Von Alfred Denzinger – Tübingen. Der Gewerkschafter Tobias Kaphegyi erhielt einen Strafbefehl über 1400 Euro wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Da er Einspruch einlegte, kam es am Mittwoch, 2. Januar, vor dem Tübinger Amtsgericht zum Prozess. Am Ende wurde das Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage von 300 Euro eingestellt. Das Geld geht an den Tübinger Arbeitslosen-Treff. Die Frage, ob es bei der Versammlungsbehörde angemeldet werden muss, wenn man sich zu einem Gruppenfoto mit Plakaten aufstellt, blieb durch die Einstellung unbeantwortet.
Tobias Kaphegyi soll am 13. Juli 2018 auf dem Gehweg vor dem Realmarkt in Tübingen-Weilheim wenige Minuten lang mit bis zu vier Gewerkschaftskollegen eine angekündigte, aber nicht angemeldete Versammlung abgehalten haben. An diesem Tag hatte die Gewerkschaft Verdi die Beschäftigten der SB-Warenhäuser Real bundesweit zu einem ganztägigen Streik aufgefordert. Sie befürchtet Lohndumping und massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Weitere Details zu den Vorwürfen gegen Kaphegyi können hier nachgelesen werden.
Nachdem vier Gewerkschafter im Realmarkt Flyer an Kundinnen und Kunden verteilt hatten, bis sie Hausverbot erhielten, habe man auf dem Gehweg noch ein Abschlussfoto mit Plakaten gemacht, um die Aktion zu dokumentieren, erklärte Kaphegyi. Als er anschließend mit seinen Kollegen ins Auto steigen wollte, sei ein Streifenwagen vorgefahren.
Die Polizei habe sie an der Abfahrt gehindert und seine Personalien verlangt. Sie habe mit Festnahme gedroht, wenn kein Hauptverantwortlicher genannt werde. Kaphegyi hatte es eilig, weil er seine Kinder aus der Kita abholen musste. Er sagte zu den Polizisten: „Wenn Sie unbedingt jemand brauchen, dann nehmen Sie mich.“ Weil er sich sicher gewesen sei, nichts Unrechtes getan zu haben, habe er die Polizeiaktion als nötigend empfunden. Er gab den Beamten schließlich seine Personalien.
Polizei überwacht Gewerkschaftsaktivitäten
Die Gewerkschafter standen offenbar bereits im Vorfeld unter gezielter Beobachtung der Polizei. Da nicht davon auszugehen ist, dass sich gewöhnliche Streifenbeamte mit derartigen Dingen beschäftigen, muss davon ausgegangen werden, dass sich die Abteilung „Staatsschutz“ zu den Überwachungsmaßnahmen berufen fühlte. Die Zeugenaussage des vor Ort eingesetzten Polizisten offenbarte jedenfalls, dass die Polizei bereits im Vorfeld die Gewerkschaftsaktivitäten überwachte.
Der Beamte gab vor Gericht an, man habe im Internet den Aufruf zur Protestaktion gelesen und deshalb ermittelt. Beim Eintreffen vor Ort am frühen Vormittag habe es keine Versammlung gegeben. Von dem späteren Fototermin wurde die Polizei von einem Vertreter des Realmarkts informiert.
Kundgebung vor dem Amtsgericht
Vor dem Amtsgericht versammelten sich am 2. Januar kurz vor 9 Uhr bis zu 130 Menschen, um ihre Solidarität mit dem Angeklagten zu zeigen.
Benjamin Stein von Verdi Fils-Neckar-Alb erläuterte, was die Politik der Metro AG für die Beschäftigten der Real Supermärkte bedeutet, nämlich Lohndumping und massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Der katholische Sozialethiker Prof. Matthias Möhring-Hesse hob hervor, welche wirtschaftlichen Folgen Tarifflucht für Beschäftigte hat. Ralf Jaster vom DGB Kreisverband Tübingen betonte, dass der massive Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen das eigentliche Verbrechen sei und nicht der Protest dagegen.
- Ralf Jaster, DGB
- Prof. Matthias Möhring-Hesse, katholischer Sozialethiker
Der ursprünglich vorgesehene Gerichtssaal hielt dem großen Zuhörerandrang nicht stand. Da in diesem Saal nur ein Teil der interessierten Öffentlichkeit Platz gefunden hätte, wurde der Prozess in den Schwurgerichtssaal des Landgerichts verlegt.
Zeuge erklärt: „Es gab keinen Versammlungsleiter, weil es keine Versammlung gab“
In der Verhandlung wurde deutlich, dass die Vorwürfe keine Substanz haben, da vor dem Realmarkt keine Versammlung stattgefunden hat. Dies wurde von allen Zeugen bestätigt.
Staatsanwalt Freudenberg erklärte dennoch, er werde einen Freispruch nicht akzeptieren und gegebenenfalls in die nächste Instanz gehen. Daraufhin stimmte Kaphegyi auf Anraten seines Verteidigers Gabor Czopf einer Einstellung des Verfahrens gegen die Zahlung einer Spende von 300 Euro an den Tübinger Arbeitslosen-Treff zu. Bei einer spontanen Spendensammlung vor dem Gerichtssaal kamen 435 Euro zusammen.
Kaphegyi erklärte, er sehe nicht ein, „dass für die Gesichtswahrung der Staatsanwaltschaft, die zwar kleinlaut geworden ist, aber anscheinend immer noch nicht vollständig dazugelernt hat, weiterhin staatliche Ressourcen und menschliche Energie in einer angedrohten Berufung verschwendet werden“. Er wolle „weiteren kleinkarierten und unvernünftigen Verfolgungsmöglichkeiten durch die Staatsanwaltschaft“ keine neuen Chancen geben.
Politische Niederlage eingehandelt
Für ein eventuelles Berufungsverfahren hatte die aktion ./. arbeitsunrecht Kaphegyi vorab ausdrücklich versichert, alle Kosten der zweiten Instanz zu tragen. Die Initiative sammelt über den Fonds Meinungsfreiheit in der Arbeitswelt Spenden, um Personen zu unterstützen, die wegen unternehmenskritischer Äußerungen mundtot gemacht werden sollen.
Die die aktion ./. arbeitsunrecht erklärte, „dass ein verfolgungswütiger Staatsanwalt hier eine vergleichsweise hohe Geldauflage durchsetzen konnte, obwohl es jeder rationalen Grundlage für den vorhergehenden Strafbefehl entbehrte, ist allerdings alarmierend. Das darf nicht Schule machen. Sonst sendet dieses Verfahren am Ende ein zutiefst schädliches Signal an BürgerrechtlerInnen: Eine Strafverfolgung ist auch ohne konkreten Anlass jederzeit möglich. Es wäre wichtig gewesen, hier auf einem Urteil zu bestehen.“
Zur Aussage des Polizeizeugen erklärt die Organisation: „Offensichtlich ist die Polizei schon vor Beginn der Aktion, ohne von der Leitung des Real-Supermarktes gerufen worden zu sein, vor dem Supermarkt in Weilheim Streife gefahren. Zum Anlass diente angeblich eine Meldung auf der Website von aktion ./. arbeitsunrecht, dass auch in Tübingen eine Protestaktion stattfinden sollte. Offenbar standen wir unter gezielter Beobachtung von Behördenverantwortlichen, die die Polizei als eine Art steuerfinanzierter Security von Konzernen wie der Metro AG betrachten.“
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Weitere Bilder des Tages
- Tobias Kaphegyi (links)
- Erfolgreiche Spendensammlung
- Ralf Jaster, DGB
- Prof. Matthias Möhring-Hesse
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