Von Sandy Uhl – Ulm. Er ist Aktivist, Liedermacher, Poetry Slammer, sein Vater ein ehemaliger Polizist. Thomas Wolf vereint vieles in einer Person. Doch vor allem ist der 57-Jährige das Gesicht der Mahnwache Gundremmingen. Seit dreißig Jahren stehen er und seine MitstreiterInnen sonntags vor dem Kernkraftwerk, um auf die atomaren Risiken aufmerksam zu machen. Ziviler Ungehorsam spielt für ihn dabei eine große Rolle.
Ich treffe mich mit Thomas Wolf am Gründonnerstag in einem kleinen Café in Ulm. Ein sonniger Tag, der Tag des Auftakts für die Ostermärsche in Ulm. Wolf ist Aktivist durch und durch. Wo sich ihm die Gelegenheit bietet, sich zu engagieren, nimmt er sie wahr. Wenn er anfängt zu erzählen, vergeht die Zeit wie im Flug. In einer ungezwungen ehrlichen und beeindruckenden Art spricht er über sein bisheriges Engagement, über Aktionen des zivilen Ungehorsams und über die Zusammenarbeit mit der Polizei.
„Flucht“ nach Berlin
Mit 18 Jahren verweigerte Thomas Wolf den Wehrdienst. Sein Antrag wurde mehrfach abgelehnt. Doch für ihn stand fest: Bevor er zum Bund geht, geht er in den Knast. Sein Vater brachte ihn darauf, dass es die Möglichkeit der „Flucht nach Berlin“ gibt. „Berlin ist cool, dachte ich mir“ – und so verschlug es ihn vom Land in die Großstadt. Drei Jahre lebte er dort. An der Universität studierte er anfangs Mathematik, ein Studium, dass er nach eigenen Worten „erfolgreich abbrach“. In Berlin machte er sein erstes gewaltfreies Training mit und beteiligte sich in der Friedensbewegung an Märschen zu Atomwaffen-Stützpunkten.
Hausdurchsuchung wegen eines Flugblattes
Wolf nahm in Berlin Kontakt zu linken Gruppierungen auf. „Ich wollte unbedingt Menschen im Gefängnis besuchen und interessante Leute kennenlernen“. Eine Gruppierung vermittelte „Knastbetreuungen“. Obwohl er die Leute „etwas paranoid und merkwürdig“ fand – „hier Polizei, da Polizei. Ich habe das damals alles gar nicht geglaubt“ – hinterließ er bei ihnen seine Kontaktdaten. Ein Entschluss mit Folgen.
Der Gruppierung stand eine Durchsuchung ihres Büros bevor. Auf einen Tipp hin beseitigte man rechtzeitig etliche Listen mit Kontaktdaten – bis auf eine, auf der unter anderem der Name Thomas Wolf stand. Unter den über 50 Hausdurchsuchungen, die alle zeitgleich stattfanden, war auch seine Wohnung. „Ich konnte es gar nicht verweigern, die waren einfach mehr, und ich hab’s gar nicht geblickt“, erzählt Wolf auf eine Art, die einen unfreiwillig schmunzeln lässt. „Und das alles wegen eines Flugblatts“, wie er im Nachhinein erfährt.
Der Liebe wegen verlässt Thomas Wolf Berlin und zieht nach Günzburg. 600 Mark Strafe muss er zahlen, da er sich aus dem Geltungsbereich der Wehrerfassung entzogen hat.
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
Am 26. April 1986 kam es zum Reaktorunglück in Tschernobyl. Bis dahin hatte sich Thomas Wolf weder gegen den Bau des AKW Gundremmingen noch sonst gegen Atomkraft engagiert: „Es war einfach raus aus meinem Bewusstsein.“ In den Folgejahren nach Tschernobyl gab es auch in Gundremmingen Demonstrationen gegen Atomkraft. Wolf war bei einer dieser Demos dabei.
Gerüchteweise hatte er gehört, dass auch ein paar Leute zum Zaun am AKW gehen würden. „Damals dachte ich mir, Randale – oh ne! Ich war gerade zwei Jahre aus Berlin zurück und hatte öfters unliebsame Begegnungen mit den Staatskräften gemacht. Ich habe bei den Hausbesetzer-Demos ab und zu mal eins auf die Fresse bekommen, da dachte ich mir, lieber nicht.“
Widerstand ja – aber gewaltfrei
Auf die Mahnwache in Gundremmingen wird Thomas Wolf, bekennender Atheist, erst wieder durch Zeitungsartikel aufmerksam. „Es war von christlich motivierten, jungen Leuten die Rede. Ich dachte mir, das ist nichts für mich. Da muss ich am Ende noch vor dem AKW beten“, erzählt Wolf süffisant. Als Mitglied im damaligen Kreisvorstand der Grünen fühlt er sich jedoch gewissermaßen verpflichtet, die Verbindungen zur Mahnwache aufrecht zu halten. So erfuhr er, dass zum Jahrestag von Hiroshima ein „Die-In“ vor dem AKW Gundremmingen geplant war. 1989 noch Straftatbestand der Nötigung.
