Von Tape Lago – Kassel. In der Universitätsstadt Kassel demonstrierten am Samstag, 20. Juli, weit über 10 000 Menschen gegen einen Aufmarsch der neonazistischen Kleinpartei „Die Rechte“. Zu der Demonstration hatte das Kasseler Bündnis gegen Rechts unter dem Motto „Kassel nimmt Platz! No pasarán!“ – zu Deutsch „Sie werden nicht durchkommen!“ – aufgerufen. Mehr als 150 Vereine, Verbände und Institutionen schlossen sich dem Aufruf an, um ein starkes Zeichen gegen Rechts zu setzen und zu zeigen, dass es in Kassel keinen Platz für Neonazis gebe.
Die Polizei Nordhessen, unterstützt von Kräften aus anderen Bundesländern wie Rheinland Pfalz und Baden-Württemberg, war vor Ort mit tausenden Beamten und schwerem Gerät (Räumpanzer, Wasserwerfern und Hubschrauber), um die rund 120 Neonazis zu schützen und deren Aufmarsch im Kasseler Stadtgebiet Unterneustadt zu ermöglichen. Dabei schränkte sie offenbar bewusst die Pressefreiheit ein und sorgte bei VertreterInnen der Medien für Empörung.
ARD-Team von Neonazis umzingelt und bedrängt
Der ARD-Journalist Arndt Ginzel und sein Kameramann wurden am Unterneustädter Kirchplatz bei Dreharbeiten von Neonazis umzingelt und zurückgedrängt. Zunächst schaute die Polizei weg. Jedoch schritt sie ein, als Ginzel und weitere Journalisten „Polizei, Polizei, ein Kollege wird angegriffen“ riefen.
Daraufhin forderten Polizisten die ARD-Journalisten auf, hinter die Polizeikette zu gehen. Der Polizei sei offenbar die Versammlungsfreiheit und der Schutz der Neonazis wichtiger gewesen als die Pressefreiheit. Die Neonazis durften bei ihrer Versammlung die anwesenden FotografInnen und anderen JournalistInnen nach Lust und Laune filmen, fotografieren und einschüchtern.
Bewusste Behinderung in der Pressearbeit
Die Polizei hatte sich offenbar vorgenommen, die Demonstration der Neonazis mit allen Mitteln durchzusetzen. Bereits am früheren Samstagmorgen sperrte sie alle Zugänge zum Unterneustädter Kirchplatz, dem Kundgebungsort der Rechtsextremen, weiträumig ab.
JournalistInnen und FotografInnen dürften sich nur in Begleitung des Pressesprechers der Polizei in der sogenannten „Absperr- und Sicherheitszone“ bewegen, hieß es aus Polizeikreisen. Dies sei eine „strikte Anweisung“ der Polizeiführung. Doch die JournalistInnen und FotografInnen, die vor der Ankunft der Neonazis schon da waren, durften das abgesperrte Gebiet nicht betreten, da der „berühmte“ Pressesprecher der Polizei nicht erreichbar und nicht zu finden war.
Anrufe bei der Polizeipressestelle blieben unbeantwortet. Fragwürdig war, dass dutzende Medien- und PressevertreterInnen gleichzeitig von einem einzigen Pressesprecher der Polizei betreut und überall begleitet werden sollten. Die Polizei habe bewusst Medien und PressevertreterInnen in ihrer Arbeit behindert, so die Betroffenen.
Kein Zugang für JournalistInnen zur Naziversammlung
So mussten FotografInnen und JournalistInnen am Platz der Deutschen Einheit, auf der Fulda- und Hafenbrücke vor den Absperrgittern lange ausharren, warten oder kilometerlange Wege gehen, um andere Zugangangspunkte zu suchen, die es zunächst nicht gab.
Es kam immer wieder zu Diskussionen zwischen Polizeikräften und PressevertreterInnen. „Polizei verhindert, dass Journalisten die Fuldabrücke passieren. Polizei Nordhessen, was soll die unnötige Behinderung unserer Arbeit“ schrieb der Journalist Björn Kietzmann auf Twitter.
„Polizei hat alles rund um den Ort der extrem rechten Kundgebung abgesperrt. Strikte Anweisung sei laut einem Polizeibeamten explizit, Presse nicht durchzulassen. Warum Polizei Nordhessen?“, fragte ein weiterer Journalist auf Twitter. Auch während der Nazidemo werden Fotografen und Journalisten von PolizistInnen in ihrer Arbeit gestört und behindert.
AfD Nährboden für Neonazis
Torsten Felstehausen, Sprecher des Kasseler Bündnisses gegen Rechts und Landtagsabgeordneter der Linke, kritisierte in einem Gespräch vor Beginn des Naziaufmarsches die extrem rechte Veranstaltung und den Polizeieinsatz aufs Schärfste.
Die AfD sei die einzige Partei in Kassel, die sich nicht zu dem Naziaufmarsch geäußert und verhalten habe. Das zeige deutlich, wie die Gesinnung der AfD an dieser Stelle sei. Die Rechtsaußenpartei sei der geistige Nährboden für Neonazis, so der Bündnissprecher.
