Von Sahra Barkini – Ludwigsburg. Grüne Wiesen, Berge, Kühe – ein Idyll, so stellt man sich das Allgäu vor. Die Realität ist jedoch eine andere. Im beschaulichen Allgäu gibt es eine festverankerte Naziszene, die oft geduldet oder ignoriert wird. Darüber berichtete Sebastian Lipp von „Allgäu rechtsaußen“ am Donnerstag, 13. Juni, im DemoZ in Ludwigsburg.
Vor rund 25 Interessierten sprach Lipp über die Entstehungsgeschichte, Strukturen und Verflechtungen von Voice of Anger. Er und sein Rechercheteam befassen sich seit Jahren mit der rechten Szene im Allgäu und gründeten im September 2017 „Allgäu – rechtsaußen“. Das Augenmerk liegt auf Voice of Anger, eine der größten Nazistrukturen und die größte Nazikameradschaft, die es derzeit in Bayern gibt. Ihre Aktivitäten fokusieren sich auf den Raum Memmingen.
Halbherzige Verbote
Zu Beginn des etwa einstündigen Vortrags sprach Lipp über die Entstehungsgeschichte von Voice of Anger, die bis in die Mitte der 90-iger Jahre zurückreicht. Damals gründete sich der Vorläufer „Skinheads Allgäu 88“, eine Vereinigung, die 1996 vom bayerischen Innenministerium verboten wurde. Von 1996 bis 2000 folgte dann „Skinheads Schwaben“. Um einem erneuten Verbot zu entgehen, gründete man Anfang 2000 „White Power Schwaben“, die sich 2006 aufgrund eines Verfahrens nach § 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) auflösten.
Die verbliebenen Mitglieder wechselten zum bereits 2002 gegründeten Voice-of-Anger- Netzwerk. Dieses ist bis heute aktiv. Die Gruppierung müsste ebenfalls einem Verbot unterliegen, da sie sich aus einem verbotenen Netzwerk gründete, dem ebenfalls ein Verfahren nach § 129 StGB anhängig war.
Der nette Neonazi von nebenan
Laut Lipp sind die Nazistrukturen im Allgäu seit Jahren sehr verfestigt. Es gebe allenfalls schwachen Widerstand aus der Bevölkerung. Ein Beispiel: 2016 erwarb ein führender Neonazi, der sich in der Öffentlichkeit gern als netter Handwerker und Schwiegersohn präsentiert, eine Immobilie. Sie liegt in der Nähe von Memmingen und gehört zu einer Kleingartenanlage. Es handelt sich um die ehemalige Kleingartenschänke. Dort fanden immer wieder Nazikonzerte und Treffen statt.
Dagegen regte sich Protest. So gab es einmal eine Aktion von vier AntifaschistInnen, die dort mit einem Banner standen und protestierten. Daraufhin erstattete der Vorsitzende der Kleingartenanlage Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Als er während der Verhandlung als Zeuge befragt wurde und das Gericht wissen wollte, wie es um die Neonazis bestellt sei, antwortete er: „Von denen bekommt man kaum was mit, es war nur bei der Eröffnung laut, sonst sind die schon okay. Denn die machen ihr Ding, und die Kleingärtner machen ihr Ding. Aber als die Linken dort protestierten, war Angst und Schrecken im Kleingartenverein.“ Er habe aufpassen müssen, dass er keine Pächter verliert. Deshalb habe er Anzeige erstattet.
Nazigegner unerwünscht
Für den Vorsitzenden des Kleingartenvereins sind offensichtlich vier Menschen mit Transparent die größere Gefahr als der Pächter der Schänke, der ein bekennender Nazi sei. Das zeige sehr gut die Wahrnehmung vieler Menschen im Allgäu. Eine weitere Person aus dem Führungskader betreibt seit 2018 einen Hofladen. Dort werden die eigenen und auch Produkte von Bauern aus der Region verkauft. Zum Hofladen gehört noch ein Milchbetrieb im Nebenerwerb mit Schwerpunkt Grünland, eine Biogasanlage und eine Schweine- und Pferdezucht.
