Von Sahra Barkini – Stuttgart. Eine Woche vor der Europawahl gab es europaweit am 19. Mai Demonstrationen unter dem Motto „Ein Europa für Alle – Gegen Nationalismus“. In Deutschland wurde unter anderem in Berlin, Frankfurt, München, Hamburg und Stuttgart demonstriert. Insgesamt waren circa 150 000 Menschen auf den Straßen der Republik unterwegs, um ihre Stimmen gegen Nationalismus zu erheben. Aufgerufen hatte ein breites Bündnis aus 400 verschiedenen Organisationen und Parteien. Unter anderem Attac, Campact und die Naturfreunde. In Stuttgart startete die Auftaktkundgebung vor dem Hauptbahnhof.
Die Stuttgarter Demonstration wurde unter anderem unterstützt vom DGB Stuttgart, von Mehr Demokratie BW, dem Forum der Kulturen Stuttgart, den Anstiftern, Verdi, 100% Mensch und dem U&D (Umsonst und Draußen-Festival).
Die ModeratorInnen waren Barbara Stoll und Peter Grohmann (die Anstifter). Bereits vor dem offiziellen Start war die Schillerstraße gut gefüllt. Menschen mit bunten Fahnen, Schildern und Transparenten tummelten sich an den Infoständen. Jung und Alt zeigten: „Wir lassen uns Europa nicht von den Nationalisten kaputt machen“.
Die Kundgebung begann mit einen Grußwort des Stuttgarter Oberbürgermeisters Fritz Kuhn. Er sagte, dass sich Stuttgart als eine europäische und internationale Stadt verstehe. Und dabei Städtepartnerschaften ein wichtiger Teil seien: „Europa wird nicht von den Eliten, sondern von den Bürgern geformt.“ Wegen des momentanen Wahlkampfes könne er aus Gründen der Neutralität seine eigene Meinung nicht sagen, werde dies aber noch nachholen.
Weitere RednerInnen waren Regina Schmitz-Kühner von den NaturFreunden, Damian Ludwig von Campact, Martin Kunzmann vom DGB und Sarah Händel von „Mehr Demokratie“. Sie forderte, dass die EU sich öffne und die Zivilgesellschaft die Möglichkeit hat, Europa mitzugestalten. Die aktuellen Machtstrukturen der EU seien durchsetzt von nationalen Egoismen und nicht darauf aus, das Beste für die Menschen in Europa zu tun. Weiter sagte sie: „Es ist Zeit sich grundsätzlich einmal Gedanken zu machen, wie eine EU eigentlich aufgebaut sein muss, um die vielen drängenden Probleme unserer Zeit wirklich angehen zu können. Wir glauben, wenn wir die EU zusammen mit den BürgerInnen neu erfinden, wird sie transparenter, demokratischer, bürgernäher, dezentraler, klarer strukturiert und handlungsfähiger sein“. Zum Abschluss ihrer Rede sagte sie: „Lasst uns heute diese neue EU einfordern, denn wir brauchen sie noch für die Zukunft“.
Für die musikalische Untermalung der Kundgebung sorgte unter anderem Rainer von Vielen und das Orchester vom „Forum der Kulturen“ „Ziryab“. In einem waren sich alle RednerInnen des Tages einig: Die Wahl am Sonntag ist wichtig, und die Stimme sollte genutzt werden.
Erinnern an das Sterben im Mittelmeer
Für Verwunderung, Skepsis aber auch reichlich Zustimmung unter den KundgebungsteilnehmerInnen sorgte ein Flashmob des OTKM (Offenes Treffen gegen Krieg und Militarisierung). Die AktivistInnen zogen symbolisch eine Mauer durch die Kundgebungsmenge. Diese sollte augenscheinlich die Festung Europas symbolisieren. Auf Plakaten war zu lesen: „Gegen ein Europa der Banken und Konzerne“, „Jeden Tag 6 Tote im Mittelmeer“ und „Das Problem heißt Kapitalismus“.
Zur Verdeutlichung des Sterbens vor der Festung Europas legten sich einige AktivistInnen mit Tüchern, die mit roten Farbflecken versehen waren, auf den Boden. Unter den umstehenden KundgebungsteilnehmerInnen sorgte dies für rege Diskussionen und stieß sowohl auf Verständnis als auch auf Unverständnis. Von einigen war zu hören: „Diese Aktion gehöre nicht hier her, es stört“. Eine Besucherin der Kundgebung sagte: „Genau solch eine Aktion ist wichtiger als all die Sonntagsreden auf der Bühne“.
