
Auf dem Podium: Gewerkschaftssekretär André Kaufmann, Stadtrat Tom Adler, Moderatorin Ariane Raad und die Besetzerinnen Adriana & Rosevita (v.l.n.r.)
Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Seit dem 27. April sind zwei Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 in Stuttgart-Heslach besetzt, um Leerstand mit Leben zu füllen (wir berichteten). Rosevita Thomas mit neunjährigem Sohn, die vorher wohnungslos waren, und die junge Adriana mit Familie, die in einer viel zu kleinen Wohnung lebten, sind in die Räume eingezogen und haben sich dort ein neues Zuhause errichtet. Am Freitag, 18. Mai, konnte man mit den BesetzerInnen ins Gespräch kommen. Im Alten Feuerwehrhaus in Heslach gab es einen regen Gedankenaustausch mit dem Fazit: „Wir bleiben – Was wir tun ist nicht legal, aber legitim!“
Es herrschte eine auffallend positive Stimmung im gut gefüllten Alten Feuerwehrhaus. Jung und Alt verfolgten die Podiumsdiskussion unter dem Motto „Wohnungsnot und Besetzung – wie geht es weiter?“. Über 100 Menschen hörten zunächst interessiert zu, was die beiden jungen Familien dazu brachte, die Wohnungen zu besetzen. Anschließend beteiligten sich viele BesucherInnen – unter ihnen auch Nachbarn aus der Wilhelm-Raabe-Straße – am regen Gedankenaustausch und bekundeten vielfach ihre Solidarität mit den BesetzerInnen.
- Die jungen Kolleginnen und Kollegen der Verdi-Jugend Baden-Württemberg haben sich solidarisch gezeigt und den BesetzerInnen ein Foto zugesendet.
- IG Metall Vertrauensleute von Daimler AG Untertürkheim aus Mettingen haben solidarische Grüße an die Besetzerinnen und Besetzer in Heslach geschickt.
Grenzen überschreiten
Die Besetzerin Adriana erklärte, sie habe mit ihrem Partner und ihrer eineinhalbjährigen Tochter zuvor in einer Eineinhalbzimmer-Wohnung gelebt. Die beengten Wohnverhältnisse hätten sie dazu gebracht, nach langer erfolgloser Suche nach einer größeren Wohnung die Wohnung zu besetzen. Der Mangel an bezahlbaren Wohnungen sei nicht nur ihr Problem, sondern betreffe einen Großteil der Gesellschaft.
Die Besetzung sei zwar eine „illegale Aktion“, aber eine, die notwendig sei. Man müsse Grenzen überschreiten, „um aufzuzeigen, dass sich was ändern muss“. Deshalb müsse man sich organisieren. „Wenn wir Leerstand mit Leben füllen, dann können wir auch etwas bewirken“, so ihre Schlussfolgerung. Sie forderte die Eigentümer in London dazu auf, mit den neuen Bewohnern Mietverträge zu sozialverträglichen Preisen zu vereinbaren. Man habe durch die Besetzung ein großes Problem thematisiert. Egal wie die Sache ausgehe: Das allein sei schon „ein Sechser im Lotto – der Hauptgewinn“. Das wichtigste sei, dass „die Aktion legitim ist“.
Spontan eingezogen
Der frühere Vermieter der Besetzerin Rosevita Thomas hatte ihre Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt. Vorübergehend kam sie mit ihrem neunjährigen Sohn bei ihrer Schwester in einem Zimmer unter. Nach der Kundgebung am 29. April in Stuttgart habe sie sich spontan entschlossen, in die Wohnung in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 einzuziehen. Es sei wichtig, aktiv zu werden, denn jeder könne von heute auf morgen – wenn er nicht gerade Millionär sei – auf der Straße landen.
Auf die Frage der Moderatorin Ariane Raad, wie es jetzt weitergehe, antwortete Rosevita Thomas: „Ich kann nur sagen, dass ich bleiben werde.“ Es sei an der Zeit aufzustehen. Sie bedankte sich „bei den vielen Menschen“, die die BesetzerInnen unterstützten. Sie sei über den breiten Zuspruch sehr überrascht und dankbar für ihn.
Notlage mit einem Paukenschlag verdeutlicht
Stadtrat Tom Adler (SÖS-Linke-PluS) betonte, dass durch die Wohnungsbesetzungen mit „einem Paukenschlag“ etwas geschafft wurde, was jahrelang nicht gelungen sei: die Notlage auf dem Wohnungsmarkt zu verdeutlichen. Der notwendige Funke sei gezündet.
Die Wohnungsnot sei durch die Stadtverwaltung hausgemacht. Im Jahr 1992 habe es in Stuttgart noch 22 000 Sozialwohnungen gegeben. Heute seien es nur noch etwa 14 500 Wohnungen, und die Zahl werde weiter vermindert.
