Stuttgart-Heslach. Bis zu 600 Menschen protestierten am Montagabend, 28. Mai, spontan gegen die Räumung zweier besetzter Wohnungen im Stuttgarter Stadtteil Heslach am selben Vormittag. Der Protest gegen Immobilienspekulation und Wohnungsleerstand werde weitergehen, kündigten die Demonstrierenden an: „Jetzt erst recht“, sagte eine Rednerin bei der Abschlusskundgebung.
Vier Wochen zuvor waren ein Paar mit seinem Kleinkind und eine alleinerziehende Mutter mit ihrem neunjährigen Sohn in die seit Jahren leerstehenden Wohnungen eingezogen. Der Eigentümer gab ihnen jedoch keine Mietverträge und setzte die Räumung durch. Eine Gerichtsvollzieherin des Amtsgerichts Stuttgart ließ sich nach Angaben der Polizei Amtshilfe von den Beamten geben. Das Landgericht Stuttgart habe die Räumung der Wohnungen auf Antrag der Hauseigentümerin erlaubt.
Ein beauftragter Schlüsseldienst öffnete die besetzte Wohnung im vierten Obergeschoss, berichtet die Polizei weiter. Dort habe sich zum Zeitpunkt der Räumung niemand aufgehalten. In der Erdgeschoßwohnung trafen die Beamten einen Mann im Alter von 22 Jahren an, der ihr zufolge jedoch offensichtlich nicht den ursprünglichen Besetzern angehört und jetzt damit rechnen müsse, wegen Hausfriedensbruchs belangt zu werden.
Absperrung mit Hamburger Gittern
Nach der Räumung müssen sich die beiden Familien jetzt wieder mit sehr beengten Wohnverhältnissen arrangieren, während die Wohnungen leer stehen. Das Haus in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 gehört nach mehreren Eigentümerwechseln derzeit einer englischen Investorenfamilie.
Die Polizei, die nach eigenen Angaben mit 40 BeamtInnen vor Ort war, sperrte das Wohnhaus am Montagabend während der Demonstration weiträumig mit Hamburger Gittern ab. Sie befürchtete wohl eine erneute Wohnungs-Besetzung, zu der jedoch niemand Anstalten machte.
Auch eine Delegation von Stuttgart-21-GegnerInnen, die sich weiterhin regelmäßig am Montagabend in der Innenstadt versammeln, war nach Heslach gekommen und beteiligte sich an der Demonstration.
Aufgeklebte Zettel und Kreidespray
Der Protest richtete sich gegen die Zwangsräumung, aber auch allgemein gegen den Mangel an bezahlbaren Wohnungen in Stuttgart, gegen Leerstand und Immobilienspekulation. Von der Wilhelm-Raabe-Straße aus zogen die DemonstrantInnen kreuz und quer durch Heslach. Es gab mehrere Zwischenkundgebungen – unter anderem vor einem leerstehenden Haus im Böhmisreuteweg und vor dem ebenfalls leerstehenden ehemaligen Schlecker-Markt in der zentral gelegenen Böblinger Straße.
Die leerstehenden Häuser im Böhmisreuteweg und in der Hahnstraße wurden mit aufgeklebten Zetteln und Kreidespray markiert, um auf den Leerstand tausender Wohnungen zu Spekulationszwecken und auf die Wohnungsnot aufmerksam zu machen. Es handelte sich aber wohl nicht um eine bleibende Beschädigung.
„Keine Lösung, sondern Teil des Problems“
Das Gleiche geschah mit der Mauer des Hofbräu-Areals in der Böblingerstraße 104. Nach Angaben des BesetzerInnenkollektivs Wilhelm-Raabe-Straße 4 – „Leerstand Beleben!“ steht der Verwaltungskomplex leer und soll einem neuen Bauprojekt weichen. Hierzu erklärt das Kollektiv weiter: „Aldi Süd will hier einen Discountermarkt und einen Wohnpark mit 55 teuren Eigentumswohnungen bauen. Über den lächerlichen Bau von vier (!) geförderten Wohnungen streicht Aldi Süd hierfür staatliche Zuschüsse ein. Hier wird noch einmal deutlich, was mit dem von Stadt und Immobilienfirmen als Lösung propagierten Neubau von Wohnungen gemeint ist. Neue Wohnungen, die sich niemand Normalverdienendes leisten kann, werden mit sozialem Wohnungsbau im homöopathischer Dosis kombiniert und so auch noch von der Stadt gefördert. Das ist keine Lösung, das ist ein Teil des Problems.“
Begeistert über den großen Rückhalt
Bei der Demonstration wurde immer wieder betont, dass es nicht nur um die nun geräumten Wohnungen gehe. Das Problem sei das System des Wohnungsmarktes, der Profite über ein menschliches Grundbedürfnis stelle. Man müsse aktiv werden, hieß es in einer Rede des Besetzerkollektivs auf dem Marienplatz: „Wenn wir uns nicht bewegen, dann bewegt sich gar nichts!“
Rosevita Thomas, die mit ihrem neunjährigen Sohn am Morgen zwangsgeräumt worden war, zeigte sich begeistert von der Demo: „Da liest man so viel in der Zeitung von Politikern, was einen runterzieht. Aber dann merkt man wieder, wie viel Rückhalt man hat. Darum werden ich mich nicht unterkriegen lassen und weitermachen!“
Kundgebung vor dem Stuttgarter Rathaus geplant
Am 14. Juni ist eine Kundgebung mit vielfältigem Programm vor dem Stuttgarter Rathaus geplant. Sie wird maßgeblich vom Aktionsbündnis Recht auf Wohnen organisiert. Das Besetzerkolektiv will sich nach eigenen Angaben daran mit Aktionen und Inhalten beteiligen. Zeitgleich soll im Rathaus eine Gemeinderatssitzung zur Situation auf dem Wohnungsmarkt stattfinden. „Während die im Rathaus heiße Luft produzieren, erarbeiten wir auf dem Marktplatz reale Perspektiven des Widerstands“, so der Besetzer Anton Zimmer.
Für die Zwischenzeit werden weitere Aktionen angekündigt. „Neue Besetzungen, Markierungen oder Veranstaltungen – wir schließen nichts aus. Immerhin können wir die Zeit, die wir bisher in das Halten der Besetzung gesteckt haben nun anderweitig verwenden. Aber unterkriegen lassen wir uns sicher nicht“, führte Zimmer aus. „Spekulanten, Stadt und Polizei können zwar besetzte Wohnungen räumen. Aber den entfachten Widerstand werden sie nicht klein kriegen.“
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Polizei setzte erkennbar auf Deeskalation
Die Polizei hielt sich während der Demonstration zurück. Offenbar hatten die Einsatzkräfte die Anweisung zu deeskalieren. Einige Beamte schienen ebenso wie viele AnwohnerInnen und PassantInnen den Reden bei den Zwischenkundgebungen zuzuhören. Die BesetzerInnen hatten schon während ihrer Aktion viel Solidarität aus der Nachbarschaft erfahren. Das setzte sich auch nach der Räumung fort. Einige AnwohnerInnen applaudierten dem Demozug vom offenen Fenster aus.
Die Stimmung der Demonstrierenden war sehr kämpferisch. Immer wieder wurde „Anti, anti, anticapitalista“ skandiert. „Es wurde zwar geräumt, aber das war nur der Anfang“, sagte eine Rednerin bei der Abschlusskundgebung auf dem Marienplatz: „Jetzt erst recht – wir machen weiter.“
Siehe auch „Was wir tun ist nicht legal, aber legitim“ – Diskussionsabend mit den HausbesetzerInnen in Stuttgart-Heslach
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