Der sich als seriös und naturverbunden gebende Inhaber ist seit langem in der Naziszene aktiv. Dies scheint jedoch keinen oder kaum einen Einfluss auf sein Geschäft bzw. eine abschreckende Wirkung auf KundInnen und GeschäftspartnerInnen zu haben. Auch dieses Beispiel zeige, wie die Allgäuer Zivilgesellschaft mit diesem Thema umgeht. Es werde anscheinend bewusst oder unbewusst ausgeblendet.
Ein anderes Beispiel zeigt – es geht auch anders. In Illertissen, einer Stadt zwischen Memmingen und Ulm, kauften zwei Architekten im September 2016 eine alte Kirche und bauten diese zum „Projekt Gastraum“ um. Die Südwest Presse schrieb dazu: „Gaumenschmeichler statt Hostien: Wo einst der Altar stand, ist jetzt die Bar. Statt eines gemeinsamen Abendmahls gibt es viele kleine Leckereien. Und wenn hier jemand ‚Halleluja‘ singt, dann höchstens Leonard Cohen oder Jeff Buckley vom Band. Denn Illertissens alte Christuskirche ist jetzt Bar, Café, Event- und Kulturstätte zugleich.“
Es geht auch anders: Geschäftsbeziehung zu Neonazi aufgelöst
Zum damaligen Zeitpunkt ist einer der Betreiber Mitglied der Naziband „Act of Violence“. Das Team von „Allgäu rechtsaußen“ konfrontierte seinen Geschäftspartner mit der Frage, ob er wisse, mit wem er es zu tun habe und was sein Geschäftspartner sonst so mache. Schockiert über die Rechercheergebnisse antwortet er am Telefon: „Gerade höre ich hier im Radio noch eine Sendung über Josef Mengele und jetzt sagen sie mir, ich habe so einen als Geschäftspartner.“ Nur wenige Minuten später fiel sein Entschluss: „Ich werde ihn auf jeden Fall darauf ansprechen, und wenn da was dran sein sollte, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm seinen Anteil auszuzahlen und alleine weiter zu machen.“ In Folge des Telefonats löste er die Geschäftsbeziehung auf und zahlte M. aus. Das letzte Album der Naziband „Act of Violence“ wurde indiziert. Von 25 Songs auf dem Album, waren 20 antisemitisch und nationalsozialistisch. Da sehr viel Nazimusik veröffentlicht wird, will es laut Lipp etwas heißen, dass die Bundesprüfstelle gerade dieses Album indizierte. Der ehemalige Geschäftspartner von M. merkte über ein Jahr lang nicht, mit wem er zusammen arbeitete und dass M. während dieser Zeit ein Album aufnahm. Auch wenn die Geschäftsbeziehung aufgelöst wurde, ist dies ein weiteres Beispiel dafür, wie einfach es ist, im Allgäu als Nazi zu agieren.
Die braune Szene fühlt sich wohl – und kauft Immobilien
Laut Lipp entwickelte sich die Nazistruktur über Jahrzehnte im Allgäu. Antifa-AktivistInnen oder die Zivilgesellschaft hätten es schwer dagegen anzugehen. Viele Allgäuer lernen die Nazis als Geschäftspartner oder als Freunde und Nachbarn kennen. Daraus entwickelt sich eine Loyalität, und wer intervenieren möchte, läuft gegen Wände. Zudem ist die Allgäuer Szene inzwischen durch Immobilienbesitz sehr gut aufgestellt. Früher mussten sie Locations anmieten, um eine Veranstaltung durchzuführen. Sobald klar wurde, wer dort agiert, flogen sie entweder raus oder die Veranstaltung konnte nicht stattfinden, da die Behörden intervenierten. Das Kerngebiet für ihre Aktivitäten ist zwar weiterhin Mindelheim und Memmingen, die Vernetzung von Voice of Anger erstreckt sich jedoch bis nach Vorarlberg und ins Schweizer Grenzgebiet. Sie fahren auf Konzerte nach Italien und Finnland und besuchen dort auch Veranstaltungen, des in Deutschland verbotenen „Blood & Honour“ Netzwerkes.
