Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Vor dem Stuttgarter Amtsgericht wurde am Montag, 30. Juli, unter hohen Sicherheitsvorkehrungen und Zugangskontrollen gegen einen 28-jährigen Antifaschisten verhandelt. Dem jungen Mann wurde Landfriedensbruch, versuchte Körperverletzung und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen. Amtsrichterin Kernler verurteilte den Angeklagten zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung und zu 50 Stunden gemeinnütziger Arbeit.
Die Stuttgarter Nachrichten hatten im Vorfeld mit einem reißerischen Beitrag Stimmung gegen den Angeklagten gemacht. Er ist auch Sprecher des Stuttgarter Besetzer-Kollektivs und Angestellter der Fraktionsgemeinschaft SÖS-LINKE-Plus im Stadtrat. Es sieht ganz so aus, als habe es zwischen Verfassungsschutz, Polizei und den betreffenden Journalisten eine Art Zusammenarbeit gegeben.
Rechtsanwalt Franz Spindler sprach von „einseitiger, reißerischer, unwahrer Berichterstattung“ in der Presse. Offenbar seien Details aus der Prozessakte an die Stuttgarter Nachrichten weitergegeben worden, führte der Rechtsanwalt aus. Durch diese Berichterstattung seien nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Zeugen beeinflusst worden.
So wurde zum Beispiel das zu erwartende Strafmaß thematisiert, und es wurden falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt. Es wurde behauptet, der junge Mann hätte behelmt an einer Demonstration teilgenommen. Laut Rechtsanwalt Spindler hat die Rechtsabteilung der Stuttgarter Nachrichten zwischenzeitlich Fehler eingeräumt. Der Antrag der Verteidigung auf Verfahrenseinstellung wurde von Richterin Kernler jedoch abgelehnt. Es liege zwar vermutlich eine einseitige Berichterstattung vor, aber dies stelle kein Prozesshindernis dar.
Protest gegen TTIP/Ceta
Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, er habe am 17. September 2016 bei einer Demonstration gegen die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta in Stuttgart (wir berichteten) vermummt mit einem Banner und einer Rauchfackel auf der Dachterrasse der Musikhochschule gestanden. Als Zeuge hierfür trat ein 51-jähriger Beamter der Abteilung Staatsschutz auf, der selbst nicht vor Ort war. Er führte aus, dass drei Personen auf dem Dach gewesen seien. Es sollen unter anderem drei Böller sichergestellt worden sein. Zwei hätten sich in der Tasche einer weiblichen Person befunden. Der dritte Böller habe ein anderes Format gehabt, „somit habe ich schlussgefolgert, dass es dem Angeklagten zuzuordnen ist“, führte der Staatsschützer aus.
Eine Strafverfolgung wäre vermutlich nur über den Vorwurf des Hausfriedensbruchs möglich gewesen. Da es sich hierbei um ein Antragsdelikt handelt, versuchte der Beamte mehrfach, die Musikschule zu einem Strafantrag zu bewegen. Diese Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Ein weiterer Polizeizeuge, der am 17. September 2016 vor Ort war, erkannte den Angeklagten im Gerichtssaal nicht. Es habe keine Widerstandshandlungen gegeben, und er habe auch keine Vermummungen gesehen.
Zu diesen Vorwürfen beantragte letztlich neben der Verteidigung sogar die Staatsanwaltschaft einen Freispruch. Richterin Kernler sprach ihn dann auch in Bezug auf diese Ereignisse frei.
„Demo für alle“
Anders bei weiteren Vorwürfen. Bei einer Demonstration der „Bildungsplangegner“ kam es am 28. Februar 2016 zu Protesten gegen die sogenannte „Demo für alle“ (wir berichteten). Dem Antifaschisten wurde vorgeworfen, er habe zusammen mit anderen DemonstrantInnen eine Polizeikette gestürmt. Dabei soll er „der Wortführer“ gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft leitete hieraus den Vorwurf des Landfriedensbruchs und einen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz ab.
Hauptzeuge für diesen Vorwurf war ein 60-jähriger Staatsschützer, der ebenfalls selbst nicht vor Ort im Einsatz war. Er habe die Polizeivideos nach zwei Monaten erhalten und „Menschen aus der linken Szene identifiziert“, so der Kriminalhauptkommissar. Der Beamte gab an: „Ich kenne den Angeklagten seit 10 Jahren.“ Etwa 150 Leute hätten sich „mit szenentypischen Parolen“ und mit „passiver Bewaffnung mit Schutzfolien“ auf die Polizei zubewegt, die an dieser Stelle nur mit fünf Beamten gestanden habe. Auf einem Video sei zu sehen gewesen, wie der Angeklagte die Leute angeleitet habe. Es seien zu Schlagstock- und Pfeffersprayeinsatz durch die Polizeibeamten gekommen. Letztlich hätten zwischen fünfzig und 100 Leute den Durchbruch versucht – durchgekommen seien etwa dreißig Personen.
