegen eine Hausbesetzung“ – mit diesem Worten beendete Tom Adler, Stadtrat von SÖS-Linke-Plus, die Kundgebung. Die Spontandemonstration, die in der Wilhelm-Raabe-Straße endete, schloss sich an. Unterwegs gab es Sprechchöre wie „Wohnungsnot im ganzen Land. Unsere Antwort: Widerstand“.
Die Rede von Joe Bauer im Wortlaut:
„Liebe Freundinnen und Freunde,
es ist ein guter Tag heute in Heslach, bei dieser so wichtige Aktion gegen das unsägliche Spekulantentum – und für ein menschengerechtes Wohnen in dieser Stadt – und nicht nur da. Vielen Dank an euch für euren Einsatz und die Möglichkeit für mich, hier ein Grußwort loszuwerden.
Dieser Erwin-Schoettle-Platz hier wurde nach einem ziemlich wirtschaftsorientierten Sozialdemokraten benannt, nach dem Zweiten Weltkrieg Krieg war er Mitherausgeber der Stuttgarter Nachrichten. Und damit zur Aktualität: Wenn ihr nichts über diese heutige Kundgebung in den Zeitungen lesen werdet, dann hat das einen guten Grund: Wir Journalistinnen und Journalisten sind seit vergangenen Montag im Streik – wir kämpfen gegen respektlose, arrogante Verlagsmanager, die auch noch die letzten Voraussetzungen für einen soliden Journalismus im Sinne einer Demokratie kaputtsparen und abschaffen wollen. Wir streiken für gerechte Löhne und für vernünftige Arbeitsbedingungen vor allem für Berufsneulinge. Dies nur am Rande.
Es ist für mich heute wirklich ein besonderer Tag hier im Stuttgarter Süden, an dessen Peripherie ich neuerdings selber wohne.
Gelungene Demos des Aktionsbündnisses Recht auf Wohnen habe ich bereits in Stadtteilen wie Zuffenhausen und Hallschlag miterlebt: Auch dort, fern des Zentrums, werden gut erhaltene Wohnungen rücksichtslos platt gemacht und Menschen aus Profitgründen aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und vertrieben.
Deshalb ist dieser Schoettleplatz nun ein guter Anblick: Normalerweise wird hier mit Boccia-Kugeln gespielt, und heute bringen wieder viele Menschen an diesem Ort etwas ins Rollen – sie protestieren im wahren Herzen der Stadt gegen die miserable Wohnungspolitik. Dieses Heslach war ja schon immer ein Biotop der Aufrechten und Aufmüpfigen. Und heute sehen wir im Süden der Stadt wieder die Zeichen der Hoffnung: Auch bei uns in Stuttgart wächst der Widerstand gegen den teils kriminellen Leerstand, gegen die brachiale Mietexplosion und die eklatante Wohnungsnot. Diese Stadt verliert durch den Bau von immer mehr Konfektionskästen und Einkaufszentren ihr Gesicht, ihren Charakter. Was zählt, ist nur noch die leblose Architektur des Konsums und des Profits.
Oft reden die Leute, die kein Geld für einen Urlaub haben, von den Ferien auf Balkonien. Die traurige Wahrheit aber ist: Immer weniger können sich eine anständige Bleibe leisten – geschweige denn einen Balkon.
Liebe Freundinnen und Freunde, es gibt bei uns ein Menschenrecht auf Wohnen. Dieses Recht kann man leider nicht vor Gericht einklagen. Wir als Bürgerinnen und Bürger aber haben das Recht und die verdammte Pflicht, um vernünftige Wohnungen auf die Straße zu gehen.
Die Wohnungsnot spiegelt die sozialen Zustände in unserer Republik: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Unsere Gesellschaft droht sich immer schärfer zu spalten.
Das Stuttgarter Rathaus überlässt seine sogenannte Stadtplanung seit Jahrzehnten den Investoren und damit den neoliberalen Machenschaften der Spekulanten. Diese brandgefährliche Profit-Politik schürt die sozialen Konflikte, sie ist der Nährboden für Rassismus und das Sündenbock-Prinzip. Die Schwächsten in dieser Gesellschaft sind die Opfer. Viele schieben das Übel den Geflüchtete in die Schuhe. Angesichts des bedrohlichen Rechtsrucks bei uns – wo heute mehr Rechtsnationale und Nazis als Sozen im Stuttgarter Landtag sitzen – erleben wir eine fatale demokratiefeindliche Entwicklung.
Es ist deshalb enorm wichtig, Bündnisse zu schließen, es ist höchste Zeit für Solidarität – das gilt für mich im Übrigen auch für den derzeitigen Zeitungsstreik, ganz egal, welchen Ruf die Medien haben. Auch in diesem Beruf gibt es Menschen mit Sinn für Fairness und Gerechtigkeit, Menschen die etwas leisten – und deshalb grüße ich alle hier auf diesem Platz auch im Namen meiner streikenden Kolleginnen und Kollegen.