„Wir sanieren die Altbestände vom Markt“
Was mit Altbauten in Stuttgart geschieht, habe ein „Immobilien-Mogul“ treffend auf den Punkt gebracht: „Wir sanieren die noch bezahlbaren Altbestände in dieser Stadt binnen weniger Jahre vom Markt.“ Günstiger Wohnraum werde so durch hochpreisigen ersetzt – und den könnten sich eben nur noch wenige leisten. Wenn man das Recht auf Wohnen tatsächlich ernst nähme, müsste man in der Politik Schritte einleiten, um das Problem zu lösen. Genaue das machten die Spitze der Stadtverwaltung und der Gemeinderat in Stuttgart jedoch nicht.
Die Stadt müsse den Wohnungsbau anschieben. Sie müsse selber bauen und Wohnungen zu bezahlbaren Mieten anbieten, „die sich alle leisten können“. Genau das Gegenteil sei aber der Fall. Die Stadt betreibe eine „Ausverkaufspolitik von Grund und Boden“. Und letztlich müsse sie auch konsequent gegen den Leerstand angehen.
Der Kapitalismus ist das Problem
Die Initiative Klassenkampf ist schon längere Zeit in Stuttgart in Bezug auf die Wohnungssituation aktiv. Der Gewerkschaftssekretär André Kaufmann führte aus, dass das Wohnungsproblem ein Klassenproblem sei. „Was ist schon die Besetzung einer Wohnung gegen die Spekulation mit einer Wohnung“, erinnerte er an einen Redebeitrag auf der Kundgebung am 29. April, dem Tag der Besetzung. Man bekomme Rechte nicht geschenkt, sondern man müsse sie sich nehmen. Er bedankte sich bei den BesetzerInnen, dass sie „das Eis gebrochen“ und damit eine Diskussion in Gang gesetzt hätten, die es sonst nie gegeben hätte. Dieses Zeichen gelte es zu unterstützen und auszubauen.
Es sei absurd, dass Menschen Angst davor haben müssten, dass ihre Wohnung saniert wird. Eigentlich sollte man sich doch darüber freuen. Provokant stellte Kaufmann die Frage „warum ist das so?“. Es liege am Wirtschaftssystem – dem Kapitalismus. „Ein System, in dem Modernisierung und Instandsetzung dazu führt, dass sich nur noch Reiche das Leben in der Stadt leisten können. Der Kapitalismus ist das Problem,“ fasste er zusammen. Bezahlbarer Wohnraum sei eine öffentliche Aufgabe.
„Live and let live“
Das Haus, in dem sich die besetzten Wohnungen befinden, soll einer englischen Investorenfamilie gehören. Englische AktivistInnen erklärten ihre Sympathie für die Besetzungen in Stuttgart und starteten in London eine Solidaritätsaktion. Um das Wohnhaus einer Mitbesitzerin der Immobilie verteilten sie Flugblätter und brachten Plakate an, die über die Ereignisse in Stuttgart informierten.
„People in Stuttgart want to live their lifes in an neigbourhood they are used to, it could be so easy: Live and let live. There is no reason to be greedy“ ist auf den Flyern und Plakaten zu lesen.
- Länderübergreifende …
- … Solidarität
Ein phantasievolles Publikum mit reichlichen Ideen
Es folgte eine sehr rege Diskussion, an der sich viele ZuhörerInnen beteiligten. Beispielsweise wurde angeregt, Briefe an die Eigentümer mit der Aufforderung zu schreiben, den BesetzerInnen Mietverträge zu geben.
Ein älterer Teilnehmer überreichte Tom Adler unter großem Applaus die Adresse einer Stuttgarter Immobilie im Eigentum einer „öffentlichen Wohnbaugesellschaft“, die leer stehe. „Um die können sie sich kümmern“, sagte der Mann. Die Moderatorin Ariane Raad betonte ausdrücklich, dass man grundsätzlich nicht dazu aufrufe, Häuser zu besetzen.
Brita wies im Namen des „Leerstandsmelders Stuttgart“ auf ein umfangreiches Verzeichnis leerstehender Immobilien hin.
Aus Wut wird Kraft
Eine Teilnehmerin berichtete von ihrer derzeitigen Wohnsituation. Sie habe in einem Frauenwohnheim ein Zimmer mit 10 Quadratmetern. „Ich habe mich unwahrscheinlich gefreut über eure Courage, über euren Mut, das Haus zu besetzen. Mich macht unheimlich wütend, dass es oben Menschen gibt, die ihren Profit daraus schlagen, dass es Wohnungen gibt, die leer stehen. Ihr Geldbeutel ist voll.“ Die Wut habe „auch eine unwahrscheinliche Kraft. Und ich möchte diese Kraft dafür einsetzen, andere mitzureißen und mich in dieser Aktion tatkräftig einzubringen“. Es folgte tosender Applaus.
Wir veröffentlichen nachstehend eine Videoaufzeichnung der Veranstaltung, auf der auch die umfangreiche BesucherInnen-Diskussion angehört werden kann.
Weitere Bilder des Tages
- Moderatorin Ariane Raad
- Co-Moderator Paul von Pokrzywnitki
Folge uns!