Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. Die Polizei kam mit großem Aufgebot und machte Vorkontrollen, hielt sich aber zurück – selbst als roter und blauer Rauch aus der Mitte des Demozugs quoll oder als Farbbeutel geworfen wurden: Mit 4500 Menschen bei der Demonstration und Kundgebung des DGB auf dem Marktplatz und an die 800 bei der Revolutionären Demo im Anschluss verlief der 1. Mai in Stuttgart kämpferisch, aber entspannt.
Viele Organisationen von MigrantInnen beteiligten sich mit starken Abordnungen an den politischen Aktionen. Neben der Spaltung des Arbeitsmarkts dominierten Themen wie Rassismus und Nationalismus, der Aufstieg der AfD, aber auch die Wohnungspolitik und der Krieg in Afrin. Bei der Kundgebung auf dem Marktplatz wurde auch über den Arbeitskampf der TageszeitungsjournalistInnen für höhere Honorare und Gehälter berichtet.
Am Nachmittag schlossen sich bei kühlem, aber trockenen Wetter Feste mit hunderten von Gästen im selbstverwalteten Stadtteilzentrum Gasparitsch im Stuttgarter Osten und im Linken Zentrum Lilo Herrmann in Heslach an. Dort nutzten viele Besucher die Gelegenheit, einen Abstecher in die Wilhelm-Raabe-Straße 4 zu machen, wo am Samstag, 28. April, mehrere leerstehende Wohnungen besetzt worden waren (siehe auch „Sie kamen, um zu bleiben„).
Im Vorjahr hatte die Polizei die Revolutionäre 1. Mai-Demonstration in Stuttgart aus unerfindlichen Gründen immer wieder gestoppt (siehe „Polizeitaktik bleibt rätselhaft„) und zuletzt sogar versucht, den Zugang zum Zentrum Lilo Herrmann zu blockieren. Dieses Mal setzte die Einsatzleitung offenbar auf Deeskalation und hatte wohl auch das Anti-Konflikt-Team beauftragt, bei Meinungsverschiedenheiten zu schlichten. Die Rechnung ging auf. Es gab nur einzelne kleine Geplänkel – so etwa, das die Polizei ohne jeden Anlass DemonstrantInnen filmte, wofür es keine Rechtsgrundlage gibt.
„Das ist unser Viertel“
Dem Demozug gelang es ganz zum Schluss, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Die BeamtInnen hatten offenbar damit gerechnet, dass er von der Böheimstraße aufwärts zum besetzten Haus abbiegen würde, und an der Kreuzung Einheiten in Kampfmontur postiert. Stattdessen bog die Spontandemonstration unangemeldet nach rechts in die Frauenstraße ab. Die wenigen Polizisten, die dort standen, konnten dagegen nichts ausrichten. Die DemonstrantInnen zogen direkt zum Linken Zentrum Lilo Herrmann in der Böblinger Straße.
Machtdemonstrationen der Polizei wie in den Vorjahren etwa nach Auflösung der Demonstration auf dem Erwin-Schöttle-Platz blieben aus. „Die Polizei hat’s auch verstanden. Das ist nicht euer Viertel, das ist unser Viertel“, jubelte ein Sprecher ins Megafon.
Kontrollen vor der DGB-Demonstration
Die DGB-Demonstration begann am Vormittag auf dem Marienplatz. Schon auf den Zugangswegen kontrollierte die Polizei Teilnehmer und ihre Taschen oder Rucksäcke. Polizeireiter an der Spitze und ein Konvoi von Polizeifahrzeugen führte die Demonstration an. Hinter ihnen gab die Trommelgruppe Banda Maracatú noch vor dem Fronttransparent den Takt vor.
„Zehn Polizeifahrzeuge für eine Gewerkschaftsdemo zum 1. Mai“, wunderte sich ein Passant. Speziell behielt die Polizei den Antikapitalistischen Block im Auge, in dem nach eigenen Angaben etwa 300 TeilnehmerInnen mit dem Ziel marschierten, klassenkämpferische Akzente gegen die sozialpartnerschaftliche Linie der Gewerkschaften zu setzen. „Aufruhr, Widerstand, Klassenkampf statt Vaterland“ war eine der von ihm skandierten Parolen.
- Trommelgruppe Banda Maracatú
- Demonstrationsspitze
- Antikapitalistischer Block
Wohnungsnot beseitigen
Durch die Tübinger Straße zog die Demonstration in Richtung Innenstadt. Die Polizei störte sich an Aufschriften mit Sprühkreide auf dem Asphalt. Da sie sich nicht im Klaren darüber war, ob eine strafverfolgungswürdige Sachbeschädigung vorliegt oder die Kreide vom Regen wieder abgewaschen wird, begann sie unmittelbar vor Ort mit Tests mit Wasser aus einer Flasche.