Auf einem Flyer der AktivistInnen war zu lesen: „EU? Kein Friedensprojekt! EU-Kritik? Unerwünscht! Gerade im Vorfeld der Wahlen wird von vielen die Alternativlosigkeit der EU verkündet. Doch eine EU der Banken und Konzerne, des Sozialabbaus und Spardiktate, der Abschottung und Militarisierung ist nicht unsere EU. Unabhängigkeit von jedem Wahlergebnis ist die EU im Kern undemokratisch und ein Instrument kapitalistische Ausbeutung.“
Von der Bühne wurde zwar der OTKM Flashmob angesagt, aber als die AktivistInnen ein paar Worte durchs Megafon sagen wollten, schritten die Ordner der Kundgebung ein, und von der Bühne ertönte laute Musik (siehe Video).
Starker Auftritt der Seebrücke
Gegen 14.45 Uhr setzte sich der Demonstrationszug mit etwa 12 000 TeilnehmerInnen in Bewegung. Die Route führte vom Arnulf-Klett-Platz über die Konrad-Adenauer-Straße zur Hauptstätterstraße über den Rotebühlplatz zur Theodor Heuss-Straße über die Friedrichsstraße zurück zum Arnulf-Klett-Platz.
Der einzige mitfahrende Lautsprecherwagen der Demonstration, war von der Seebrücke Reutlingen-Tübingen. Auf ihm fuhren nicht nur die zwei Kapitäne Thomas Nuding (Sea-Eye und Lifeline) und Friedhold Ulonska (Sea-Watch 3), sondern auch Toba Borke und Pheel sowie Mal Élevé (der ehemalige Sänger von Irie Révoltés).
Mal Élevé performte seinen Song „Mittelmeer“ und sorgte mit dem Freestyle Rapper Toba Borke und dem Beatboxer Pheel für gute und laute Stimmung im Block der Seebrücke. Die Stimmung schwappte immer wieder auf PassantInnen über, die sich dann in die Demonstration einreihten. Sogar von den im Stau stehenden Autofahrern kamen sehr viele positive Reaktionen.
„Die Menschenwürde im Mittelmeer ertränkt“
Der Kapitän Thomas Nuding berichtete, er war bereits viermal auf der Sea-Eye und rettete, mit seinen Crews, über 3000 Menschen vor dem Tod. Er war 2018 auf der Lifeline als „Head of Mission“ jener Mission die zur Gründung der „Seebrücke Initiativen“ führte. Er kritisierte, dass die deutsche Regierung zwar zur Feier des Grundgesetzes dieses lobt, sich aber nicht daran hält. Keiner der FestrednerInnen hob Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes hervor, aber die Regierung halte sich auch nicht dran. Denn sowohl Artikel 1 und 2 wurden an die Libysche Küstenwache verkauft und im Mittelmeer ertränkt und ersäuft.
Die europäische Menschenrechtskonvention, so Nuding, sei bei den meisten europäischen Regierungen nichts mehr wert. Als Beispiel nennt er Salvini, Orban, die niederländischen Populisten oder die Regierung von Malta. Sie und viele weitere unterstützen die libysche Küstenwache oder machen die Häfen dicht.
Er kritisiert die Drohungen gegen die NGOs, gegen gelebten Humanismus. Und sagt: „Die Kriminalisierung der Menschen, die die Werte von Europa noch hochhalten, lässt nur einen Schluss zu: Unsere Regierungen und Rechtspopulisten wie die AfD sprechen ein und die selbe Sprache. Sie wollen eine Mauer um Europa errichten. Die AfD aus verblendetem Fremdenhass, CDU/CSU und die SPD aus Gründen des Wählerstimmen Fangs am rechten Rand unserer Gesellschaft. Freunde, das alles will die Mehrheit der Europäer nicht“.
Die Festung Europa wird dicht gemacht
Der Kapitän der Sea-Watch 3 Friedhold Ulonska sagte: „Wir können und wollen es nicht ertragen, dass wir diese Menschen sterben lassen sollen, deshalb fahren wir ihnen mit unseren Schiffen entgegen, heißen sie an Bord willkommen und bringen sie an einen sicheren Ort“. Er kritisierte, dass Europa „dicht“ macht. Niemand solle über die Festung und Mauern Europas klettern können. Zu Europas Abwehrtaktik gehört das Unterbinden der Seenotrettung.
Besonders seit Sommer 2018 behindern Europas Staaten die Seenotrettung. In die Häfen Italiens und Malta darf nicht einmal mehr zum Tanken eingefahren werden. Es werden immer neue Gründe vorgeschoben, warum Schiffe am Auslaufen gehindert werden. Es soll verhindert werden in See zu stechen. Es soll verhindert werden das Menschen gerettet werden. Die Sea-Watch 3 versuche mit den momentan 65, sich an Bord befindlichen, Menschen auf Lampedusa anzulegen. Salvini schäumt vor Wut und droht damit, das Schiff zu beschlagnahmen und die Crew zu verhaften. Dies sei Europa eine Woche vor der Wahl.
