Von František Matouš – Liestal. Die Künstlerin, HIV-Aktivistin und engagierte Bürgerin Michèle Claudine Meyer näht seit dem 30. August an jedem Sitzungstag des Kantonalen Parlaments des Schweizer Kantons Basel-Land vor dem Regierungsgebäude in Liestal an einem riesigen Hungertuch. Sie will auf unerträgliche Sparmaßnahmen der rechtsbürgerlichen Regierung im Sozialbereich aufmerksam machen.
Die durchwegs bürgerliche Regierung des Kantons Basel-Land hat seit Jahren durch Misswirtschaft und Steuersenkungen für Unternehmer und Großverdiener die Kantonsfinanzen tief in die roten Zahlen gebracht. Nun wurde ein harter Sparkurs verordnet – auf Kosten der Staatsangestellten, der öffentlichen Dienste, der Sozialwerke, des Bildungswesens und der Kultur.
Vergebliche Einwände gegen Sparkurs
Gewerkschaften und Sozialdemokraten versuchten, diesen Sparkurs mit Gesprächen, parlamentarischen Vorstößen und Demonstrationen abzuwenden. Doch die Regierung bewegte sich keinen Schritt und schmetterte alle Forderungen ab.
Man kann aber nicht nur reden, man muss auch konkret etwas tun, um auf die Missstände aufmerksam zu machen, sagte sich Michèle Meyer. Zu einer von den Gewerkschaften und Berufsverbänden organisierten Kundgebung gegen die Sparmaßnahmen im Mai erschien sie mit einem riesigen, spontan zu Hause genähten „Hungertuch“, das sie vor dem Regierungsgebäude ausbreitete. So mussten die ParlamentarIerinnen auf dem Weg zum Sitzungssaal unter Gejohle der Demonstrierenden über das Tuch schreiten.
Aus katholischer Tradition
Heute sagt Michèle Meyer: „Ich habe zuerst gar nicht an den Kontext solch eines Tuches gedacht, es lief mir nur durch den Kopf, dass die Regierung sehr viele Menschen wörtlich am Hungertuch nagen lässt. Doch die ursprüngliche, mittelalterliche Funktion der Hungertücher in der katholischen Tradition passt irgendwie auch zu der heutigen Situation.“
Die Hungertücher, auch Fastentücher genannt, wurden in den Kirchen in der Fastenzeit aufgehängt, um einerseits an das Fasten zu erinnern, aber auch um die Jesusdarstellungen oder ganze Altäre abzudecken und so symbolisch den ungestillten Hunger nach Freude und Erlösung darzustellen. Das Volk wurde von seinen Idealen ferngehalten. So beschloss die Künstlerin, an ihrem Hungertuchprojet weiter zu arbeiten.
Das Hungertuch wird immer größer
Von der Stadtverwaltung in Liestal erhielt Meyer die Erlaubniss, an den jeweiligen Parlamentssitzungstagen vor dem Regierungsgebäude in der Kantonshauptstadt an ihrem Hungertuch weiter zu arbeiten. Und so bildet das in der Zwischenzeit viel größer gewordene Hungertuch am Donnerstag eine Grenze, über welche die ParlamentarierInnen hinwegschreiten mussten, eine Grenze zwischen der Welt der Politik und den „Hungernden“, welche draußen bleiben müssen und auf eine Änderung nur hoffen können.
Die Reaktionen auf das Werk fielen auch unterschiedlich aus. Viele der bürgerlichen PolitikerInnen versuchten, es einfach zu ignorieren. Die Linken fanden es erfreulich, und viele haben gefragt, ob man wirklich darüber ins Gebäude hinein schreiten kann. Die Aktion direkt zu kritisieren, hat keiner gewagt. Aber man merkte, dass einige der PolitikerInnen immer noch in der Zeit leben, welche eine bekannte Statue in Liestal repräsentiert, die den Staat und das Volk darstellt: Der Staat – ein entschlossener Mann – führt und leitet das Volk – eine zu seinen Füssen kniende Frau – an. Mitentscheidung ist da nicht wirklich gefragt.
Eine schüchterne Bitte
Die Reaktionen der Vorbeigehenden waren durchaus positiv, alle bewunderten das große Werk und waren auch mit den offenen und versteckten Aussagen des Hungertuchs und seiner Schöpferin einverstanden. Eine kleine Kritik gab es dann doch: Nachdem er ausgiebig das Werk gelobt hatte, fragte ein junger Mann schüchtern, ob man eine Ecke der Tuchen nicht leicht verschieben könne. Es verdecke nämlich ein paar Pflanzen im Blumenbeet, und er als Gärtner leide dann mit seinen Pflanzen.
Diesem Wunsch wurde sofort entsprochen. Das Hungertuchprojekt – eine Art „Work in Progress“ – wird nun jeden zweiten Donnerstag bis Ende November fortgesetzt. Im Februar sind im Kanton Basel-Land Wahlen. So kann man leise hoffen, dass das Hungertuch dann im Kantonsmuseum ausgestellt wird – als Mahnung und Erinnerung an die „Hungersnöte“ unter der bürgerlichen Mehrheit in der Regierung und im Parlament.
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