Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. Etwa 5000 TeilnehmerInnen bei der DGB-Demo und Kundgebung unter dem Motto „Europa – jetzt aber richtig!“ auf dem Marktplatz, 1200 nach unserer Zählung im Anschluss bei der Revolutionären Demonstration: Der 1. Mai 2019 in Stuttgart, geprägt von strahlendem Frühlingswetter, war ein Erfolg für Gewerkschaften und ihnen politisch nahestehende Kräfte. Doch es gab eine unnötige Eskalation. Sie führte dazu, dass die Demo-Sanitätsgruppe Südwest 27 PatientInnen versorgen musste – die meisten verletzt durch Pfefferspray. Auch eine Polizistin wurde verletzt, als sie eine von Kollegen beiseite geworfene Fahnenstange abbekommen haben soll.
- Antikapitalistischer Block auf der DGB-Demo
- Spitze der Revolutionären 1. Mai-Demo
An sich war die Revolutionäre 1. Mai-Demo am Mittwoch in entspannter Atmosphäre vom Karlsplatz über den Rotebühlpatz und den Marienplatz in Richtung Erwin-Schöttle-Platz gezogen. Sie wurde zwar von der Reiterstaffel der Polizei und einer großen Zahl weiterer Beamter begleitet. Doch die PolizistInnen hielten sich in einigem Abstand, scherzten und plauderten entspannt nebenher.
Einigen Aufruhr gab es nur kurz beim DGB-Haus. Dort sammelte sich eine Gruppe von Fahrzeugen mit Blaulicht, als eine neue Gruppe Demonstrierender auf den Plan trat. Es handelte sich um eine Abordnung aus Waiblingen, wo die Kundgebung zum 1. Mai schon beendet war. Offensichtlich hatte die Polizei die Ankömmlinge jedoch zunächst nicht zuordnen können. Als sie sich eingereiht hatten, zog die Demonstration weiter.
Von einer Einkesselung, wie in den vergangenen Jahren immer von der Polizei praktiziert, war dieses Mal keine Rede. Die Einsatzleitung reagierte auch nicht auf die bunten Rauchwolken, die während des Marschs durch die Stuttgarter Innenstadt gelegentlich aus den Reihen der Demonstrierenden quollen.
Spurt in der Silberburgstraße mit Folgen
Zu dem Zwischenfall, auf den die mit Abstand meisten Verletzungen zurück gingen, kam es in der Silberburgstraße. Dort ließ sich die Spitze des Demo-Zugs ein Stück hinter die vorausfahrenden Polizeifahrzeuge zurückfallen, um unter dem Motto „Wir demonstrieren, wie wir wollen, gegen Überwachung und Kontrollen“ loszurennen.
Die Demonstrierenden stoppten vor den Beamten des Anti-Konfliktteams der Polizei, die sich zwischen Einsatzkräfte und TeilnehmerInnen gestellt hatten. Dabei wurde ein Beamter umgerannt. Er hatte wohl den Schub unterschätzt, der sich in einem solchen Demozug von hinten entwickelt. Der Mann blieb unverletzt, bekamt aber nach eigenen Angaben auf dem Boden liegend Tritte ab.
Vier chirurgische Verletzungen
Als die Polizei den Demo-Zug daraufhin mit Schlagstock und Pfefferspray am Weiterziehen hinderte, wurde auch Pyrotechnik gezündet. In dieser Situation kam es zu den Verletzungen, von denen die DemosanitäterInnen berichten. Neben den Folgen des Einsatzes von Pfefferspray gab es in vier Fällen chirurgische Verletzungen. Eine Person wurde an den Rettungsdienst übergeben und in die Klinik gebracht. Zwei Personen betreuten die DemosanitäterInnen aus psychischen Gründen.
Die Polizei schreibt in ihrem Bericht, die DemoteilnehmerInnen hätten die vorausgehenden Einsatzkräfte überrennen wollen und Antikonflikt-Beamte angegriffen. Das widerspricht jedoch absolut unseren Beobachtungen. Nach unserem Eindruck handelte es sich eher um ein Versehen von beiden Seiten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei demonstrativ auf Deeskalation gesetzt.
Frauengruppe stoppt DGB-Demo
Die DGB-Demo hatte am Vormittag auf dem Marienplatz begonnen. Nach dem Aufstellen setzte sich der Demo-Zug in Bewegung. Er wurde von der Trommelgruppe „Banda Maracatú“ angeführt. Gleich dahinter kam das Front-Transparent, das von führenden Gewerkschaftsvertretern wie Philipp Vollrath, dem Vorsitzenden des Stuttgarter DGB-Stadtverbands, aber auch dem Bundesvorsitzenden der Linken und früheren Verdi-Bezirkssekretär Bernd Riexinger gehalten wurde.
Schon nach wenigen Metern stoppte die Demonstration. Eine Frauengruppe hatte eine Aktion mit kurzen Redebeiträgen, Plakaten und Transpartenen vorbereitet. Ihr Motto: „Frauen streiken international, gegen Faschismus, Krieg und Kapital“. Frauen wollten nicht als Lohndrückerinnen verwendet werden, sondern in einer Welt leben, in der Frauen und Männer gleiche Möglichkeiten haben.