Bleibt aufrecht und mutig im Kampf um euer Recht auf Wohnen.“
Die Erklärung der BesetzerInnen im Wortlaut:
„Wir haben ein ziemlich großes Problem, das tausende Stuttgarterinnen und Stuttgarter auch kennen: Wir finden keine bezahlbare Wohnung. Weil es uns seltsam vorkam, dass mehr als 11 000 Wohnungen in der Kesselstadt leerstehen, sind wir heute einfach in zwei davon eingezogen. Wir finden es absurd, dass Wohnungen leer stehen, während andere wohnungslos sind.
Nach einer Stadtralley anlässlich des ersten Mai und einer Kundgebung des Aktionsbündnisses „Recht auf Wohnen“ zu Verdrängung und Leerstand auf dem Erwin-Schoettle-Platz sind wir mit einer kleinen Demo in die Wilhelm-Raabe-Straße gezogen. Mit Möbeln, Geschirr, Pflanzen und allem was man so braucht, sind wir nun eingezogen
Der ganz normale Wahnsinn
Wir, das sind zum einen Rosevita mit ihrem 9 Jahre alten Sohn, die bisher in einer geräumigeren Abstellkammer (16 m²) bei ihrer Schwester gelebt haben, und eine junge dreiköpfige Familie, die nun mit einer einjährigen Tochter aus einer viel zu kleinen Wohnung ausgezogen ist. Dazu gehören auch einige solidarische und befreundete Menschen.
Wir haben es ja versucht. Wir sind seit Monaten auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum, der so gelegen ist, dass wir im Stuttgarter Verkehrschaos nicht jeden Tag Stunden für Wege von und zu Arbeit, Kita oder Schule brauchen. Das betrachten wir als Grundbedürfnis, wie aber alle wissen, ist das in Stuttgart eine absolute Glückssache, außer der Geldbeutel ist dick genug. Die meisten Wohnungen die angeboten werden, sanierte Altbauten, neugebaute Edelappartements oder völlig überteuerte „normale“ Wohnungen, können wir uns nicht leisten. Bei allem was übrig bleibt, haben wir das übliche erlebt: Wir waren unter dutzenden oder sogar hunderten „BewerberInnen“ und haben über etliche Mängel der Wohnungen hinweg gesehen, damit wir überhaupt einen Wohnraum erhalten. Oft haben wir gar keine Rückmeldung bekommen, manchmal reichte bei der Besichtigung die Auskunft über unser Einkommen, dann wieder die Info, dass ein Kind mit einziehen soll.
Bis wir eben heute zwei der zahlreichen leerstehenden Wohnungen in Stuttgart besetzt haben. Beide befinden sich in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 in Heslach, hier wollen wir wohnen bleiben.
Das Problem ist das System
Die beiden Wohnungen liegen in einem Altbauhaus mit insgesamt fünf Parteien, von denen aktuell nur drei bewohnt sind. Das Haus wurde im Sommer letzten Jahres an eine Immobilienfirma verkauft, die es dann an eine weitere zur Vermittlung gab. Diese verwaltet es aktuell für einen neuen Käufer. Regelmäßig kommen Handwerker, die die Wohnungen renovieren sollen, damit sie anschließend teuer vermietet werden – eine Geschichte wie man sie aus Stuttgart genauso zu Hauf kennt, wie aus anderen Großstädten. Steigende Mieten, Leerstand, Verdrängung von Menschen aus den Innenstadtvierteln – davon profitieren Immobilienfirmen, Banken und Spekulanten.
Grund für all das ist ein Wohnungsmarkt, der wie alles im Kapitalismus nicht den Bedürfnissen der Menschen dienen soll, sondern der immer nur auf den größtmöglichen Profit hin ausgerichtet ist. Und den macht man nun mal nicht mit bezahlbarem Wohnraum für die Massen, sondern mit Immobilien im „höherpreisigen Segment“.
Von Stadt und Staat kommen dabei seit Jahren nichts als Lippenbekenntnisse, leere Versprechungen und Reformen die praktisch nichts wert sind, etwa die „Mietpreisbremse“. Im Gegenteil: Mit dem Ausverkauf von ehemals städtischen Wohnungsbaugesellschaften und der gezielten, stadtplanerischen Aufwertung von ganzen Vierteln, wurde und wird den Investoren noch Vorschub geleistet. Kein Wunder, stehen auf der neoliberalen Agenda der letzten Jahrzehnte doch auch die „marktkonforme Demokratie“ und der „schlanke Staat“.
Das wollen wir nicht einfach so hinnehmen. Wir stehen gegen diese Ungerechtigkeit auf. Uns ist klar, dass wir mit der Besetzung die grundlegende Ursache, den Kapitalismus, nicht beseitigen können. Wir können auf ein Problem aufmerksam machen, dass viele Menschen betrifft. Und schließlich brauchen wir einfach Wohnraum.
Mischt euch ein!“
Musikalischer Gruß von der Ton Steine Scherben-Coverband Einheizfront
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