Nach der Ankündigung, die Aktion am Nagasaki-Tag zu wiederholen, sperrt die Polizei „vorsichtshalber“ drei oder vier Personen ein, quasi im Rahmen des Unterbindungsgewahrsams. Für Thomas Wolf unvorstellbar. „Seitdem bin ich dabei.“ Er merkt schnell, dass die Menschen genau auf seiner Schiene sind „Widerstand ja, aber gewaltfrei“. Die Polizei sah man nicht als Gegner, auch nicht die Menschen, die im AKW arbeiten, sondern einfach als Menschen. Es war strenger Konsens, der von allen so gewollt war, dass keine Gewalt angewandt wird, auch nicht verbal.
Blockade von Castor-Transporten
Bis Anfang 1998 wurde Atommüll von Gundremmingen in die Wiederaufbereitungsanlage nach La Hague überführt. Bei diesen Castor-Transporten kam es zu regelmäßigen Blockaden am AKW Gundremmingen, an denen sich auch Thomas Wolf beteiligte: „Kein einziger Castor ist unblockiert aus Gundremmingen rausgefahren.“ Wenn der Transport-Waggon zwei Tage unter einer bestimmten Brücke stand, wusste man, dass es am Montag wieder losgeht, berichtet Wolf. Das war immer so, da der Castor bis Freitag in La Hague sein musste.
Mobilisiert wurde per Telefon. Als einen der heißesten Einsätze bezeichnet Thomas Wolf jenen, als 50 BlockiererInnen 3000 PolizistInnen gegenüberstanden. Unterstützt durch drei Polizeihubschrauber und mehrere Wasserwerfer, die nicht zum Einsatz kamen. Einige Jahre habe es gebraucht, bis die Polizei begriffen hat, dass das, was im Aktionskonsens beschlossen wurde – nämlich keine Gewalt gegenüber PolizistInnen – auch so umgesetzt wird.
Symbolisches „Schottern“
Das sogenannte „schottern“ bestand bei der Mahnwache Gundremmingen darin, dass man auf das Gleisbett ging und einen Stein in die Hand nahm: „Dann haben sie dich schon festgenommen“. Genauer gesagt, hob man den Stein auf, stellte die Frage, ob das jetzt reicht und bekam als Antwort „ja, das reicht für einen gefährlichen Eingriff in den Schienenverkehr“. Dann hat man den Stein wieder abgelegt und sich abführen lassen, erzählt Wolf lachend.
Im Gegensatz zu den Castor-Blockaden, die schnell gehen mussten, waren „Schottern“ rein symbolische Aktionen auch gegen die Castor-Transporte. Sie wurden teilweise vorbereitet und waren bewusst als „Straftat“ geplant.
Umgestaltung des Informationszentrums
Eine der nicht angemeldeten Aktionen war die Umgestaltung des Informationszentrums am AKW Gundremmingen. Denn nach Ansicht der Mahnwache Gundremmingen wurden dort nicht die richtigen Informationen vermittelt. Ein Teil der Menschen ging in die Eingangshalle des AKW, die anderen in das Informationszentrum, erzählt Wolf. Es wurden Bilder mit krebskranken Kindern von Tschernobyl und Plakate mit Windrädern aufgehängt.
Zur selben Zeit erhielt man die Info, dass ein LKW mit einem Radioaktivitäts-Zeichen kommt, in dem vermutlich Brennelemente angeliefert würden. Spontan entschloss man sich, die „besetzten“ Gebäude zu verlassen und den LKW zu blockieren. „Wir waren damals mindestens 30 Personen“, berichtet Wolf. Für ihn ein Ermittlungsverfahren mehr in einer Litanei vorgeworfener Taten, in der er irgendwann den Überblick verloren hat. Letztendlich seien jedoch alle Ermittlungen gegen ihn auf unerklärliche Weise ins Leere gelaufen.
