Von unseren ReporterInnen – Kandel. Es war ein Tag mit Licht und Schatten. Im rheinland-pfälzischen Kandel war am Samstag, 6. Oktober, ein breites Bürgerbündnis geeint auf der Straße. In deutlicher Überzahl setzte es sich dagegen zur Wehr, dass die Stadt als Bühne für rassistische Hetze missbraucht wird. Sein ohrenbetäubender Protest bewirkte, dass die eher schwach besuchte Kundgebung des so genannten Frauenbündnisses Kandel um Marco Kurz ohne Außenwirkung blieb. Die Polizei agierte insgesamt umsichtig, gebrauchte aber dennoch Schlagstock und Pfefferspray. Ein Polizeihund, der ohne Maulkorb eingesetzt wurde, verletzte einen linken Demonstranten schwer.
Der Mann erlitt tiefe Biss- und Kratzwunden am linken Oberarm und rechten Oberschenkel. Er wird eine Zeitlang im Krankenhaus bleiben müssen. Insgesamt betreute die Demo-Sanitätsgruppe Südwest am Samstag sechs Verletzte. Zwei von ihnen mussten in die Klinik: der eine wegen der Hundebisse, ein weiterer mit einer Kopfplatzwunde.
Die Polizei berichtet von drei leicht verletzten Polizisten und „einigen Beleidigungen gegenüber Polizeibeamten“. Der Karlsruher Bundestagsabgeordnete der Linken Michel Brandt informierte über Twitter unter dem Stichwort „Irrsinn in #Kandel“ darüber, dass ihm der Polizeieinsatzleiter trotz seines Abgeordneten-Status mit Schlägen gedroht und versucht habe, ihm sein Handy zu entreißen.
Etwa 500 DemonstrantInnen gegen rechte Hetze
Nach Polizeiangaben waren am Samstag 700 Menschen in Kandel auf der Straße: 300 bei der Demonstration des rechten „Frauenbündnisses Kandel“ und 400 bei fünf Protestversammlungen an verschiedenen Orten der Stadt. Wir schätzen die Reihen der GegnerInnen des „Frauenbündnisses“ auf etwa 500 und die Zahl von dessen Anhängern auf knapp 250 – auf jeden Fall weit weniger als jene 750 bis 800, die der Veranstalter erwartet hatte.
Marco Kurz klagte durchs Mikrofon darüber, dass vier Busse mit seinen Anhängern nicht zum Kundgebungsplatz durchgedrungen seien. Allerdings hat niemand die Fahrzeuge gesehen, und es schrieb sich auch keine Antifa-Gruppe auf die Fahnen, die Ankunft der Busse verhindert zu haben. Auch die Polizei erklärte auf Nachfrage unsererseits, dass sie nichts von der Existenz der Busse wisse. Die Busse existierten offenbar nur in der Phantasie von Kurz.
Laut Polizei handelte der Hund sozusagen in Notwehr
Von der Vorgeschichte der Hundebisse gibt es unterschiedliche Versionen. Das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS) teilte mit, ein Polizist habe den Hund von der Leine gelassen, als zwei Demonstranten von der Blockade unmittelbar bei der rechten Kundgebung über einen Parkplatz zum Hotel zum Rössel zurückkehren wollten. Der Hund habe einen der beiden angefallen und mehrfach gebissen – auch als der Mann bereits am Boden lag. Der Hundeführer und seine Kollegen hätten keine Anstalten gemacht, den Hund zurückzuziehen, sondern ihn noch weitere Male zubeißen lassen.
Nach Polizeiangaben wollten dagegen „zwei Personen des linken Spektrums am Sparkassenplatz eine Absperrung durchbrechen“. Der Nebensatz in der Pressemitteilung der Polizei lässt aufhorchen: „anschließend griff eine der beiden Personen einen Diensthund der Polizei an und wurde von diesem gebissen.“ Einem Bericht der Rheinpfalz zufolge soll der Demonstrant laut Polizeiangaben den Hund in den Schwitzkasten genommen haben.