Auf der Abschlusskundgebung, die wieder auf dem Arnulf-Klett-Platz stattfand, sprachen unter anderem noch Yvonne Sauter von „Fridays for future“. Außerdem Julian Pahlke von „Jugend rettet“ und Sara Alteria vom „Forum der Kulturen“. Für den musikalischen Ausklang dieses Demo Tages sorgten Toba & Pheel sowie das Projekt 100% Mensch mit dem Song „Wir sind eins“.
Die Rede von Martin Kunzmann, DGB im Wortlaut:
„Liebe Europäerinnen und Europäer, liebe Afrikanerinnen und Afrikaner herzlich Willkommen. Das geeinte Europa ist und bleibt eines der größten Friedensprojekte. Das muss aber auch heißen mit europäischer Unterstützung dürften überhaupt keine Kriege geführt werden. Und ich sage nirgendwo! Waffenexporte in Kriegs-und Bürgerkriegsgebiete müssen gestoppt werden. Eine militärische Politik kann niemals friedenssichernd sein. Es war ein langer Weg zu einem vereinten Europa in dem wir Menschen miteinander arbeiten, leben und feiern. Und Stuttgart ist in diesem Sinne eine europäische Hauptstadt, sehr verehrte Damen und Herren.
Europa ist nicht in bester Verfassung. Immer noch kämpfen Mitgliedstaaten mit den Spätfolgen der Finanzkrise. Nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern skandalös hoch, vor allem bei der Jugend. Weder bei der Migrationsfrage noch bei der Transformationssteuer sind Lösungen in Sicht. Von der Brexit-Komödie ganz zu schweigen. Und dennoch, die richtige Antwort auf die Defizite heißen nicht weg mit Europa – sondern die richtige Antwort heißt für ein besseres Europa. Ein Europa das sich als offener Kontinent der Humanität und der Solidarität präsentiert. Ein Europa das „Nein“ sagt zu Populismus, Rassismus und Demokratieverachtung. Sorgen wir am 26. Mai dafür, dass überzeugte Europäerinnen und Europäer gewählt werden und keine nationalistischen Maulhelden wie Meuthen und Co. Wir brauchen starke Europäerinnen und Europäer und keine Deutschtümmler.
Wer auf der Flamme von Bürgerwut und Zukunftsängsten seine braune Suppe kocht, der meint es nicht gut mit unserem Land. Nationalistische Borniertheit kann es nur in den Abgrund führen. Afdler kandidieren für das Europaparlament mit der Ansage, dass sie es abschaffen wollen. Die AfD will zurück zur D-Mark. Während wir als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für Mindestlohn, Bildung und gute Arbeitsplätze kämpfen, hetzen Rechtspopulisten gegen Flüchtlinge und Nichtdeutsche. Glaubt den irgendjemand, dass Flüchtlinge fairen Löhnen, sicheren Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit im Weg stehen? Oder das wir Steuerflucht, explodierende Mieten und hohe Managergehälter in den Griff bekommen, wenn wir die Grenzen schließen und die Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen? Nein! Nein! Und nochmals Nein!
Heute brauchen wir ein starkes Europa. Kein Mitgliedstaat der europäischen Union kann die großen Herausforderungen unserer Zeit alleine stemmen. Egal ob Digitalisierung, Globalisierung, Migration oder Klimaschutz, ein starkes Europa bedeutet für uns ein Europa, in das die Menschen wieder vertrauen, weil es für sie da ist. Wir wollen ein soziales Europa das den Menschen Sicherheit bietet. Das geht nur mit besseren und guten Arbeitsbedingungen. Hier brauchen alle EU-Länder ein soziales Netz, das Menschen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit auffängt. Das Dogma der schwarzen Null muss weg in Europa. Wir brauchen starke Investitionen in Forschung, Bildung und Wohnungsbau. Wir brauchen eine gemeinsame Steuerpolitik. Steuerschlupflöcher müssen endlich gestopft werden. Nur ein solidarisches Europa kann krisenfest sein.
Europa wird eine gute Zukunft haben, wenn wir unsere Werte Frieden, Demokratie, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Freiheit verteidigen und uns für Völkerverständigung, gute Arbeit, Gleichberechtigung, Umweltschutz und Klimaschutz einsetzen.
Ich kann nur alle Bürgerinnen und Bürger aufrufen, nutzt die Wahl am Sonntag, gebt eure Stimme für ein geeintes Europa, für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, für unser Europa“.
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