Von Brigitte und Gerhard Brändle –Stuttgart. Seit Januar ist die Ausstellung „NS-Justiz in Stuttgart“ im Landgericht in der Stuttgarter Urbanstraße 20 zu sehen. Sie wurde einer beabsichtigt eingeschränkten Öffentlichkeit von geladenen Gästen nach Einlasskontrolle vorgestellt. Verantwortlich für die Ausstellung und den Katalog ist das „Haus der Geschichte Baden-Württemberg“. Die Lenkungsgruppe, die das Auszustellende festlegte, bestand aus elf Juristen und zwei Nichtjuristen.
Schauplatz der Ausstellungseröffnung war ein Flur im 1. Obergeschoss des Landgerichts Stuttgart. Neben Guido Wolf, dem Minister der Justiz und für Europa des Landes Baden-Württemberg, sprachen weitere wichtige Leute. Nicht zu Wort kamen die anwesenden Töchter und Söhne der französischen Widerstandskämpfer, die die Nazis 1944 im Lichthof des Oberlandesgerichts Stuttgart köpfen ließen.
Zwar wurden die „Kinder“ der Résistance-Kämpfer in Reden genannt. Das Wort wurde ihnen jedoch nicht zugestanden. Eine Berichterstattung über die Veranstaltung am 29. Januar selbst war nicht vorgesehen, ein Pressetermin vorab sollte ausreichen. Die Leitmedien in Stuttgart spielten weitgehend mit – die Wochenzeitung „Kontext“ nicht.
„Menschen, die ihren Namen, ihr Gesicht, ihre Sehnsucht und ihre Hoffnungen hatten“ (Julius Fucik)
Die Missachtung der Nachkommen von Nazi-Gegnern bei der Eröffnung der Ausstellung ist kein Faux-Pas, sondern die konsequente Fortsetzung dessen, was in der Ausstellung selbst beziehungsweise im Katalog zu sehen oder eben nicht zu sehen ist. Von den acht Antifaschisten aus dem Elsass, die die Nazis in Stuttgart geköpft haben, sind im Katalog (ab Seite 102) nur vier genannt.
Nur René Birr hat ein Gesicht, jedoch auf einem Täter-Foto auf einem Dreier-Streifen, obwohl es sehr wohl auch ein anderes – ziviles – Foto gibt. Hinzu kommt: Für alle Ermordeten liegen dem „Haus der Geschichte“ Porträts vor.
Die acht Mitglieder einer Widerstandsgruppe aus Dijon werden im Katalog auf Seite 158 nur erwähnt, um die Geschwindigkeit der serienmäßigen Köpfens zu belegen. Die Menschen, um die es geht, ihr Gesicht, ihre Geschichte, ihre Taten, all das wird nicht berichtet.
Alle Widerstandskämpfer haben in der Ausstellung und im Katalog keine Familie, keine Kinder, sie sind dort keine Gewerkschafter und schon gar nicht Kommunisten, obwohl das alles dokumentiert ist und dem „Haus der Geschichte“ vorliegt. Der Lehrer Eugène Boeglin aus Obermichelbach zum Beispiel wird im Katalog (Seite 105) als „Katholik“ bezeichnet. Weggelassen ist, dass er eben auch Gewerkschafter und Kommunist war.
Widerstand: Flugblätter, Waffen, Sprengstoff, Streiks, Demonstrationen…
Die Entpolitisierung und Individualisierung der Ermordeten als „Opfer“ – so mehr als zehn Mal im Katalog erwähnt – hat System. Die Widerstandskämpfer aus dem Elsass waren keine Einzelkämpfer, sie gehörten zur Résistance-Gruppe „Wodli“, ebenso der auf den Stelen genannte Georg Victor Kunz – nur erfährt das niemand.
Die Eisenbahner aus Dijon waren in ein Netzwerk von Widerstandsgruppen der kommunistischen Partei eingebunden, das mit dem britischen Geheimdienst zusammenarbeitete und von diesem Waffen und Sprengstoff erhielt. Gegen ihre Verurteilung gab es Streiks der Gewerkschaft der Eisenbahner, gab es Demonstrationen in den Straßen von Dijon – nur soll niemand erfahren, dass es organisierten Widerstand gegen die Nazis gab.
Paolo Rossi und André Rouesné aus der Gegend aus der Region Nantes waren in der Résistance, organisiert in der kommunistischen Partei beziehungsweise bei den FTP (Francs-Tireurs et Partisans). Marcel Weinum, geboren 1924, war die treibende Kraft der Widerstandsgruppe „Schwarze Hand“ in Strasbourg, bestehend aus Jugendlichen, von denen 26 in die Hände der Gestapo gerieten.