Linker Demonstrant wurde zu Boden gebracht
Es scheint kaum vorstellbar, dass jemand einen großen, abgerichteten Diensthund ohne Maulkorb angreift. Wir fragten am 7. Oktober die Pressestelle der Polizei per E-Mail nach dem genauen Hergang und erhielten am Montag, 8. Oktober, kurz nach 16 Uhr eine Mail: „Nach Prüfung des Sachverhaltes werden wir Ihnen eine Antwort zukommen lassen.“ Wir werden baldmöglichst weiter berichten.
Es gibt auch Video- und Bildmaterial von der Festnahme des auf dem Boden liegenden Demonstranten durch mehrere Polizeibeamte. Es zeigt, dass der Hundeführer den Hund erst nach geraumer Zeit von seinem am Boden liegenden, von mehreren Beamten festgehaltenen Opfer abbringen und die Kontrolle über das außer Rand und Band geratene Tier zurückerlangen konnte, oder wollte.
Dass ein Polizist bei einer Demonstration einen Hund ohne Maulkorb mitführt, sahen wir bei unserer langjährigen Tätigkeit zum ersten Mal. Bereits lange vor dem Hundeangriff fiel unseren Fotografen ein Polizeihund ohne Maulkorb im Dierbachweg auf (siehe nachstehende Fotos).
Demo-Sanitäter protestieren gegen Behinderung ihrer Arbeit
Die Demo-Sanitätsgruppe Südwest, die am Samstag im Auftrag des Veranstalters von „Kein Platz für rechte Hetze“ im Einsatz war, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei, aber auch gegen die Besatzung eines Einsatzwagens des Roten Kreuzes. Der Gebissene sei unnötig lang mit auf den Rücken gefesselten Händen von mehreren Polizisten gegen ein Einsatzfahrzeug der Polizei gedrückt worden, obwohl er vor Schmerzen wimmerte und um Hilfe flehte.
Ein Krankenwagen des Deutschen Roten Kreuzes Kandel habe sich bereits vor Ort befunden, als ein Demosanitäter eintraf. Er sei von den Polizisten vor Ort, aber auch vom Team des Krankenwagens „massiv verbal angegangen“, seine Einsatzberechtigung und fachliche Kompetenz angezweifelt worden. „Währenddessen konnte ich sehen, wie sich der Patient im Krankenwagen weiter vor Schmerzen krümmte und seine Fesseln trotzdem nicht gelöst wurden“, berichtet der Demosanitäter. Die Polizei habe ihn dann des Platzes verwiesen, obwohl er „mutmaßlich die höchst ausgebildete Sanitätskraft vor Ort war und der Patient ausdrücklich eine Behandlung durch mich wünschte“.
„Hundebisse sind sehr gefährlich“
Der Gebissene habe sich schließlich selbst aus der Behandlung des Roten Kreuzes entlassen, da sich dessen Team über ihn und seine Verletzungen lustig gemacht habe. Der Demosanitäter berichtet auch über Behandlungsfehler. Er zeigte sich von dem Vorfall überrascht, da „wir normalerweise sehr gut mit den Kollegen des Roten Kreuzes zusammenarbeiten“.
Der Demo-Sanitätsdienst kritisiert generell den Einsatz von Hunden am Rand von Demonstrationen: „Die Tiere werden hier extremen Stresssituationen ausgesetzt und ihre Reaktionen sind nicht vorhersehbar.“ Bisswunden seien nicht nur wegen der Schwere der Verletzungen, sondern auch aufgrund der Infektionsgefahr durch Keime im Maul des Tieres sehr gefährlich. Dass in Kandel ein Polizeihund ohne Maulkorb eingesetzt wurde, sei „zumindest eine große Fahrlässigkeit, die schwere Verwundungen bewusst in Kauf nimmt“.
Mündlicher Bescheid verbaute den Rechtsweg
Die Kundgebungen und Demonstrationen in Kandel unter dem Motto „Kein Platz für rechte Hetze“ hatten um die Mittagszeit begonnen. Am Bahnhof versammelte sich das Bündnis „Kandel gegen Rechts“, dem auch eine Reihe antifaschistischer und linker Organisationen angehören. Das Bündnis hatte einen zehnseitigen Bescheid mit Auflagen erhalten, die zum Teil in der Praxis nicht einzuhalten waren – etwa die, dass Seitentransparente höchstens 1,50 Meter lang sein dürften.