Bei der Kundgebung des DGB vor dem Stuttgarter Rathaus sprach der stellvertretende Bundesvorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), Harald Schaum. Er vertrat den erkrankten Bundesvorsitzenden Robert Feiger. Schaum forderte ein starkes Zeichen gegen Rechts. Die Gewerkschaften wendeten sich seit jeher gegen Diskriminierung und Spaltung. Um Parteien wie die AfD zurückzudrängen, müsse man aber auch sozialpolitische Probleme wie die Wohnungsnot bekämpfen.
Journalisten im Streik
Joe Bauer, Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“, informierte über den Arbeitskampf der Tageszeitungsjournalisten, über den sonst wenig an die Öffentlichkeit dringt. Der Platz vor dem Rathaus sollte öfter Umschlagplatz auch für Informationen und Meinungen sein, forderte er. Die JournalistInnen gingen bereits seit März immer wieder aus ihren Betrieben heraus. Obwohl die Verlage nach wie vor gut verdienen, würden die Journalisten seit 15 Jahren mit Honoraren und Gehältern deutlich schlechter abgefunden als andere Berufe, nämlich unterhalb der Inflationsrate.
Gut ausgestattete Medien mit fair bezahlten Journalisten seien jedoch wichtig für die Demokratie, besonders jetzt. Doch „ausgerechnet mit diesem hohen Gut“ sprängen die Zeitungsmanager im Stil eiskalter Kontroller so verantwortungslos um, als sei „die Pressefreiheit ein altmodisches Abfallprodukt der Digitalindustrie“. Diese Haltung sei brandgefährlich. „Fake News, Hasspropaganda und die inzwischen salonfähige Unmenschensprache der Rechtsnationalen und Völkischen“ verdrängten immer brutaler die seriösen Nachrichten.
Überhebliche Verlagsmanager
Die Verlagsmanager hätten auch keine Ahnung davon, dass tarifliche Leistungen für Journalisten wie der inzwischen gekürzte Urlaubsanspruch einst als Ausgleich für Überstunden oder Nachtschichten eingeführt wurden. Entsprechend arrogant träten sie heute auf. Ihr Angebot beschränkte sich zuletzt „auf sage und schreibe 0,9 Prozent“, sagte Bauer unter Pfiffen und Buhrufen.
„Unsere Gewerkschaftsleute sprechen von einer bisher unbekannten Dimension der Überheblichkeit im Arbeitgeberlager“, erklärte Bauer weiter. Nachwuchsredakteure würden heute nach Studium und Ausbildung im Journalismus so schlecht bezahlt, dass sie lieber in andere Branchen wechselten. Die Freiheit der Presse sei jedoch abhängig von guten Arbeitsbedingungen, qualifizierter Journalismus zu fairen Bedingungen in seiner Wächterfunktion bitter nötig. Die Streikbereitschaft der Journalisten sei gerade in Stuttgart enorm hoch. „Heraus auch nach dem 1. Mai“, schloss Joe Bauer seine Ansprache.
Geld für Soziales statt für Rüstung
Der Vorsitzende des DGB-Stadtverbands Stuttgart, Philipp Vollrath, eröffnete und moderierte die Kundgebung. Er sprach auch kommunalpolitische Themen wie den Mangel an Fachkräften in den Kindertagesstätten an, aber auch die Friedenspolitik. Auch wandte er sich dagegen, dass der Rüstungsetat verdoppelt werden soll. Stattdessen brauche man Geld für Bildung, für Wohnungen und für den Sozialstaat. Frieden sei ohne Gerechtigkeit nicht zu haben. Doch Deutschland führe wieder Kriege, sei etwa über die Luftaufklärung am Konflikt in Syrien beteiligt, und überdies der weltweit viertgrößte Rüstungsexporteur.
Beim anschließenden Fest unterhielt die Sängerin Thabilé, die aus Südafrika kommt, mit ihrer Band die Gäste auf dem Marktplatz mit Afro-Soul, Funk, Reggae und Jazz.
Revolutionäre 1. Mai-Demo
Noch während der Kundgebung stellten sich auf dem Schlossplatz die TeilnehmerInnen der Revolutionären 1. Mai-Demonstration auf. Sie wurde zum 15. Mal in Stuttgart ausgerichtet. Ein Redner erinnerte auf dem Bühnenwagen an die Geschichte des 1. Mai, die mit dem Kampf um den Acht-Stunden-Tag in Chicago ihren Anfang nahm. Heute sei der 1. Mai nicht nur ein Kampftag für bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch um Gerechtigkeit, Frauenrechte, für Antifaschismus, Frieden und internationale Solidarität.