Mahnen im Alter
Im Oktober 2010 entschied die Bundesregierung, die Laufzeiten für die AKWs zu verlängern. Der sogenannte Ausstieg aus dem Ausstieg. Natürlich machte man sich daraufhin Gedanken, wie lange man wohl noch mahnen muss und wie alt man dann ist. So kam die Idee auf, ein imaginäres Wohnzimmer vor dem Eingangstor des AKW aufzustellen. Denn man ging davon aus, dass man im hohen Alter während der Mahnwache vermutlich eher sitzt als steht. „Wir waren voll ausgestattet. Auch Kaffee und Kuchen hatten wir dabei.“ Die Möbel wurden nach der Aktion einem guten Zweck gespendet.
Besondere Momente
Viele Aktionen fanden in den 30 Jahren Mahnwache am AKW statt. Von der Reihe „Kunst am Werk“ bis hin zu besinnlichen Mahnwachen. Genauso gibt es jedes Jahr Aktionen an den Jahrestagen zu Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl und Fukushima.
Es gab skurrile und unglaubliche Momente. Nach einer „Schotter-Aktion“ wurden die Beteiligten zur Personenfeststellung auf das Polizeirevier in Günzburg gebracht, erzählt Wolf. Einem der Beamten fiel dann irgendwann ein, dass ja um 15 Uhr die Mahnwache am AKW stattfindet. „Die haben uns tatsächlich mit Polizeibussen zum AKW zurückgefahren, an dem sie uns zuvor abgeführt haben“, fährt Wolf laut lachend fort.
Einer der größten und ergreifendsten Momente war für Thomas Wolf, als am Ostermontag 2011 über 8000 Menschen nach der Katastrophe von Fukushima in Günzburg gegen Atomkraft demonstrierten. Damals war er Mitorganisator. Gerechnet hatte man mit maximal 4000 DemonstrantInnen.
Das AKW ist wie ein Stachel
Thomas Wolf ist nicht nur Atomkraftgegener und Gesicht der Mahnwache Gundremmingen. Er engagiert sich auch gegen Rechts, überzeugt musikalisch als Liedermacher und nimmt Menschen wortgewandt beim Poetry Slam mit. Er steht gern auf Bühnen und bezeichnet sich selbst als Rampensau. Er ist sich sicher, dass er als Künstler mehr Menschen erreicht als bei Demonstrationen oder seinen Mahnwachen.
Auf die Frage, was ihn trotzdem dazu bewegt, seit 30 Jahren beinahe jeden Sonntag am AKW zu stehen, antwortet Wolf: „Es ist wie ein abgebrochener Zahn. Du hast eine scharfe Kante und weißt, dass du dich schneidest, wenn du mit der Zunge drüber gehst. Du kannst es aber nicht sein lassen. Genauso ist es mit dem AKW. Es ist für mich wie ein Stachel. Etwas, was mir eigentlich weh tut, ich kann es aber nicht lassen hinzugehen.“ Nur drei Mal gab es in den 30 Jahren keine Mahnwache am AKW.
Weitermachen bis zum Schluss
Auch wenn Reaktor C des AKW Gundremmingen 2021 vom Netz geht, wird die Mahnwache weitermachen. „Wir werden dann den Rückbau beobachten und auch, was mit dem Atommüll passiert“, so Wolf. „Nicht mehr jeden Sonntag, sondern voraussichtlich nur noch ein Mal im Monat.“ Und auch dann werde der folgende Auszug aus dem Mahnwachen-Text vorgelesen werden:
„Wir denken an die Menschen, deren Leben den Interessen der Atomindustrie geopfert wurden. In den Atomtestgebieten in Kasachstan, China, im Pazifik und Nevada; durch Uranabbau in Kanada, USA, Australien, Südafrika und Sachsen; durch die Wiederaufbereitung in Sellafield und La Hague; durch den Atommüll. Tschernobyl mahnt zur Umkehr. Wie viele werden das Schicksal der Menschen in Weißrußland, der Kinder, der Zwangsarbeiter noch teilen müssen?“
Der Schlusssatz von Thomas Wolf bei unserem Interview bleibt mir im Gedächtnis: „Es gibt keine messbaren oder sichtbaren Erfolge. Trotzdem bin ich mir sicher, dass wir etwas bewirkt haben.“
In unserer Reihe „Dafür stehe ich“ erschienen bisher folgende Beiträge:
Dafür stehe ich: Janka Kluge
Dafür stehe ich: Jochen Gewecke
Dafür stehe ich: Tobias Pflüger
Dafür stehe ich: Bernd Drücke
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