Der Anmelder ging juristisch gegen die Auflagen vor. Das Gericht wies den Einspruch kurzfristig zurück, allerdings – nach eigenen Angaben mangels Schreibkraft – nicht schriftlich, sondern nur telefonisch. Dadurch blieb dem Anmelder die Möglichkeit, in die nächste Instanz zu gehen, verbaut.
„Unsägliche Aufmärsche von Rechts“
Dennis Nitsche, Bürgermeister von Wörth, eröffnete die Reihe der Ansprachen. Er freue sich, dass der Bahnhofsvorplatz voll geworden sei: „Herzlich willkommen der Antifa, den Linken, den Grünen und meiner SPD.“ Die „unsäglichen Aufmärsche von Rechts“ nach dem gewaltsamen Tod der 15-jährigen Mia, für den das Landgericht Landau einen vermutlich aus Afghanistan stammenden Flüchtling wegen Mordes und Körperverletzung verurteilt hat, jährten sich bald. „Wir wollen die nicht, nicht in Kandel und nicht in der Region“, stellte Nitsche klar.
Alle Demokraten müssten zusammenstehen um zu verhindern, dass die Rechten „Kandel zum neuen Dresden“ machen. Nitsche wies auf die zahlreichen Opfer rechter Straftaten hin: „Die eigentliche Bedrohung für die Sicherheit kommt nicht von Linken, nicht von Flüchtlingen, sie kommt von Rechts“, stellte er klar.
„Antifaschist und Demokrat“
Nitsche sprach später noch bei der Versammlung des Bündnisses „Wir sind Kandel“ vor der Verbandsgemeindeverwaltung. Ebenso der SPD-Landtagsabgeordnete Alexander Schweitzer. „Ich bin Antifaschist, weil ich Demokrat bin“, bekannte er auf dem Platz vor dem Bahnhof. Es sei wichtig, sich gegen all jene zu wehren, „die die Gesellschaft kaputt machen“ und spalten wollten. Er rief dazu auf, „friedlich, demokratisch und solidarisch“ zusammenzustehen für eine Welt, in der Herkunft, Hautfarbe und Religion keine Rolle spielten. Er wünsche sich jedoch, dass „alle, die in Sonntagsreden vor Extremismus warnen“, ebenfalls nach Kandel kommen.
Als nächster sprach Nico De Zorzi von der „Partei“. Sie war beim Protest vor dem Bahnhof stark vertreten, hatte ein „Volksbingo“ und eine Mahnwache „Demokratie in Maaßen“ am Kreisverkehr angemeldet. „Hass macht nicht schön“, eröffnete der Vertreter der Partei seine Rede. Er zitierte einen Eintrag des „Frauenbündnis“-Initiators Marco Kurz auf Facebook: „Wir sind nicht rechts, wir sind einfach nur verantwortungslose Menschen“ – ein bezeichnender Schreibfehler. Der Redner schloss mit einer Betrachtung, was das „Frauenbündnis Kandel“ in den letzten zehn Monaten erreicht habe. Es folgte gähnende Stille.
„Aufmärsche bereiten Boden für rechte Gewalt“
Die Moderatorin Sarah Boos von „Kandel gegen Recht“ (KgR) dankte dem Antifaschistischen Aktionsbündnis Karlsruhe für die Demo-Anmeldung und die Organisation. „Die Errungenschaften der Zivilgesellschaft sind bedroht, wenn wir uns dem nicht entgegenstellen“, warnte dessen Sprecherin. Der Widerstand gegen Hetze und Menschenfeindlichkeit sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie erinnerte an Neonazi-Aufmärsche, etwa zum so genannten „Tag der deutschen Zukunft“, in Karlsruhe: „Die bittere Erfahrung ist: Mit jedem gelungenen Aufmarsch bereiten sie den Boden für weitere rechte Gewalt“.
Sie erinnerte daran, dass es in Karlsruhe jedoch durch „entschiedenes gemeinsames Auftreten“ auch große Erfolge gegeben habe. „Wir verwahren uns dagegen, dass dieser entsetzliche Mord für rassistische Propaganda und Hetze missbraucht wird“, stellte sie klar: „Wir alle und besonders wir Frauen brauchen keinen Schutz von Rassisten und lassen uns nicht instrumentalisieren.“ Man kämpfe vielmehr gemeinsam für eine offene Gesellschaft.
