Von unseren ReporterInnen und der Redaktion – Stuttgart. Übers Wochenende wurden Wände geweißelt und Holzböden verlegt, zuvor Türen und Fensterrahmen sorgfältig mit Malerkrepp abgeklebt. Die BesetzerInnen sind dabei, das nach langem Leerstand am 9. März besetzte Mehrfamilienhaus in der Forststraße 140 (wir berichteten) zu renovieren. Das Haus soll der „WS Real Estate KG“ mit Sitz in der Stuttgarter Seidenstraße 19 gehören. Öffentlich gaben sich die Eigentümer jedoch noch nicht zu erkennen. Die Stadt Stuttgart will vermitteln und hat zu einem Gespräch am Montag, 18. März, um 14 Uhr eingeladen. Wenn es zustande kommt, sind parallel Aktionen auf dem Stuttgarter Marktplatz ab 13.30 Uhr geplant.
Update 18. März, 11.35 Uhr:
Gespräch abgesagt – heutige Kundgebung findet nicht statt:
Soeben teilten die BesetzerInnen mit, dass sich die Eigentümer der Forststraße 140 weigern würden, an einem Vermittlungsgespräch teilzunehmen. Die BesetzerInnen hatten einem gemeinsamen Gespräch zugestimmt, vorausgesetzt die Eigentümer seien persönlich anwesend. Da die Eigentümer offenbar kein Interesse an einer einvernehmlichen Lösung hätten und noch nicht einmal bereit seien sich an einen Tisch zu setzen werde das Gespräch nicht stattfinden. Die geplante Kundgebung um 13.30 Uhr vor dem Stuttgarter Rathaus werde nicht stattfinden.
Man sei selbstverständlich zu einem solchen Gespräch bereit, heißt es in einer am Sonntag verschickten Pressemitteilung der BesetzerInnen. Allerdings vorausgesetzt, dass die Eigentümer persönlich anwesend seien. Sie haben sich bisher öffentlich nicht zu erkennen gegeben, aber umfangreiche Sanierungs- und Umbauarbeiten angekündigt. „Eigentlich müsste bei so einem Gespräch der grüne OB Kuhn als Repräsentant der Stadt anwesend sein, doch dieser drückt sich davor und schickt andere vor“, kritisiert Maria Piave von den BesetzerInnen.
Zu vermitteln sei angesichts der Verantwortung der Stadt „für die Wohnungsnot und explodierende Mieten“ das Mindeste, was sie in dieser Situation tun könne. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) und die Mehrheit des Gemeinderates lösten mit ihrer Politik nicht den Notstand auf dem Wohnungsmarkt, sondern verschärften ihn von Jahr zu Jahr. Es handele sich „nicht nur um eine zahnlose Politik, sondern um einen direkten Schulterschluss mit renditeorientierten Wohnungsbaukonzernen, Banken und Immobilienfirmen“.
Immenser Leerstand trotz Wohnungsnot
Seit den 90er Jahren habe sich die Zahl der Sozialwohnungen halbiert. Rund 4480 Haushalte stünden auf der Warteliste für eine Sozialwohnung – so viele wie noch nie und dreimal so viele wie 2007. Selbst nach Schätzungen der Stadt befänden sich rund 3000 Wohnungen im Leerstand. „Das wäre konkreter Wohnraum für mindestens 8000 Menschen, ganz zu schweigen von den 167 000 Quadratmetern leerstehender Gewerbe- und Bürofläche die in Wohnraum umgewandelt werden könnten.“
Die Besetzer wollen sich nicht auf die Stadt verlassen, sondern stellen Forderungen, um ihre Aktion zu beenden. Sie verlangen klare Aussagen darüber, wann genau mit der Sanierung des Hauses Forststraße 140 begonnen und wann diese abgeschlossen sein soll. Ebenso wollen sie verbindlich wissen, was „bezahlbarer Wohnraum“ heißen und wie hoch die Quadratmetermiete sein soll.
Verhandlungen mit Mietinteressenten gefordert
Konkret sollen Verhandlungen mit den von Verdrängung und Wohnungsnot betroffenen Tanja Klauke, Rosevita Thomas, Antonietta Ferri und Stephanie Schädel aufgenommen werden. Die Krankenpflegerin Tanja Klauke wohne derzeit in der Forststraße 168, werde aber nach einer angekündigten Mieterhöhung um 136 Prozent ihre Wohnung verlassen müssen, da sie sich die neue Kaltmiete von über 1100 Euro nicht leisten könne.
Rosevita Thomas wohne seit der Zwangsräumung in der Wilhlem-Raabe-Straße 4 wieder mit ihrem Sohn in einem kleinen Zimmer bei ihrer Schwester. Antonietta Ferri sei mit einer Räumungsklage konfrontiert und die Alleinerziehende Stephanie solle Ende des Monats mit ihren vier Kindern zwangsgeräumt werden. Ihrer Familie drohe die Unterbringung in einer Notunterkunft. „Wenn diese Forderungen einvernehmlich umgesetzt werden und Mietverträge für die Betroffenen zustande kommen, sind wir selbstverständlich bereit die Hausbesetzung sofort zu beenden“, erklärt Maria Piave für die BesetzerInnen.