Er sei ein symbolischer Tag, sagte ein Sprecher der anarcho-syndikalistischen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter Union (FAU). Der Tag stehe „für alle Kämpfe, die gewonnen und verloren wurden“. Die Rote Hilfe griff das Thema Repression besonders nach dem G20-Gipfel in Hamburg auf. Die Kriminalisierung des Protests habe eine neue Qualität erreicht.
Die Demoauflagen wurden nicht verlesen. Doch es gab den Hinweis, dass Alkohol und Drogen auf der Demonstration nichts verloren hätten. Eine Polizeikette stoppte den Demozug gleich auf Höhe des Landesmuseums. Moniert wurden zusammengeknotete Transparente und zu dicke Fahnenstangen. „Obwohl die Demo super aufgestellt ist, findet die Polizei immer wieder einen Grund für Spielchen und um uns zu schikanieren“, klang es leicht entnervt vom Bühnenwagen.
Um ihre Mahnung zu unterstreichen, ließ die Polizei weitere Einsatzkräfte aufmarschieren. Als die Demonstration dann weiterziehen konnte, bat ein Sprecher der Polizei am Megafon höflich, nicht auf die Beamten aufzulaufen, sondern ihnen ermöglichen, wieder abzuziehen, statt zwischen Fronttransparenten und Polizeifahrzeugen eingekeilt zu werden. Eine seltsame Forderung, denn der Weg war nach vorne links und rechts völlig offen.
Bei einer Zwischenkundgebung sprach eine Rednerin von „Zusammen kämpfen“. Ein anderer Redner forderte den Vier-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich und Personalaufstockung. Er machte sich für „viele kleine reformerische Projekte“ stark, um Menschen für ein Leben in Selbstverwaltung zu begeistern. Das Ziel bleibe die Verwirklichung einer anarchistischen Welt.
„Kampf auf der Straße, Kampf in der Fabrik. Das ist unsere Antwort auf eure Politik“, war eine der Parolen, die gerufen wurden. Beim Einbiegen des Zugs in die Augustenstraße stieg blauer Rauch auf, und es flogen Farbbeutel gegen das Gebäude des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands DEHOGA, der für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse stehe.
Parolen gegen Rechts
In Sprechchören wurden auch Nationalismus, Rassismus und rechte Gewalt thematisiert – etwa „AfD, Partei des Kapitals. Rassistisch, sexistisch, neoliberal“ oder „Nazis morgen, der Staat macht mit, der NSU war nicht zu dritt“.
An der Ecke Silberburgstraße und Tübinger Straße knallte ein einzelner Böller. Dort wohne ein Akteur der homophoben und rückwärtsgewandten „Demo für alle“, die in Baden-Württemberg vor der Landtagswahl half, die AfD stark zu machen. „Ob Demo für alle oder AfD, stoppt den Rechtsruck in der BRD“, wurde skandiert.
Am Marienplatz dominierten als Zeichen der Solidarität mit Kurdinnen und Kurden an der Spitze des Demozugs die Farben Grün, Rot und Gelb. „Solidarität mit Rojava, weg mit dem Verbot der PKK“ wurde gefordert, und es stieg rosa Rauch auf. „Unterlassen sie sofort das Zünden von Pyrotechnik“, folgte prompt die Durchsage der Polizei: „Sie gefährden sich und andere.“ Überdies würden Videoaufnahmen gemacht.
Kapitalismus in tiefer Krise
In der Böheimstraße waren starke Einheiten vor dem Polizeirevier postiert. Nach dem offiziellen Ende der Demonstration folgte eine Rede der Revolutionären Aktion Stuttgart. Die RednerIn war wie in jedem Jahr vermummt. Der Kapitalismus stecke aktuell in einer tiefgreifenden Krise, hieß es. Den Herrschenden falle es immer schweren, deren Folgen zu exportieren. Altersarmut, Wohnungsnot und prekäre Beschäftigung nähmen ebenso zu wie die Repression als Vorbereitung auf die nächste Krise.
Als der Zug nach der Beendigung der Kundgebung und dem kleinen Täuschungsmanöver in die Böblinger Straße einbog, wurde noch einmal ein Böller gezündet. Die Demonstration löste sich auf in einem Fest beim Lilo-Herrmann-Haus. Dort wurde bis in den Abend gefeiert, unter anderem spielte die „Einheizfront“, die ein Jahr pausiert hatte und ohne Sänger mit nur noch drei Musikern Songs von „Ton, Steine, Scherben“ intonierte. Gefeiert mit Kinderschminken, einem politischen Programm und einem Stadtteilrundgang wurde auch im Zentrum Gasparitsch.
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