Von unseren ReporterInnen – München. Über 6000 Menschen zählten die Veranstalter am Mittwoch, 11. Juli, beim Protest am „Tag X“ in München – an jenem Tag, an dem die Urteile im NSU-Prozess verkündet wurden. Die Demonstration, an deren Spitze auch Angehörige der Opfer standen, startete am Oberlandesgericht und zog durch die Innenstadt zum Innenministerium am Odeonsplatz. Die DemonstrantInnen forderten weiter Aufklärung über das Unterstützer-Netzwerk des NSU und die Rolle des Verfassungsschutzes.
Begleitet wurde die Demonstration von lautstarken Parolen. Wie die Veranstalter berichteten, gab es in über 36 weiteren Städten Demonstrationen mit mehreren tausend Menschen.
Am Vormittag waren die Urteile im NSU-Prozess gefallen. Entsetzen machte sich über das milde Urteil gegen den NSU-Unterstützer André E. breit. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt – wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Am Ende der Urteilsbegründung hob das Gericht den Haftbefehl gegen E. auf. Er könne nun auf freiem Fuß bleiben, bis das Urteil rechtskräftig ist, sagte ein Gerichtssprecher.
Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt. Die Anklage hatte 12 Jahre Haft wegen versuchten Mordes gefordert. Nach mehreren Medienberichten kam es nach der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude zu Rangeleien zwischen DemonstrantInnen und Polizei.
Neonazis jubelten im Gerichtssaal
Eine Person, die als sogenannter Platzhalter für Angehörige der Opfer und als Zuschauer im Gerichtssaal war, berichtete unserer Redaktion von einem erschreckenden Verhalten der Justiz. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hatte den Vater des in seinem Internetcafé in Kassel ermordeten Halit Yozgat ermahnt und ihm angedroht, ihn des Saales zu verweisen. Der Mann hatte wohl klagende Rufe nicht unterdrücken können, als der Tod seines Sohnes geschildert wurde. Bei Jubelausbrüchen von Neonazis habe es keinerlei Reaktionen des Gerichts gegeben.
Weiter sei zu beobachten gewesen, dass sich Neonazis gezielt rechts und links neben der Schwester eines Opfers und deren Anwältin platzierten. Sie hätten sich bei der Schilderung mehrerer Morde gegenseitig angegrinst. Die Schwester und Freunde eines der Opfer verließen daraufhin den Saal. Die Person berichtet weiter, dass Neonazis laut jubelten, als verkündet wurde, dass der Haftbefehl gegen André E. aufgehoben wird und er somit zunächst ein freier Mann sei. Angehörige der Opfer und andere Zuhörer forderten die Justizbeamten und das Gericht daraufhin auf, die Neonazis des Saales zu verweisen. Andernfalls würden die übrigen Angehörigen gehen. So war es letztlich auch der Fall.
Motto „Kein Schlussstrich“ bleibt aktuell
Zu der Demonstration am Abend hatte die Kampagne „Kein Schlussstrich“ aufgerufen, zu der unter anderem die Initiative „NSU-Watch“ und das „Münchner Bündnis gegen Naziterror und Rassismus“ gehören. Die OrganisatorInnen forderten bei der Auftaktkundgebung eine umfangreiche Aufklärung der Strukturen und der Hintermänner und -Frauen des NSU, die die Verbrechen erst ermöglicht hätten. Man werde es nicht zulassen, dass die Aufarbeitung darauf beschränkt wird, die Verantwortung einigen Einzeltätern zuzuschreiben und alle anderen ungeschoren davonkommen zu lassen.
Erst wenn das Netzwerk und die Verbrechen des NSU aufgeklärt sind und politische Konsequenzen aus der Aufarbeitung gezogen werden, werde das Motto „Kein Schlussstrich“ seine Bedeutung verlieren. Bis dahin bleibe es aktuell, so die OrganisatorInnen. Ein weiterer Redner erinnerte an die politische Gewalt in den 90er-Jahren. Sie sei der soziale und politische Kontext, aus dem der NSU entstand.