Kein Mensch kommt auf die Idee, Georg Elser, Lilo Herrmann, die Geschwister Scholl oder Claus von Stauffenberg als „Opfer der NS-Justiz“ zu bezeichnen. Sie waren und sind im kollektiven Gedächtnis WiderstandskämpferInnen. Die bei den Genannten nicht denkbare Umwertung von aktiv Handelnden, von Subjekten der Geschichte, zu passiv Leidenden, zu Objekten, zu bloßen „Opfern“, das wird den oben genannten Nazi-Gegnern aus Frankreich angetan, die hier, im Land der Täter, keine Lobby haben.
Die Macht der Bilder
28 der 31 in Kurzbiografien vorgestellten Nazi-Richter sind mit einem Foto vorgestellt. Wer sind die Menschen, die sie „verurteilt“ haben? 25 der 26 genannten Angehörigen der Résistance haben keine Biografie und schon gar kein Bild. Das einzige Bild ist ein Täter-Foto, ein Dreier-Streifen der Staatspolizeistelle Stuttgart – obwohl die Verantwortlichen für die Ausstellung nicht nur von René Birr, sondern auch von den anderen Widerstandskämpfern andere – zivile – Bilder haben.
Nur fünf der 19 Mitglieder der Lechleiter-Gruppe aus Mannheim/Heidelberg haben eine Kurzbiografie mit Bild erhalten (ab Seite 95). „Delikt“: „ungesetzliche, strafbare Handlung, Straftat“ (Duden) Es bleiben die Namen auf den Stelen vor dem Landgericht, die Teil der Ausstellung sind: Dort sind die französischen Résistance-Kämpfer und die Mitglieder der Lechleiter-Gruppe unter dem Datum ihrer Ermordung aufgeführt: Immerhin haben sie dort einen Beruf, doch heißt es als Grund für ihre Ermordung „politisches Delikt“, ein laut Katalog Seite 138 „neutraler Begriff“.
Mit der vorgeblich „neutralen“ Formulierung übernehmen die Verantwortlichen der Ausstellung jedoch die Diktion der Justiz: „Delikt“ bleibt auch 2019 „Delikt“, also eine Straftat wie ebenfalls aufgeführt „Sexualdelikt“ oder „Wirtschaftsdelikt“ – siehe Katalog ab Seite 143. Eine Kennzeichnung der Taten von Claus von Stauffenberg, der Mitglieder der Weißen Rose, von Lilo Herrmann oder von Georg Elser als „politisches Delikt“ ist zurecht undenkbar. Der korrekte Begriff zur Kennzeichnung der Nazi-Gegner aus Frankreich steht im Katalog auf Seite 105 ganz unten: „Résistance“.
André Perreau (links) und Roger Stoessel sprechen am 7.3.2019 im Haus der Geschichte in Stuttgart über ihre Väter Maxime und Marcel (jeweils auf dem Plakat vorne) und deren Tätigkeit in der Résistance in Dijon bzw. im Elsass – Fotos: Brändle
In einer nachholenden Veranstaltung am 7. März 2019 im „Haus der Geschichte“ in Stuttgart kamen dann immerhin mit André Perreau und Roger Stoessel zwei Söhne der Résistance-Kämpfer zu Wort: Nur sie sagten die bis dahin von den Verantwortlichen für die Ausstellung peinlich vermiedenen Wörter wie „Arbeiter“, Gewerkschafter“, Arbeiterklasse“, Résistance“ und „Solidarität“. Nur sie sprachen über die Frauen der Ermordeten, also über ihre Mütter, über Waffen, Explosivstoffe, Pläne für und tatsächliche Anschläge auf die Infrastruktur von Wehrmachtstransporten. „Steht noch dahin“ (Marie Luise Kaschnitz), ob die Reden der Söhne der Widerstandskämpfer über ihre Väter irgendwo zu finden sein werden im „Haus der Geschichte“.