Über 150 Organisationen hatten dazu aufgerufen, um deutlich zu machen, dass Kassel keinen Platz für Nazis biete: „Wir wollen sie hier am 20. Juli, dem Tag des gescheiterten Attentats auf Hitler, nicht haben. Wir wollen sie auch an einem Ort, wo Nazis das Verbrechen an Dr. Walter Lübcke begangen haben, nicht haben.“
Naziaufmarsch eine große Provokation
Es sei ein Hohn, dass die Nazi-Veranstaltung in Kassel zugelassen wurde, sagte der Sprecher von Kassel gegen Rechts. Die Polizei habe die gesamte Stadt in Geiselhaft genommen. Man müsste sich Gedanken darüber machen, ob ein so kleines Häufchen von Nazis eine gesamte Stadt in Geiselhaft nehmen kann und so das gesamte öffentliche Leben zum Erliegen bringt, betonte Felstehausen.
Für tausende AntifaschistInnen und andere Bürgerinnen sei der Naziaufmarsch in Kassel eine große Provokation. Hermann Schaus, Abgeordneter der Linken im Hessischen Landtag, sah es auch so und kam nach Kassel, weil er es für wichtig halte, dass die Zivilgesellschaft in einem breiten Bündnis gegen die Provokation der Neonazis vorgeht. Es seien viele tausend Menschen am Tag des Widerstands zusammen gekommen, um zu verhindern, dass die Neonazis frei durch Kassel demonstrieren können.
Bunter und Vielfältiger Schulterschluss
Nach den Kundgebungen am Hauptbahnhof setzten sich am Vormittag die Demonstrationszüge gegen „Die Rechte“ mit tausenden TeilnehmerInnen in Richtung Stadtteil Unterneustadt in Bewegung. Es war ein bunter und vielfältiger Schulterschluss gegen die Neonazis. AntifaschistInnen, GewerkschafterInnen, Kirche und viele andere Organisationen der Zivilgesellschaft liefen Seite an Seite, um gemeinsam ein starkes Zeichen gegen Christian Worch und seine Kameraden zu setzen.
Nach den Zwischenkundgebungen an der gesperrten Fuldabrücke trennten sich die Demozüge. Ein Teil ging jeweils zur Hafenbrücke und zum Platz der Deutschen Einheit, um die Proteste dort zu stärken. Zudem gelang es vielen Antifaschistinnen, in die Nähe des Versammlungsorts und der Naziroute zu kommen.
Schwache Neonazi-Versammlung
Die Neonazis hatten ihre Kundgebung für 12 Uhr geplant und wollten nach einer Auftaktkundgebung marschieren. Doch ihre Veranstaltung begann mit einer zweistündigen Verspätung. Vor der Ankunft seiner Kameraden stand Christian Worch, Demo-Anmelder, besorgt am Unterneustädter Kirchplatz.
Die rund 70 Neonazis um bekannte Kader wie Sven Skoda, Michael Brück, Sascha Krolzig und Siegfried Borchardt, genannt „SS-Siggi“, aus NRW (Dortmund, Duisburg und Oberhausen) trafen erst gegen 13 Uhr mit einem Reisebus ein. Sie traten sehr aggressiv auf, bedrängten und fotografierten anwesende Journalisten.
Eine zweite Gruppierung von rund 50 aggressiven Neonazis aus Rheinland Pfalz und Saarland wurde mit einem Linienbus zum Kundgebungsort transportiert. Angeführt wurde diese Gruppierung von Florian Grabowski (Führer von „Die Rechte“ Landesverband Südwest / Kameradschaft Rheinhessen). Grabowski und seine Kameraden traten ebenfalls den Journalisten gegenüber sehr aggressiv auf.
Naziaufmarsch stößt auf erbitterten Widerstand
Nach einer kurzen Kundgebung setzte sich der Naziaufmarsch mit rund 120 TeilnehmerInnen Richtung Hafenstraße in Bewegung. Die Neonazis provozierten mit einem Fronttransparent, worauf „Nationale Gegenofenssive“ zu lesen war. Darin waren die Worte „Ofen“ und „SS“ auszumachen. Die Polizei nahm wegen des Banners Ermittlungen auf. Denn die Schreibweise auf dem Nazi-Transparent deutet auf eine antisemitische Botschaft und einen Bezug zum Holocaust hin.
Als Zeichen des Protests gegen die Neonazis ließ die Unterneustädter Kirche die Glocken läuten. Als eine Gruppe von wütenden AntifaschistInnen versuchte, auf die Naziroute zu gelangen, setzte die Polizei Pfefferspray, Schlagstöcke und Faustschläge ein, um die NazigegnerInnen im Zaun zu halten. Daraufhin brüllten die Neonazis unter lautem Protest „Alles für Volk, Rasse und Nation – Nationaler Sozialismus jetzt – Nie, nie wieder Israel – Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“.
Der erbitterte Widerstand gegen die Neonazis setze sich in der Höhe der Hafenbrücke und am Platz der Deutschen Einheit fort. Dort gelang es den NazigegnerInnen, mit laustarken Sprechchören die Zwischenkundgebung der Neonazis zu übertönen.
Nach einer knappen Stunde war der Spuk vorbei
Die Rechte-Kader forderten ein national-sozialistisches Deutschland. Christian Worch, langjähriger Neonazi-Aktivist, erklärte nach etwa einer Dreiviertelstunde gegen 16 Uhr die Nazidemo unter dem Motto „Schluss mit Pressehetze und Verbotsphantasien“ für beendet. Daraufhin verließen die Neonazis den Unterneustädter Kirchplatz mit einem Linien- und einem Reisebus. Der Spuk war vorbei.
Die Polizei meldete in einer Pressemitteilung nach dem Demonstrationstag insgesamt 31 Festnahmen wegen Verstößen gegen das Waffen-, Versammlungs- und Betäubungsmittelgesetz sowie wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
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