In dem besetzten Haus wurden ein Aufenthaltsraum mit Elektroöfen, eine provisorische Küche und im Obergeschoss ein Spielbereich für Kinder eingerichtet. Auf Tischen und in den Fensternischen stehen Blumen. Für Besucher liegt Infomaterial bereit.
Linke unterstützt Mieterinitiativen mit Kampagne
Am Sonntagnachmittag war auch der Stuttgarter Abgeordnete und Bundesvorsitzende der Linken Bernd Riexinger vor Ort. „Diese Besetzung ist meiner Meinung nach legitim und geschieht aus Notwehr der Betroffenen“, erklärte er. Die Stadt Stuttgart sei trotz der immensen Wohnungskrise seit Jahren untätig. „Diese Untätigkeit erleben wir deutschlandweit ja auch in vielen anderen Städten“, kritisiert Riexinger.
Der Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart müsse sich jetzt dafür einsetzen, dass die BesetzerInnen von den EigentümerInnen „einen Mietvertrag bekommen, den eine alleinerziehende Mutter und eine Krankenpflegerin auch bezahlen kann“. Seine Partei unterstütze die Anliegen der BesetzerInnen in Stuttgart und weiterer Initiativen mit einer Kampagne.
Siehe auch Stuttgarter Hausbesetzer fordern klare Aussagen
Kommentar von Anne Hilger: Die Stadt kann sich nicht zurücklehnen
Die Stadt Stuttgart kann sich beim Aktionsbündnis Recht auf Wohnen und besonders bei den HausbesetzerInnen bedanken. Offenbar fühlen sich Immobilieneigentümer von deren Aktivitäten kolossal beflügelt. Kaum tauchen BesetzerInnen auf, stehen plötzlich Renovierungen, Sanierungen und sogar Aufstockungsarbeiten unmittelbar bevor. Und das selbst in Fällen, in denen Wohnungen schon seit Jahren leer stehen. Wenn nicht gar seit Jahrzehnten, wie der noch auf D-Mark-Zeiten zurückreichende Inhalt einiger Briefkästen in der Forststraße 140 nahelegt.
Doch oh Wunder, auch dort sollen schon seit Längerem Umbauarbeiten geplant, soll sogar die Baugenehmigung schon erteilt sein. Angeblich rücken schon im April die Handwerker an, und es werden sogar bezahlbare Mieten versprochen – was immer das heißen mag.
Offensichtlich haben die HausbesetzerInnen bei der Auswahl ihrer Objekte einen guten Riecher und eine ausnehmend glückliche Hand. Die kann man den zuständigen Behörden der Stadt Stuttgart leider nicht bescheinigen. Wie kommt es, dass trotz der großen Wohnungsnot immer wieder Wohnungen oder ganze Häuser jahrelang leer stehen? „Die Stadt Stuttgart will die Hintergründe des Leerstands herausfinden und Abhilfe schaffen“, heißt es beflissen auf der städtischen Homepage. Dabei wird Eigentümern umfassende Hilfe und Beratung versprochen. Es wird sogar angeboten, städtische MitarbeiterInnen als Mieter zu vermitteln. Besonders fruchtbar scheinen diese Bemühungen bisher nicht gewesen zu sein.
Die Hintergründe des Leerstands sind in den meisten Fällen nicht besonders kompliziert. Sie heißen schlicht Spekulation: Erworbene Wohnimmobilien lassen sich in Stuttgart schon binnen kurzer Zeit mit hohem Gewinn weiterverkaufen – erst recht wenn sie leer stehen. Dazu braucht der Investor keinen Finger zu rühren, sich weder um Mieter noch um einen guten Zustand seines Hauses zu bemühen. Wenn aber doch, wird ausgemostet, was die jeweilige Grundfläche hergibt, und vor dem Verkauf luxussaniert.
Warum pocht die Stadt nicht auf das seit 2016 bestehende Zweckentfremdungsverbot? Sie kann Bußgelder verhängen, wenn Eigentümer Wohnungen länger als ein halbes Jahr leer stehen lassen. Im Grundgesetz steht sogar, dass eine Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ zulässig sei. Doch offensichtlich hat die Stadt mehr Hemmungen, sich mit kapitalträchtigen Immobiliengesellschaften anzulegen als mit verzweifelt Wohnraum suchenden Mietern. Seit 2016 soll zweimal Bußgeld in der Gesamtsumme von 2400 Euro verhängt worden sein. Dafür ist der Begriff „Peanuts“ eine schamlose Übertreibung.
Bei der Zwangsräumung besetzter Wohnungen im Haus eines englischen Investors in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 wurden im Mai vergangenen Jahres zwei junge Familien auf die Straße gesetzt. Sie müssen sich jetzt vor Gericht verantworten. Auch dort wurde während der Besetzung die unmittelbar bevorstehende Renovierung versprochen. Aktuell ist von Bauarbeiten in dem Haus nichts bekannt. Die Wohnungen stehen weiter leer, es soll sogar noch eine hinzugekommen sein.
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