Stuttgart/Bad Cannstatt. Das Bündnis zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht in Cannstatt lädt zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages der Pogromnacht 1938 ein. Die Kundgebung am Platz der ehemaligen Cannstatter Synagoge (König-Karl-Straße 45/47) beginnt am Freitag, 9. November, um 18 Uhr. Im Anschluss an die Kundgebung findet um 19 Uhr im Verwaltungsgebäude des Bezirksrathauses Bad Cannstatt, Am Marktplatz 10, eine Film- und Vortragsveranstaltung mit dem Titel „Peter Gingold – jüdischer und kommunistischer Widerstandskämpfer in der Résistance“ statt.
Vor 80 Jahren am 9. November 1938 standen in ganz Deutschland die Synagogen in Flammen. Sie wurden in Brand gesetzt von Truppen der SA und der SS, organisiert vom Parteiapparat der NSDAP und abgesichert von Polizei und Feuerwehr. Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, Zehntausende verhaftet, dutzende jüdische Menschen wurden umgebracht. Die Pogromnacht stellte eine Zäsur dar, die faschistische Diktatur ging nun zum offenen Terror gegen Juden und Jüdinnen über.
Um daran zu erinnern und um zu verhindern, dass sich eine vergleichbare Politik wiederholen kann, führt das „Bündnis zum Gedenken an die Pogromnacht in Cannstatt“ dieses Jahr zum 9. Mal eine Gedenkveranstaltung durch. Musikalisch umrahmt wird das Programm von den Künstlern und Künstlerinnen des „Freien Chor Stuttgart“ mit jüdischen und antifaschistischen Liedern.
Die Gedenkreden halten:
· Ulrich Kadelbach (evangelischer Pfarrer i.R.): Er wird auf die Rolle der christlichen Kirchen während der Naziherrschaft eingehen.
· Silvia Gingold (Tochter des jüdischen Widerstandskämpfers Peter Gingold, der in der französischen Resistance gegen die Nazis kämpfte): Sie wird über das antifaschistische Wirken Ihrer Eltern – auch in der Bundesrepublik – berichten.
Einen weiteren Beitrag hält eine Vertreterin des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart und Region (AABS) mit dem Schwerpunkt auf den aktuellen Aktivitäten von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Gruppen, Parteien und Strukturen in der Region Stuttgart.
Moderiert wird die Gedenkveranstaltung von Joe Bauer, Journalist aus Stuttgart. Er wird unter anderem über das Schicksal von Fritz Elsas berichten.
Peter Gingold – jüdischer und kommunistischer Widerstandskämpfer in der Résistance
1933 wurde Peter Gingold von den Nazis verhaftet und aufgefordert, Deutschland zu verlassen. Gingold ging nach Frankreich und arbeitete dort im antifaschistischen Widerstand. Dort lernte er seine spätere Frau Ettie Stein-Haller kennen. Während des Krieges verhaftete die Gestapo den Résistance-Kämpfer. Doch Gingold gelang die Flucht. Er kämpfte daraufhin weiter gegen die Faschisten – und überlebte. Im August 1945 kehrte er nach Frankfurt zurück. Bis zu seinem Tode trat er als Zeitzeuge bei zahlreichen Veranstaltungen auf.
Filmvorführung: Zeit für Zeugen – eine Hommage an Ettie und Peter Gingold
Lesung: Silvia Gingold liest aus dem Buch ihres Vaters „Paris – Boulevard St. Martin No. 11: Ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik“. Anschließend wird sie von ihrem antifaschistischen Engagement in Deutschland berichten.
Wir dokumentieren nachstehend den Aufruf des Veranstalters:
„Vor 80 Jahren, am Abend des 9. November 1938 brannten in ganz Deutschland tausende Synagogen, jüdische Wohnungen und Geschäfte, angezündet nicht vom wütenden Mob, sondern vorbereitet und organisiert von NSDAP, SA und Behörden des faschistischen Staates, dem die Macht 1933 übertragen wurde.
Am nächsten Tag wurden in ganz Deutschland jüdische Geschäfte geplündert, zehntausende jüdische Menschen verhaftet, hunderte ermordet. Der Terror gegen jüdische BürgerInnen fand damit einen ersten Höhepunkt. Sie wurden ihres Besitzes beraubt, zur Auswanderung gezwungen, in den Selbstmord getrieben, in Konzentrationslager verschleppt und letztendlich in den Gaskammern ermordet.
Die Synagoge in Cannstatt wurde vom Leiter der Brandwache, zwei Feuerwehrleuten und einigen Nazis angezündet. Fast alle männlichen Stuttgarter Juden zwischen 18 und 65 Jahren wurden verhaftet und kamen ins Gestapo-Gefängnis Welzheim, aber auch ins KZ Dachau.
