Von Sahra Barkini und Wolfgang Weichert – Stuttgart. Das EU-Parlament verabschiedete am Dienstag, 26. März, die umstrittene EU-Urheberrechtsreform. Dabei wurde am Samstag zuvor europaweit gegen das Vorhaben und für ein freies Internet demonstriert. Doch davon zeigte sich die große Mehrheit der Abgeordneten unbeeindruckt. In Deutschland hatte unter anderem die Piratenpartei zum Protest aufgerufen. Die Enttäuschung der GegnerInnen der Reform ist nun groß. In mehreren Städten gab es bereits am Dienstag Spontandemonstrationen. Weitere Demonstrationen sollen am Mittwoch, 27. März, folgen – auch in Stuttgart.
In Stuttgart startete die Auftaktkundgebung am Samstag, 23. März, am Rotebühlplatz. Er war schon vor Beginn gut gefüllt. Die von den VeranstalterInnen erwartete TeilnehmerInnen-Zahl von 1000 Menschen wurde bei weitem überschritten. Über 10 000 Demonstrierende versammelten sich. Auch in Freiburg und Ulm gab es im Vorfeld der Abstimmung Demonstrationen.
In Stuttgart hatte man anfänglich Schwierigkeiten, die Massen so zu steuern, dass der normale Besucherstrom zur Königstraße, der Haupteinkaufstraße, noch weiter laufen konnte. Der Protest richtete sich hauptsächlich gegen den EU-Abgeordneten Axel Voss (CDU). Er trieb das Gesetz, das bereits von Günther Oettinger auf den Weg gebracht wurde, maßgeblich voran. Die Demonstrantinnen zeigten mit bunten Schildern und dem immer wiederkehrenden Ruf „Wir sind keine Bots“, was sie von Voss und seiner Reform halten.
Überrascht von der Menschenmenge
Voss bezeichnete die GegnerInnen der Reform wahlweise als Bots oder bezahlte DemonstrantInnen – oder er beschimpfte sie als wütenden Mob. Nun kann er einen Abstimmungserfolg feiern. Die Befürworter der Reform halten sie für einen wirksamen Leistungsschutz für Künstler oder Journalisten. Die GegnerInnen betrachten sie als Gefahr für die freie Meinungsäußerung.
In Stuttgart waren sowohl die VeranstalterInnen als auch die Polizei überrascht von der Menschenmenge. Es dauerte einige Minuten, bis die Kundgebung beginnen konnte. Zuerst musste dafür gesorgt werden, dass Zugänge zur U-Bahnhaltestelle und der Königstraße frei blieben.
Piraten ermahnen zur Wachsamkeit
Anja Hirschel, Bundestagskandidatin der Piratenpartei, sagte in ihrer Rede: „Es ist offensichtlich, dass Menschen über die Zukunft des Internets entscheiden, die absolut nicht verstehen, wie das Netz funktioniert. Ausgerechnet diejenigen, für die diese Reform sein soll, bekommen noch weniger als zuvor und müssen gleichzeitig höhere Auflagen umsetzen. Wenn die Vielfalt auf der Strecke bleibt, verarmt die Netzkultur.“ Bei jedem Angriff auf die Grundrechte gelte der Grundsatz: „Erlaube deiner liebsten Regierung nur das, was du auch der am schlimmsten denkbaren Regierung erlauben würdest.“
Michael Schommer von „No Spy“ zog Parallelen zum Brexit. Bei ihm profitierten Murdoch und Co, bei der Urheberrechtsreform profitierten Springer und Co. Er grüßte auch die DemonstrantInnen, die in London gegen den Brexit auf der Straße sind.
„Die Reform zeugt von Arroganz“
Für die Linke sprach Daniel Rutz. Aus seiner Sicht kann Artikel 15 weg. Die ganze Reform spiegele nur die Arroganz und Überheblichkeit von PolitikerInnen wider. Er forderte ein freies Netz der Vielfalt und Solidarität, statt die Meinungsfreiheit anzugreifen.