Der braun-blaue Sumpf: Pegida, Allgida, Voice of Anger, NPD, AfD und Uniter
Wenn Voice of Anger möchte, haben sie großes Mobilisierungpotenzial. Eine „Allgida“ Veranstaltung, der Allgäuer Ableger von Pegida, wurde aus Kreisen von Voice of Anger und der NPD gefördert. Die Veranstaltung fand nicht in einer der größeren Allgäuer Städte, sondern im Hinterland des Ostallgäus statt. Dort, wo es nicht einmal einen Bahnhof gibt. Voice of Anger mobilisierte in weniger als einer Woche, was die Behörden allerdings wenig interessierte. Von diesen sei zu hören gewesen: „Da ist nichts angemeldet, dann kommt auch niemand.“ Am Tag selbst stand eine Handvoll AntifaschistInnen etwa 150 Nazis gegenüber. Es war keine oder kaum Polizei da. Hätten die Nazis es darauf angelegt, wäre es einfach gewesen, die AntifaschistInnen zu überrennen, berichtet Lipp. Dieses Beispiel zeigt sehr gut das Mobilisierungspotenzial auf. Außer Voice of Anger gibt es im Allgäu noch AfD Mitglieder, die tief im rechten Sumpf stecken und Kampfsportler, die auch Mitglieder von Voice of Anger ausbilden. Ein Mitglied der Naziband „Faustrecht“ arbeitet in Langenargen am Bodensee in einem Sicherheitsunternehmen. Außerdem finden sich auch Verbindungen zu „Uniter“.
Angriffe auf allen möglichen Ebenen
Nach dem Vortrag hatte das Publikum die Möglichkeit Fragen zu stellen und über das Gehörte zu diskutieren. Ein Teilnehmer wollte wissen, ob die Nazis das Rechercheteam in Ruhe arbeiten lassen oder ob sie gegen „Allgäu – rechtsaußen“ vorgehen? Lipp spricht von Angriffen auf allen Ebenen. Unter anderem habe man versucht, die erste Broschüre von „Allgäu – rechtsaußen“, in der es um die vorhandenen Nazistrukturen im Allgäu im Allgemeinen ging, auf zivilrechtlichem Wege durch zwei Klagen zu verhindern. Diese scheiterten jedoch vor Gericht und kosteten die Kläger viel Geld. Es habe auch schon Angriffe auf das Rechercheteam gegeben, bei denen Kameras kaputt gingen. Oder es schlichen nachts Leute um die Wohnhäuser, Autos würden beschädigt. Derzeit nehmen die schriftlichen Drohungen laut Lipp wieder zu. Da sie jedoch auch überregional Aufmerksamkeit bekommen, würde sich die Bedrohungslage in Grenzen halten. Körperliche Angriffe würden die Nazis aktuell kaum riskieren, da dies ein negatives Bild und Gerichtsverfahren mit sich ziehe.
Aufdeckung, Protest und Widerstand
Eine weitere Frage war, wie groß das Voice of Anger Netzwerk ist? Da sie keine Listen führen, wie zu Anfangszeiten, sei dies laut Lipp schwer zu sagen. Der Verfassungsschutz schätzt die Kameradschaft auf etwa 80 Personen, was Lipp und seinem Team allerdings als zu wenig erscheint.
Ein weiterer Diskussionsteilnehmer zog Parallelen zwischen dem Allgäu und dem Remstal. Solange die Nazis sich ungestört fühlen, wie vor Jahren in Schorndorf-Weiler, agieren sie oft ungeniert. Formiert sich jedoch deutlicher Protest und Widerstand, ziehen sie sich zurück. Deshalb sei Aufdeckung, Protest und Widerstand so wichtig – Nazis stören wo sie auftauchen.
Am 21. September hält Sebastian Lipp um 16 Uhr im Linken Zentrum „Lilo Hermann“ einen Vortrag über die rechte Musikszene (siehe „Musik für unpolitische Nazis?„).
Broschüre „Voice of Anger und der rechte Untergrund im Allgäu“
Das Redaktionsteam von „Allgäu – rechtsaußen“ hat den „braunen Sumpf“ erkundet und legt nun erstmals eine aufwändige Dokumentationsbroschüre über den bislang unterschätzten rechten Untergrund im Allgäu vor.
Sebastian Lipp (Hrsg.): Voice of Anger und der rechte Untergrund im Allgäu, 5 Euro, erschienen bei „Allgäu – rechtsaußen“, im März 2019 in Kempten, ISBN: 978-3-00-062183-3
Bestellungen an bestellung [at] allgaeu-rechtsaussen.de
Folge uns!