„Bei jeder Schweinerei ist die BRD dabei“
Neben vielen gewerkschaftlichen Organisationen hatte sich auch ein Antikapitalistischer Block in den Demozug eingereiht. „Siemens, Daimler, Deutsche Bank, der Hauptfeind steht im eignen Land“, war immer wieder zu hören, ebenso Parolen wie „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ oder „Schluss mit dem Konstrukt von Volk Nation und Rasse – für uns gibt’s nur eins – Klasse gegen Klasse“. Die weiteren häufig gehörten Sprechchöre: „AfD, Partei des Kapitals, faschistisch, sexistisch, neoliberal“ oder „Irak, Iran, Syrien Türkei, bei jeder Schweinerei ist die BRD dabei.
Über den Charlottenplatz führte der Weg zum Marktplatz, wo es auch Musik und Bewirtung gab. Bei der DGB-Kundgebung sprachen neben Philipp Vollrath auch der Vorsitzende der NGG (Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten) Guido Zeitler und von Ilka Hoffmann vom GEW-Hauptvorstand.
- Philipp Vollrath, DGB
- Guido Zeitler, NGG
- Ilka Hoffmann, GEW
DGB zieht positive Bilanz
Landesweit gab es am 1.Mai 40 DGB-Kundgebungen zum Tag der Arbeit. Sie standen unter dem Motto „Europa. Jetzt aber richtig!“ Es ging darum, für eine soziale, gerechte und solidarische EU zu werben. Nach DGB-Angaben beteiligten sich in Baden-Württemberg 28 600 Menschen an den Mai-Kundgebungen (bundesweit fast 382 000). Bei der Hauptkundgebung in Karlsruhe mit etwa 2000 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sprach der DGB-Landesvorsitzende Martin Kunzmann. Die 1. Mai-Demonstration in Stuttgart war die größte im Land.
Während auf dem Stuttgarter Marktplatz noch gesprochen wurde, stellte sich auf dem Karlsplatz die Revolutionäre Demonstration unter dem Motto „Kapitalismus hat keine Zukunft. Protest, Widerstand, Revolution“ auf. Zum Auftakt und während der Demonstration gab es immer wieder Reden vom Lautsprecherwagen – etwa vom Offenen Treffen gegen Krieg und Militarisierung OTKM, der Initiative Klassenkampf, von Zusammen kämpfen, der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU, der Frauengruppe Stuttgart oder des Libertären Bündnisses Ludwigsburg LB-Quadrat.
Entlassungen trotz Rekordgewinnen
Die kapitalistischen Verhältnisse produzierten Armut, Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung, sagte der Sprecher von Zusammen kämpfen. Als aktuelle Probleme nannte er die erstarkende Rechte, rassistische Hetze, Wohnungsnot, die Explosion der Mieten, Kriege, die Zerstörung der Umwelt, eine sich zuspitzende globale politische Situation und die verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
Wie auf dem Rücken der Bevölkerung Profite maximiert würden, zeige sich aktuell auch in Stuttgart. So entlasse Daimler befristet Beschäftigte trotz eines Gewinns von 7 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Auch bei Bosch sei trotz eines Rekordgewinns von 5 Milliarden Euro ein harter Sparkurs ausgerufen worden.
Immer mehr Macht für die Polizei
Während der Demonstration wurde innerhalb des Zuges immer wieder auch Pyrotechnik gezündet. Die Polizei, obwohl die ganze Zeit mit starken Einsatzkräften bereit, störte sich meist nicht weiter daran. Abgesehen von dem Zwischenfall in der Silberburgstraße, den einige Demo-Redner als gezielte Eskalation und Akt der Unterdrückung betrachteten, blieb die Situation entspannt.
Bei einer Zwischenkundgebung auf dem Marienplatz wurde in einer Rede die Aufrüstung der Polizei thematisiert. „Den Rechtsruck zurückschlagen, den Kapitalismus überwinden“ – mit dieser Forderung schloss die Rednerin von der Antifaschistischen Aktion Aufbau.
Polizei zieht sich nach Schlusskundgebung zurück
Durch die Filder- und die Böheimstraße ging es weiter in Richtung Erwin-Schöttle-Platz. Die DemonstrantInnen legten noch einmal einen Spurt ein. Die Beamten des Anti-Konflikt-Teams brachten sich in Sicherheit, es gab keine weitere Eskalation. Als die Versammlung nach der Schlusskundgebung mit einem Redebeitrag der Revolutionären Aktion Stuttgart aufgelöst wurde, zog sich die Polizei – anders als in den Vorjahren – mit ihren Fahrzeugen und Einsatzkräften zurück.
So konnten die Demo-TeilnehmerInnen unbehelligt und ohne Zwischenfälle zum 1. Mai-Fest im und am Linken Zentrum Lilo Herrmann oder ins Stadtteilzentrum Gasparitsch ziehen. Dort spielte beim Straßenfest unter anderem der Stuttgarter Liedermacher Tobias Dellit.
Siehe auch „Revolutionärer Block am 1. Mai“ mit mehreren Demo-Aufrufen im Wortlaut.
Videos
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