Demo-Stopp vor dem Hotel Rössel
Vor dem Bündnis „Wir sind Kandel“ auf dem Platz vor der Verbandsgemeinde sprachen auch Lukas Hartmann vom Landesvorstand der Grünen und Rüdiger Stein vom DGB Regionsgeschäftsführer Vorder- und Südpfalz. Der Demozug vom Bahnhofsvorplatz aus wurde von der „Kurfürstlich Kurpfälzischen Antifa“ angeführt. Auch Grüne und Anhänger verschiedener SPD-Arbeitsgemeinschaften reihten sich ein. Die Demo zog in entspannter Atmosphäre über die Bahnhofstraße und stoppte auf Höhe des Hotels zum Rössel, wo die Polizei in einiger Entfernung zum Aufmarschort des „Frauenbündnisses“ Hamburger Gitter aufgebaut hatte. Dort stand bereits ein Stand der Gruppe „Singen gegen Rechts“ bereit.
Während der Großteil der DemonstrantInnen am Kundgebungsplatz blieb, drang eine kleinere Gruppe von einer anderen Stelle in der Hauptstraße unmittelbar bis zu den Hamburger Gittern vor dem Aufmarschort des „Frauenbündnisses“ vor. Die Polizei hatte mit diesem Manöver offenbar nicht gerechnet.
Rechte Kundgebung versinkt im Protest
Mit Tröten und Trillerpfeifen machte die schnell wachsende Menge der Nazi-GegnerInnen so großen Lärm, dass die Worte von Marco Kurz allenfalls in seiner unmittelbaren Umgebung zu verstehen waren.
Die Polizei rief in Durchsagen dreimal dazu auf, die Kundgebung nicht zu stören, und drohte, sie werde die Protestierenden zurückdrängen. Es blieb jedoch bei der Ankündigung. Kurz unterbrach die rechte Kundgebung mehrfach wegen des Lärms. Nach 18 Uhr formierten sich ihre TeilnehmerInnen zu einem Demozug durch das Kandeler Wohngebiet. Unterwegs stießen sie immer wieder auf protestierende Anwohner und Plakate – so etwa auf eine Gruppe „Omas gegen Rechts“ oder einen Mann, der mit der Bohrmaschine Betonsteine zertrümmerte und so starken Lärm erzeugte.
In Hutbürger-Manier gegen Pressevertreter
Während und nach der rechten Demonstration wurden Journalisten der Beobachter News zwei Mal an ihrer Arbeit gehindert. Im ersten Fall kam ein Teilnehmer am Rand des rechten Aufmarsches gezielt auf einen unserer Fotografen zu und hielt ihm mit den Worten „aber dann fotografiere ich auch“ die Handykamera direkt vors Gesicht.
Derweil begannen Gleichgesinnte damit, unser Team als „Lügenpresse“ zu beleidigen. Die Polizei ging dazwischen und brachte den Mann zurück zu der rechten Kundgebung. Allerdings forderte ein Beamter unseren Fotografen dazu auf, seine Arbeit nun ebenfalls einzustellen, wofür es keinerlei Rechtsgrundlage gibt.
Polizei will Aufnahmen verhindern
Kurze Zeit später wollte ein Beamter unseren Fotografen auf dem Weg zum Bahnhof daran hindern, eine Festnahme zu dokumentieren. Als Begründung führte der Polizist das Kunsturheberrechtsgesetz an. Es verbietet, ohne Zustimmung Porträts zu veröffentlichen, sofern der Abgebildete keine Person der Zeitgeschichte ist. Auffallend war, dass der Beamte seine Kennzeichnungsnummer nicht vorschriftsmäßig trug (siehe Foto unten). Ein Umstand, der bei Polizeieinsätzen in Kandel immer wieder beobachtet werden kann.
Das Fotografieren selbst ist Pressevertretern – anders als Privatleuten – jedoch trotz Datenschutzgrundverordnung im öffentlichen Raum auch weiterhin erlaubt, wovon sich der Beamte schließlich auch überzeugen ließ. Wenn die Polizei ihre Einsatzkräfte über die aktuelle Rechtslage aufklären würde, worum auch schon die Journalistenorganisationen gebeten haben, ließen sich solche Konflikte vermeiden.
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