Eine Polizistin berichtete als Zeugin, sie sei bei dieser Aktion zu Boden gegangen und habe auch Pfefferspray abbekommen. Ihr Oberschenkel habe davon gebrannt, und sie habe einen Schock erlitten. „Das war in zweieinhalb Jahren mein schlimmster Einsatz“, führte die Polizistin aus. Sie sei ins Krankenhaus eingeliefert worden und sei nicht vernehmungsfähig gewesen, „ich war fertig mit der Welt“.
Auf Nachfrage des Rechtsanwalts, ob sie Schläge abbekommen habe antwortete sie: „Da kann ich mich nicht daran erinnern“. Das schlimmste sei eine Schürfwunde am kleinen Finger und das Pfefferspray gewesen. Ob sie Demonstranten mit Pfefferspray gesehen habe, wollte der Verteidiger wissen: „Das weiß ich nicht.“ Erkannt hat die Zeugin den Angeklagten im Gerichtssaal nicht.
Ein weiterer Polizeizeuge erklärte, er habe bereits vor dem Anrennen auf die Polizeikette Pfefferspray eingesetzt, da „der Angriff unmittelbar bevor stand“. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er die Leute aufgefordert habe zurückzubleiben, gab er an: „Weiß ich nicht.“ Auch dieser Zeuge erkannte den Angeklagten im Saal nicht.
Ein 50-jähriger Polizeibeamter berichtete weitgehend gleichlautend wie seine vorherigen KollegInnen. Er sei mit dem Krankenwagen abtransportiert worden. Er erklärte, bei dem Einsatz einen Trümmerbruch an einem Finger erlitten zu haben. An einem Mittelfinger seien zwei Sehnen abgerissen gewesen. Er musste operiert werden und sei längere Zeit dienstunfähig gewesen.
Auszug aus unserem Bericht über die Ereignisse am 28. Februar 2016: „Im Zug der Gegenproteste versorgte die Sanitätsgruppe Süd-West allein 81 Betroffene „des großzügigen Pfeffersprayeinsatzes der Polizei“. Sie versorgte überdies 16 Kopfplatzwunden und behandelte zwei Patienten mit Verdacht auf Knochenbrüche der Extremitäten. Vier Patienten erlitten nach ihren Angaben vermutlich eine Gehirnerschütterung, vier weitere hatten kleinere chirurgische Wunden. Nur ein Teil der Verletzten sei dem öffentlichen Rettungsdienst übergeben, andere – etwa mit nähbedürftigen Kopfplatzwunden – in Begleitung von Freunden selbstständig in die Klinik geschickt worden.“ Der Bericht kann hier nachgelesen werden.
1. Mai 2017
Bei der 1. Mai-Demonstration am 1. Mai 2017 (wir berichteten) soll ein Polizeibeamter ein Plakat auf den behelmten Kopf bekommen haben. Die Staatsanwaltschaft sah darin den Versuch einer gefährlichen Körperverletzung. Als Zeugin trat eine Sachbearbeiterin aus dem Bereich „Linksextremismus“ auf, die am 1. Mai nicht vor Ort war. Sie will den Angeklagten auf Polizeivideos als Täter erkannt haben. Zur angeblichen Tatszene merkte sie an: „Für mich sieht es so aus, als ob es ein Schlag war.“
Ein 23-jährige Polizeibeamter sagte, er habe eine Holzlatte mit Pappschild auf den Helm bekommen, aber es habe ihm nichts ausgemacht. Ob der Schlag stark oder schwach war konnte er nicht sagen. „Ich wurde nicht verletzt“, führte er aus.
Bei Demobeginn seien die Transparente verknotet gewesen, so ein weiterer Polizist. Die Polizeikette habe sich auf die DemonstrantInnen zubewegt. Die Protestierenden hätten mit Fahnenstangen auf die Beamten eingestochen. Es wäre mit Schildern nach den Beamten geschlagen worden, und er habe das Polizeivideo erstellt.
Urteil
Nach dreieinhalb Stunden verkündete Richterin Kernler um Punkt 12 Uhr ihr Urteil: sechs Monate Gefängnis auf Bewährung und 50 Stunden gemeinnützige Arbeit.
Nachstehend dokumentieren wir die Prozesserklärung des Angeklagten:
„Ich stehe heute vor Gericht, weil mir drei Dinge vorgeworfen werden. Im ersten Fall geht es um den Vorwurf des Landfriedensbruchs im Rahmen der Proteste gegen die „Demo für Alle“. Hierbei handelte es sich um regelmäßige Aufmärsche rechter und homophober Kräfte gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung. Am Anfang waren sie von christlichen Fundamentalisten getragen, wurden aber schnell von rechten Kräften übernommen. Auch waren es die ersten offenen Auftritte der AFD bei Demonstrationen hier in Stuttgart. Die Gegenproteste, unter anderem in Form von Blockaden, waren ein wichtiger Bestandteil der politischen Auseinandersetzung.