Keine Aussagen im Urteil zu staatlichen Verstrickungen
Das Urteil des Gerichts sei eine „schallende Ohrfeige“, was die offenen Fragen angeht, sagte die Nebenklage-Anwältin Antonia von der Behrens, die die Angehörigen von Mehmet Kubasik vertrat. Das Urteil sage aus, dass es eine abgeschottete Dreierzelle gab, die alleine ausgespäht und gemordet habe. Im ganzen Urteil sei nicht einmal die Rede vom Verfassungsschutz. Nur ein V-Mann sei erwähnt worden. Das sei alles, was das Urteil zu staatlichen Verstrickungen zu sagen habe, so von der Behrens weiter.
Für sie gibt es nur eine Erklärung: Das Urteil solle festschreiben, dass es nun ein Schlussstrich gezogen ist. Von der Behrens betrachtet es aber auch als klares Signal an die Neonazi-Szene. Das milde Urteil gegen André E. werde die Szene weiter bestärken, so von der Behrens. Es komme jetzt darauf an, dass alle weiterkämpfen, denn man könne nicht auf einen Staatsschutz-Senat vertrauen.
Würdige, aber auch kämpferische Demonstration
Vielen TeilnehmerInnen war die Wut, aber auch die Trauer anzusehen, als die Demonstration gegen 18.30 Uhr startete. An der Spitze des Protestzugs liefen Angehörige mit Tafeln, auf denen die Porträts der Opfer zu sehen waren. Es folgte ein großes Transparent mit den Gesichtern und Todestagen der NSU-Opfer. Gleich danach schloss sich ein großer Block mit etlichen Transparenten an. Auf dem Fronttransparent war „NSU-Komplex auflösen! Kein Schlussstrich“ zu lesen.
Auf weiteren Bannern wurde gefordert, die Unterstützer-Netzwerke aufzudecken und den Verfassungsschutz aufzulösen. Viele Demo-TeilnehmerInnen zeigten sich von Beginn an kämpferisch und lautstark. Ihre Forderungen nach vollständiger Aufklärung der NSU-Verbrechen unterstützten sie durch kräftige Parolen. Skandiert wurde etwa „Aufruhr, Widerstand – Klassenkampf statt Vaterland“ oder auch „Nazis morden, der Staat macht mit – der NSU war nicht zu dritt“. Eine oft gehörte Parole war „Kein Vergeben, kein Vergessen, Nazis haben Namen und Adressen“.
Abschlusskundgebung auf dem Odeonsplatz
Es war ein beeindruckender Moment, als der Demonstrationszug gegen 20.15 Uhr in der Abendsonne auf den Odeonsplatz einbog und die Tafeln mit den Bildern der Opfer in unmittelbarer Nähe zum Innenministerium aufgestellt wurden. Für eine kurze Zeit herrschte Stille auf dem Platz. Die Veranstaltung endete nach einem ereignisreichen und für viele TeilnehmerInnen emotionalen Tag mit einer kurzen Abschlusskundgebung.
Behinderungsversuch der Pressearbeit
Kurz nach dem Start der Demonstration hatte ein Polizist die Presseleute an der Spitze der Demonstration zum Weggehen aufgefordert. Angeblich behinderten sie den Marsch der DemonstrantInnen. Von einer Behinderung konnte allerdings keine Rede sein. Die Journalisten dokumentierten lediglich laufend das Geschehen. Mehrfach erklärten JournalistInnen dem aufgebrachten Beamten, dass sie ihre Arbeit fortsetzen würden und er aufhören solle, sie zu behindern. Der augenscheinlich überforderte Beamte gab sein pressefeindliches Ansinnen schließlich auf, nachdem er gemerkt hatte, dass auch seine Drohung, die Presse entfernen zu lassen, nicht zum von ihm gewünschten Verhalten führte.
Laut Pressemitteilung des Polizeipräsidiums München waren insgesamt 350 BeamtInnen im Einsatz. Die Teilnehmerzahl bei der Demonstration wird von der Polizei mit über 3000 angegeben. Die Veranstalter sprechen von über 6000 TeilnehmerInnen.
Verteidiger kündigen Revision an
Ein Schlussstrich wird noch lange nicht gezogen sein. Die Verteidiger von Zschäpe und Wohlleben haben Revision angekündigt, die Bundesanwaltschaft im Fall von Andreas E. ebenfalls. Es könnte also in eine neue Runde vor den Bundesgerichtshof in Karlsruhe gehen. Aber auch die vielen offenen Fragen und die Rolle des Verfassungsschutzes müssen geklärt werden. So lange werden wohl auch die AnwältInnen der Nebenklage und etliche Organisationen für Gerechtigkeit kämpfen.
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