„work in progress“
Der Journalist Oliver Stenzel vom „Kontext“ regte an, das Ausstellungsprojekt durch Hinzufügung weiterer Dokumente „als work in progress zu betrachten“. Vielleicht richtet das „Haus der Geschichte“ einen Fundus ein für all das, was in der Ausstellung und im Katalog fehlt, auf den dann Interessierte und zukünftig Forschende zugreifen können:
– die letzten Briefe von René Birr, Maxime Perreau, Auguste Sontag und Marcel Stoessel als Faksimiles und in Übersetzung
– Fotos der Résistance-Kämpfer aus Dijon und dem Elsass, auch solche aus dem privaten Bereich, mit kurzen Biografien, so wie es für immerhin vier Mitglieder der Lechleitergruppe im Katalog ab Seite 95 schon geschehen ist
– das „Vollzugsheft“ für die Gruppe aus Dijon, das – aus der Sicht der Täter – den Vorgang von der Verhaftung in Dijon bis zur Ablieferung der Leichen in die Anatomie in Heidelberg dokumentiert
– die beiden „Urteile“ gegen die Gruppe aus dem Elsass
– Fotos und Biografien der Resistance-KämpferInnen Olga Bancic, Albert Buhl (fälschlicherweise Bühl), Georg Victor Kunz, Paolo Rossi, André Rouesné und Marcel Weinum. Lexikon-Einträge sind vorhanden, es fehlt zum Teil noch die Übersetzung
– Fotos und Biografien der 14 weiteren Mitglieder der Lechleiter-Gruppe aus Mannheim und Heidelberg, Sozialdemokraten und Kommunisten
– Fotos und Biografien von Max Prinz zu Hohenlohe-Langenburg, Anton Mattes und Andreas Wössner.
Wir stellen gerne unsere Unterlagen bezüglich der Widerstandskämpfer aus Frankreich zur Verfügung. Hoffentlich finden sich Menschen, die mithelfen, den anderen in Stuttgart geköpften Nazi-Gegnern ein Gesicht und eine Lebensgeschichte zu geben. Eine interaktive Datenbank, zugänglich durch einen QR-Code auf den Stelen, wäre ein hilfreiches Instrument für junge Menschen und Forschende.
„Was damals rechtens war…“ (Hans Filbinger, ehemaliger Ministerpräsident in Baden-Württemberg)
Trotz alledem, was nicht so stehenbleiben muss, ist die Ausstellung sehenswert: Sie dokumentiert mit Bildern und Biografien zum ersten Mal die Schicksale von 73 jüdischen Juristinnen und Juristen aus dem Landgerichtsbezirk Stuttgart nach 1933. Sie erhielten Berufsverbot, 50 konnten rechtzeitig fliehen, zwei flüchteten vor der Deportation in den Tod, 13 ermordeten die Nazis in Konzentrationslagern.
Es gab keine echte Entnazifizierung
Eine Reihe von erschreckenden Beispielen verdeutlicht die Radikalisierung des Unrechtsregimes der NS-Justiz: Für Eigentums-, Wirtschafts-, Gewalt- und Sexualdelikte verhängten die Richter die Todesstrafe, wenn „das gesunde Volksempfinden“, die „allgemeine Abschreckung“ oder der „Schutz der Volksgemeinschaft“ dies angeblich erforderten. 60 Prozent der Todesurteile des Sondergerichts Stuttgart betrafen Eigentums- und Wirtschafts-Delikte.
Der letzte Teil der Ausstellung beleuchtet den Umgang mit den Tätern der NS-Justiz nach 1945. Dort ist dokumentiert, wie es „gelang“, dass niemand aus der Stuttgarter Justiz, der an Unrechts- beziehungsweise Todesurteilen beteiligt war, tatsächlich belangt wurde. Zwar spät, aber immerhin wird klargestellt, dass eine wirkliche Entnazifizierung nicht stattgefunden hat, dass kaum ein Täter von der Karriereleiter stürzte.
Die meisten Täter ohne Blut an den Händen beendeten ihre Berufslaufbahn in der Justiz: einer als Staatsanwalt, zwei wurden Oberstaatsanwälte, einer Landgerichtsdirektor, zwei schafften es zu Senatspräsidenten, je einer endete als Amtsgerichtsdirektor, Regierungsdirektor, Ministerialbeamter im Justizministerium, Oberamtsrichter, Oberlandesgerichtsrat, Richter am Bundessozialgericht; nur einer blieb als geschäftsführender Vorsitzender der NPD in Baden-Württemberg offen bei der Sache.
Hinweis:
Dauerausstellung „NS-Justiz in Stuttgart„, Landgericht Stuttgart, Urbanstr. 20, 70182 Stuttgart, Vorplatz und 1. Obergeschoss, Mo-Fr 9-18 Uhr, Eintritt frei. Anmeldung für Führungen: besucherdienst@hdgbw.de Tel. 0711 212 39 89.
Ausstellungskatalog: 228 S., 20 Euro, erhältlich an der Pforte des Landgerichts oder zu bestellen per E-Mail: besucherdienst@hdgbw.de
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