Wenn für konservative PolitikerInnen nach 20 Jahren das Internet noch immer Neuland sei, dann sollten sie auch nicht über solch eine Reform entscheiden. Wenn PolitikerInnen glauben, dass künstliche Intelligenz wirklich intelligent sei, dann fehle es bei jenen an Intelligenz. Das sagte Alvar Freude, Softwareentwickler, Trainer, Autor und Berater.
Kollision mit Pro-Diesel-Demo vermieden
Bevor der Demozug startete, wurden die TeilnehmerInnen vom Veranstalter darauf hingewiesen, dass sie zügig laufen sollten, damit sie nicht mit der fast zeitgleich mit etwa 400 TeilnehmerInnen am Neckartor startende Pro-Diesel-Demo kollidieren. Mit Sprechchören wie „Wir sind keine Bots“, „Nie wieder CDU“ und „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Freiheit klaut“ schlängelte sich der Demozug vom Rotebühlplatz (Kreuzung Marienstraße/Königstraße) über die Kronprinzstraße, Gymnasiumstraße zur Tübingerstraße in die Eberhardstraße und den Marktplatz bis zum Schillerplatz.
Den vielen schaulustigen PassantInnen, die verwundert und durchweg positiv den Demozug betrachteten, wurde immer wieder zugerufen „Leute, lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein“. Bei der Abschlusskundgebung war der Schillerplatz prall gefüllt. Es gab weitere Redebeiträge – unter anderem von dem Journalisten Peter Welchering. Aus seiner Sicht wird durch diese Reform dem unabhängigen Journalismus die Existenz genommen.
Auch SPD gegen Upload-Filter
Für lauten Applaus sorgte ein Live-Telefonat mit der SPD-Abgeordneten Saskia Esken, da sie verkündete, dass die Bundes-SPD fast geschlossen (1 Gegenstimme) gegen den Uploadfilter eintritt (siehe Video unten).
Man betonte bei der Demonstration, dass man nicht gegen das Urheberrecht sei, sondern nur gegen eine automatische Zensur durch sogenannte Uploadfilter. Außer den Piraten, die den Protest in Stuttgart organisierte haben noch der Chaos Computer Club, die Vereinigung No Spy, die Humanisten, die Jungen Liberalen sowie die Journalisten Peter Welchering und Alvar Freude zur Teilnahme aufgerufen.
Zum Abschluss wurde mit Anja Hirschel als Vorsängerin noch „Die Gedanken sind frei“ angestimmt. Danach löste sich die Demo nach knapp drei Stunden auf.
Viele junge DemonstrantInnen in Ulm
Außer in Stuttgart wurde in Baden-Württemberg auch in Ulm demonstriert. Dort beteiligten sich zirka 1800 Menschen an dem Protest. Eindrücke der Ulmer Demo beschreibt David Dorst (Piratenpartei Ulm) so: „Es ist großartig, so viele junge Leute in Ulm auf der Straße zu sehen, die als UrheberInnen, Contentersteller, Creator – wie man sie alle nennt – mit lustigen und ernsten Plakaten ihrem Unmut Ausdruck verliehen haben. Sie wären von aktuellen Systemen alle gefiltert worden. Alle. Die Gefahr für die Demokratie ist hier tatsächlich greifbar, sie kommt allerdings aus dem Europaparlament.“
2500 Menschen in Freiburg auf der Straße
Auch in Freiburg demonstrierten nach Angaben der „Badischen Zeitung “ 2500 Menschen gegen Uploadfilter. Sie kritisierten ebenfalls die Art, mit den Protesten umzugehen – so hatte die konservative Europäische Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU gehören, zuletzt versucht, die Abstimmung vor die geplanten Proteste am Samstag zu ziehen.
Vielen der Demonstranten ging es weniger um die Befürchtung, ihr Internetkonsum könnte eingeschränkt werden, als um die Meinungsfreiheit. Das Fazit des Demo-Veranstalters Sebastian Müller vom Chaos-Computer-Club: „Das Thema liegt den Menschen am Herzen – durch alle Altersklassen und Parteien hinweg“.
Videos
Weitere Bilder des Tages aus Stuttgart
Weitere Bilder des Tages aus Freiburg
Folge uns!