Nach der Pogromnacht wurden weitere Gewaltmaßnahmen gegen JüdInnen umgesetzt. Mit der „Judenvermögensabgabe“ ließ sich das Deutsche Reich von den jüdischen Opfern das Verbrechen der „Reichskristallnacht“ bezahlen. Hermann Göring erließ die Verordnungen „zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ sowie „über den Einsatz des jüdischen Vermögens“. Die Großbanken finanzierten die zu erwartende Milliarde Reichsmark vor, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Deutschen Reiches durch Rüstungskredite abzuwenden.
Die Reichspogromnacht war der letzte Startschuss für die Brutalisierung und Enthemmung breiter Bevölkerungsschichten zur Vorbereitung des faschistischen Raubkrieges.
6 Millionen JüdInnen fielen letztlich der Shoa zum Opfer, schätzungsweise mehr als 250.000 Sinti und Roma in Europa wurden im Zuge des Rassenwahns gedemütigt, ab 1940 in den Konzentrationslagern interniert und umgebracht. Unzählige KommunistInnen, SozialdemokratInnen, GewerkschafterInnen sowie andere AntifaschistInnen wurden bereits ab 1933 verfolgt und verhaftet, um frühzeitig jeglichen Widerstand zu brechen.
Damals wie heute fallen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus dort auf fruchtbaren Boden, wo Existenzängste zunehmen. Auch in bisher als liberal geltenden westlichen Staaten ereignet sich jetzt Unerwartetes – Donald Trump wird Präsident der USA, die Parteienlandschaft in Frankreich und Italien wird umgewälzt, die EU gerät aus den Fugen, bis hin zum Brexit. In Deutschland sitzt mit der AfD inzwischen eine Rechtsaußenpartei mit teilweise über 20% in Landtagen und im Bundestag. Konservative übernehmen ihre faschistoiden Forderungen und machen die AfD damit bedenkenlos aus parteipolitischen Gründen gesellschaftsfähig. Eine Krise der kapitalistischen Gesellschaft ist unübersehbar.
Die Gründe für diese Entwicklungen werden selten kritisch beleuchtet: Zugunsten von Exportprofiten in Deutschland werden nicht nur Existenzen in Afrika bedroht, Arbeitslosigkeit in die benachbarten EU-Länder und die USA exportiert, sondern auch Löhne, Nachfrage und soziale Absicherung im Inland gestutzt. Armut nimmt in Deutschland zu. Wohnen wird für Viele zunehmend unbezahlbar. Stress und Angst am Arbeitsplatz werden immer mehr Alltag. Noch nicht direkt Betroffene haben zunehmend soziale Abstiegsängste. Dieses Wirtschaftsmodell kann von uns Betroffenen nur als Bedrohung wahrgenommen werden.
Um uns von den erforderlichen Auseinandersetzungen abzulenken, bauen die Herrschenden äußere und innere Feindbilder auf. Große Teile der bürgerlichen Presse springen auf den fahrenden Zug auf und heizen seine Lokomotive weiter an: Geflüchtete werden zu Verursachern aller Probleme erklärt und Moslems generell als Islamisten verdächtigt. Freiheit wird zunehmend durch vorgebliche „Sicherheit“ verdrängt. Die CSU will mit ANKER-Zentren Internierungslager schaffen. In Folge dieser Stimmungsmache werden immer wieder Geflüchtetenunterkünfte angezündet. Selbst vor Handelskrieg und Drohung mit militärischen Angriffen wird nicht zurückgeschreckt. Die Parallelen zu Entwicklungen vor 1933 sind leider beängstigend, auch wenn die Unterschiede bedacht sein wollen.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Menschen gegeneinander ausgespielt und einzelne Gruppen als Sündenböcke markiert werden. Dem entgegen stellen wir unseren gemeinsamen Kampf für eine solidarische Welt.
Dieser Aufruf wird unterstützt von:
Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart & Region (AABS); Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart; „Arbeit Zukunft“ Stuttgart; DIDF, Freundschafts- und Solidaritätsverein Stuttgart e.V.; DIE LINKE OV Bad Cannstatt, Münster, Mühlhausen; DIE LINKE Stuttgart; DKP (Deutsche Kommunistische Partei) Stuttgart; Fraktionsgemeinschaft SÖS LINKE-PluS im Bezirksbeirat Cannstatt; Freier Chor Stuttgart; Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba Regionalgruppe Stuttgart; Friedenstreff Stuttgart Nord; Friedenstreff Cannstatt; Groll, Renate und Manfred, Gerlingen; Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V.; Linksjugend [`solid] Stuttgart; Naturfreunde Radgruppe Stuttgart e. V.; Revolutionäre Aktion Stuttgart; SÖS – Stuttgart Ökologisch Sozial; SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend) Stuttgart; ver.di Bezirk Stuttgart; VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) Stuttgart; Verein Zukunftswerkstatt e.V. Zuffenhausen; VÖS (Vaihingen Ökologisch Sozial); Waldheim Stuttgart e.V. / Clara Zetkin Haus; Waldheim Gaisburg e.V.; Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften“
Weitere Infos unter www.pogromnachtcannstatt.wordpress.com
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