Im zweiten Fall geht es um eine Transparent Aktion am Rande der landesweiten Demonstration gegen die Freihandelsabkommen TTIP & CETA.
Im dritten Fall soll ich auf der 1. Mai-Demonstrationen 2017 in Stuttgart einem Polizisten mit einem Pappschild auf den Helm geschlagen haben.
Doch das heutige Verfahren hatte auch ein Vorspiel. Bereits im Vorfeld der heutigen Verhandlung beteiligten sich zwei Redakteure der Stuttgarter Nachrichten, an einer Diffamierungskampagne gegen mich mit Verweis auf den nun stattfindenden Prozess.
Hintergrund ist mein Engagement als Sprecher des Aktionsbündnis „Recht auf Wohnen“ und offener Unterstützer der ehemals besetzten Wohnungen im Stadtteil Heslach. Ende April wurden dort seit längerem leerstehende Wohnungen besetzt. Zwei Familien, die zuvor in beengten Verhältnissen lebten zogen dort mit Kindern in die Wohnungen ein. Sie hatten schlicht die Schnauze voll, dass es in dieser Stadt tausende unbegründet leerstehende Wohnungen gibt, während unzählige Familien verzweifelt nach Wohnraum suchen.
Die Redakteure der Stuttgarter Nachrichten verbreiteten indes ungeprüft Informationen des Verfassungsschutzes. Neben Schlagzeilen wie „Linke Extremisten mischen mit“ und „Hausbesetzer im Visier des Verfassungsschutzes“ würde ich zu den „führenden Köpfen“ der linksextremistischen Szene in Stuttgart gehören und bereits fünf Verurteilungen auf dem Kerbholz haben. Außerdem soll ich mich 2016 mit Helm an einer Demonstration beteiligt. Während der Helm-Vorwurf frei erfunden war (mittlerweile korrigiert), wird bezüglich der anderen fünf „Vorstrafen“ nicht einmal erwähnt, dass es sich bei vier davon um Schwarzfahren handelt.
Die „exklusiven“ Informationen des Verfassungsschutzes, die in den Stuttgarter Nachrichten reißerisch aufbereitet wurden, sind faktisch banal:
- Linke stehen an der Seite von Wohnungsnot betroffenen Menschen.
- Linke engagieren sich gegen rechte Hetze und versuchen Nazis zu blockieren.
- Linke kämpfen gegen Freihandelsabkommen wie TTIP, die Konzernen mehr Macht und Profit bringen, auf Kosten von ArbeitnehmerInnenrechten und sozialer und ökologischer Standards.
- Linke beteiligen sich an Demonstrationen für eine Gesellschaftsordnung jenseits von Ausbeutung und Kapitalismus.
Für mich ist klar: Widerstand gegen Krieg, Abschottung, Sozialabbau und Rechtsruck war und ist notwendig und richtig. Das Problem ist der Verfassungsschutz, der diejenigen, die sich hieran beteiligen als „Linksextrem“ diffamiert und so gesellschaftlich isolieren möchte. Das Resultat der herrschenden Ordnung, die so festgeschrieben werden soll, erleben wir jeden Tag. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, Deutschland beteiligt sich an Kriegseinsätzen rund um den Globus, eine neoliberale Wirtschaftspolitik und Freihandelsabkommen produzieren Armut und Umweltzerstörung, die Grenzen werden abgeschottet und auf dem Boden vom Mittelmeer türmen sich die Leichenberge. Immobilienfirmen machen Maximalprofite mit Wohnraum und Spekulanten lassen trotz Wohnungsnot tausende Häuser leerstehen. Aufmärsche von Rechten werden mit massiven Polizeiaufgeboten ermöglicht und durchgeprügelt.
Doch auf der Anklagebank landen nicht die Verursacher und Profiteure dieser gesellschaftlichen Ordnung, dem Kapitalismus. Nicht die Waffenexporteure, Aktionäre und Firmenbosse, nicht die Spekulanten und rechte Hetzer sind staatlicher Kriminalisierung und Repression ausgesetzt, sondern zunehmend linke AktivistInnen. Also Menschen, die notwendige antifaschistische Gegenwehr leisten, Menschen die für eine andere, eine gerechte Gesellschaft kämpfen.
Ich werde niemals tatenlos hinnehmen, das Nazis ungestört mit rechter Hetze durch unsere Straßen laufen. Und ich werde auch niemals den Zustand akzeptieren, das es in dieser Stadt Häuser ohne Menschen und Menschen ohne Häuser gibt.“
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