Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Laut Staatsanwaltschaft stand er „in vorderster Reihe“ an einem Transparent. Er sei aktiv beteiligt gewesen, denn er habe sich solidarisch mit einer „gewaltbereiten Gruppe“ gezeigt: Da ein junger Antifaschist mit dem Urteil des Stuttgarter Amtsgerichts vom März dieses Jahres (3600 Euro Geldstrafe) nicht einverstanden war, ging er in Berufung. Vor dem Landgericht wurde er am Freitag, 5. Oktober, von Richter Müller und seinen beiden Schöffen zu 2200 Euro wegen Landfriedensbruchs verurteilt.
Das Stuttgarter Amtsgericht hatte den 27-jährige Mann am 1. März dieses Jahres in erster Instanz zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen á 30 Euro verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte eine „aggressive“ und „bedrohliche“ Körperhaltung eingenommen und damit Polizeibeamte eingeschüchtert habe.
Das Landgericht reduzierte nun unter dem Vorsitz von Richter Müller die Zahl der Tagessätze um 10 auf 110. Den Tagessatz reduzierte er um ein Drittel auf 20 Euro, da der Verurteilte als Schüler seinen Lebensunterhalt von 622 Euro monatlichem Bafög bestreiten muss.
Zur falschen Zeit am falschen Ort?!
Vor Verhandlungsbeginn standen am Eingang des Landgerichts einige solidarische ProzessbeobachterInnen. Sie verteilten Flyer an PassantInnen, um auf den Prozess aufmerksam zu machen. Interessiert zeigten sich auch zwei Polizeibeamte, denen die „Ansammlung“ offenbar auffiel. Eingegriffen haben sie zwar nicht, aber sie nahmen die Personalien einer unbeteiligten Person auf, die wohl zufällig in der Nähe stand.
Rückblick
Bei einer Demonstration der „Bildungsplangegner“ hatte es am 28. Februar 2016 Proteste gegen die sogenannte „Demo für alle“ (wir berichteten) gegeben.
Auszug aus unserem Bericht über die Ereignisse am 28. Februar 2016: „Im Zug der Gegenproteste versorgte die Sanitätsgruppe Süd-West allein 81 Betroffene „des großzügigen Pfeffersprayeinsatzes der Polizei“. Sie versorgte überdies 16 Kopfplatzwunden und behandelte zwei Patienten mit Verdacht auf Knochenbrüche der Extremitäten. Vier Patienten erlitten nach ihren Angaben vermutlich eine Gehirnerschütterung, vier weitere hatten kleinere chirurgische Wunden. Nur ein Teil der Verletzten sei dem öffentlichen Rettungsdienst übergeben, andere – etwa mit nähbedürftigen Kopfplatzwunden – in Begleitung von Freunden selbstständig in die Klinik geschickt worden.“ Der Bericht kann hier nachgelesen werden.
Am 30 Juli verurteilte das Amtsgericht einen anderen Stuttgarter Antifaschisten in gleicher Sache (siehe „Aktivist zu Gefängnis verurteilt„). Hauptzeuge für diesen Vorwurf war ein 60-jähriger Staatsschützer, der nicht vor Ort im Einsatz war. Er habe die Polizeivideos nach zwei Monaten erhalten und „Menschen aus der linken Szene identifiziert“, so der Kriminalhauptkommissar. Der Beamte gab an: Etwa 150 Leute hätten sich „mit szenentypischen Parolen“ und mit „passiver Bewaffnung mit Schutzfolien“ auf die Polizei zubewegt, die an dieser Stelle nur mit fünf Beamten gestanden habe. Es sei zu Schlagstock- und Pfeffersprayeinsatz durch die Polizeibeamten gekommen. Letztlich hätten zwischen fünfzig und 100 Leute den Durchbruch versucht – durchgekommen seien etwa dreißig Personen.
Eine Polizistin berichtete als Zeugin, sie sei bei dieser Aktion zu Boden gegangen und habe auch Pfefferspray abbekommen. Ihr Oberschenkel habe davon gebrannt, und sie habe einen Schock erlitten. „Das war in zweieinhalb Jahren mein schlimmster Einsatz“, führte die Polizistin aus. Sie sei ins Krankenhaus eingeliefert worden und sei nicht vernehmungsfähig gewesen, „ich war fertig mit der Welt“.
Auf Nachfrage des Rechtsanwalts, ob sie Schläge abbekommen habe antwortete sie: „Da kann ich mich nicht daran erinnern.“ Das schlimmste sei eine Schürfwunde am kleinen Finger und das Pfefferspray gewesen. Ob sie Demonstranten mit Pfefferspray gesehen habe, wollte der Verteidiger wissen: „Das weiß ich nicht.“ Erkannt hat die Zeugin den Angeklagten im Gerichtssaal nicht.
Ein weiterer Polizeizeuge erklärte, er habe bereits vor dem Anrennen auf die Polizeikette Pfefferspray eingesetzt, da „der Angriff unmittelbar bevor stand“. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er die Leute aufgefordert habe zurückzubleiben, gab er an: „Weiß ich nicht.“ Auch dieser Zeuge erkannte den Angeklagten im Saal nicht.
Ein 50-jähriger Polizeibeamter berichtete weitgehend gleichlautend wie seine vorherigen KollegInnen. Er sei mit dem Krankenwagen abtransportiert worden. Er erklärte, bei dem Einsatz einen Trümmerbruch an einem Finger erlitten zu haben. An einem Mittelfinger seien zwei Sehnen abgerissen gewesen. Er musste operiert werden und sei längere Zeit dienstunfähig gewesen.
Video von den Protesten am 28. Februar 2016
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