Kommentar von Anne Hilger – Stuttgart. Es war eine verstörende, eine groteske Situation: „Stoppt das Sterben im Mittelmeer“ – unter diesem Motto demonstrierten am Samstag, 7. Juli, bundesweit Tausende UnterstützerInnen des Bündnisses „Seebrücke“ gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung. In Stuttgart gab es nur eine kleine Kundgebung mit etwa vierzig TeilnehmerInnen, die um die ertrunkenen Flüchtlinge trauerten und ein Ende der Abschottungspolitik forderten – doch eine um so machtvollere Demonstration für Tierrechte, zu der ARIWA (Animal Rights Watch) aufgerufen hatte. Sie hielt genau vor dem Stand des Landesflüchtlingsrats auf dem Rotebühlplatz und zog ungerührt ihre Zwischenkundgebung durch. Die Flüchtlingsaktivisten, von denen sich nicht wenige selber vegan ernähren und durchaus Verständnis für die Anliegen der Tierrechtler aufbringen dürften, mussten ihre Ansprache abbrechen.
Als Hühner verkleidete AktivistInnen führten die Tierrechtsdemo „Für die Schließung aller Schlachthäuser“ an. „Recht auf Leben ist keine Frage der höheren Intelligenz“, stand auf einem der Plakate. „Tiere sind empfindungsfähige Wesen und haben wie wir ein Recht auf ein seblstbestimmtes Leben“, hieß es auf einem Flyer von ARIWA.
„Tiere haben Rechte, Fleisch ist Mord“ wurde skandiert. „Lasst uns die Tiere von der Speisekarte streichen und aus den Folterkammern holen. Denn gerade schreien sie in Todesangst“, rief eine Rednerin vor den Ohren ihrer Anhänger und denen der Flüchtlingsaktivisten aus. Die Tierausbeutung sei heute das größte Verbrechen gegen die Gerechtigkeit weltweit.
Bei aller Sympathie für den Tierschutz: Wir glauben kaum, dass das die verzweifelten Angehörigen der auf der Flucht ertrunkenen Menschen ebenso sehen. Vor allem haben sie deutlich andere Probleme.
Erst ganz am Ende der Tierrechts-Kundgebung schien einem Redner zu dämmern, wie zynisch solche Sprüche vor dem Hintergrund des Sterbens von inzwischen über tausend Menschen allein in diesem Jahr auf dem Mittelmeer klangen. Er beeilte sich, den Zusammenhang zwischen Massentierhaltung, Umweltzerstörung und Hunger als Fluchtursache hervorzuheben, der bis dahin keinerlei Rolle gespielt hatte. „No one is free, until all are free“, erklärte er unter spärlichem Beifall: „Ein Kampf, ein Gefecht. Tierbefreiung, Menschenrecht.“
Unmenschliche Abschottungspolitik der EU
Als die Schlachthaus- und Fischfang-Gegner weitergezogen waren, versuchte eine Rednerin des OTKM (Offenes Treffen gegen Krieg und Militarisierung) Stuttgart, den Faden wieder aufzunehmen, über Fluchtursachen und die unmenschliche Abschottungspolitik der EU zu sprechen. Sie kritisierte, dass die Grenzen der EU mit allen Mitteln dicht gemacht werden sollen. Doch die Luft war nach der Unterbrechung weitestgehend raus, die Kundgebung wurde bald für beendet erklärt.
Vor der Unterbrechung hatte Seán McGinley, der Leiter der Geschäftsstelle des Landesflüchtlingsrats, gesprochen. „Es ist nicht einfach, sich gegen den herrschenden Zeitgeist zu stellen und sich zu motivieren, auf die Straße zu gehen, wenn die Zustände so beschissen sind und die nächste Unerträglichkeit so schnell auf die vorherige folgt, dass man eigentlich dreimal am Tag demonstrieren müsste“, sagte er.
Freiwillige Seenotretter werden kriminalisiert
Die Zeiten seien düster – „nicht nur weil Europa die Grenzen nach außen und innen hochzeiht, sondern weil gleichzeitig die Grenzen dessen, was man mit Menschen machen darf, immer weiter ausgedehnt werden“.
Im Juni seien 629 Menschen im Mittelmeer gestorben, fast so viele wie in den ersten fünf Monaten des Jahres zusammen. Die europäischen Regierungen hätten schon lange aufgehört, sich ernsthaft darum zu bemühen, das Massensterben im Mittelmeer zu beenden. Es sei ausschließlich zivilen Initiativen von Freiwilligen wie Sea Watch oder Mission Lifeline zu verdanken, dass nicht noch viel mehr Menschen starben. „Doch seit kurzem werden auch diese Bemühungen behindern und kriminalisiert“, sagte McGinley.
Folter in libyschen Lagern
Tausende Menschen würden überdies „in unvorstellbaren Bedingungen in Lagern in Libyen“ festgehalten, wo sie teilweise gefoltert, vergewaltigt und versklavt würden. Auch würden viele in Algerien aufgegriffene Menschen in der Sahara ausgesetzt. Das alles sei „das vorläufige Ergebnis des zivilisatorischen Rückschritts der letzten Jahre in Europa“.
Flüchtende Menschen seien in der öffentlichen Debatte vor allem als Bedrohung und Belastung dargestellt, durch „beständige Hetze und rassistische Diskurse entmenschlicht“ worden – „bis zu dem Punkt, dass es nun gesellschaftlich akzeptabel ist, ihnen die Menschenrechte abzusprechen“.
Fremde als Feindbild
Es werde nicht mehr gefragt, warum diese Menschen überhaupt kommen. Es werde ein „wir gegen die Fremden“ konstruiert, bei dem alle Deutschen vom Obdachlosen bis zum So9rstndsvorsiteznden der Deutschen Bank ein gemeinsames Interesse hätten, ihren Wohlstand vor dem Fremden zu schützen.
Ausgeblendet werde die Frage, warum eines der reichsten Länder der Welt schon vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen nicht in der Lage war, all seinen BürgerInnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen – und ebenso die Verantwortung der deutschen und europäischen Politik und Konzerne.
Gegen die autoritäre Wende
85 Prozent der Geflüchteten weltweit befänden sich in sogenannten Entwicklungsländern. Jedes „wir können ja nicht alle aufnehmen“ seit zu übersetzen mit „die ärmsten Länder der Welt mögen bitte mehr als 85 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen“.
Er hoffe, dass der Aktionstag am Samstag der Beginn des Widerstands „gegen die autoritäre Wende in Europa sei“. Seehofer, Kurz, Salvini, Orban „und ihresgleichen“ dürften nicht diejenigen sein, die die Zukunft Europas und der Welt bestimmen.
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