Von Sahra Barkini – Stuttgart. Ausgerechnet am 9. November, 81 Jahre nach der Pogromnacht und den Anschlägen auf die Synagogen in Deutschland, steht morgens um 11 Uhr Michael Stürzenberger auf dem Kronprinzplatz in Stuttgart. Er hetzt nicht gegen das Judentum, sondern sein Gegner ist mal wieder der Islam. Also steht er da und lässt seiner Hetze über mehrere Stunden freien Lauf – beschützt durch Hamburger Gitter und eine Polizei, die rigoros gegen Protestierende vorgeht.
Auf den aufgereiten Schildern ist unter anderem zu lesen „Religionsfreiheit hat Grenzen“. Das widerspricht der im Grundgesetz verankerten Religionsfreiheit. Moslems sind laut Stürzenberger und seinen Anhängern an allem schuld, vor allem am Antisemitismus. Nein! Daran sind Leute wie Wolfgang Gedeon oder Björn Höcke schuld, die Menschen wie den Täter von Halle aufstacheln. Dieser hatte am 9. Oktober versucht, in eine Synagoge einzudringen. Nur eine Tür hielt ihn auf. Draußen erschoss er zwei Menschen.
Nicht der Islam bedroht Juden und Jüdinnen, sondern Neonazis tun dies. Das aber sieht Stürzenberger anders. Er beleidigte bei seiner Kundgebung PassantInnen, die versuchten, mit ihm zu diskutieren. In der Zuhörerschar fanden sich auch Michael Stecher aus Fellbach und einige Aktivisten der Identitären Bewegung neben weiteren Personen aus dem rechten Spektrum.
Hand in Hand: Stürzenberger und die Polizei
Als sich der Protest linker AktivistInnen formierte, rief Stürzenberger nach der Polizei. Er forderte die Beamten auf, den Protest zu unterbinden. Angeblich habe die Einsatzleitung ihm zugesagt, dass er seine Kundgebung ohne Störung abhalten dürfe. Ein Aktivist der Identitären Bewegung sah das wohl als Aufforderung und versuchte, linken AktivistInnen das Megaphon zu entreißen.
Die Stuttgarter Polizei ging gewohnt unverhältnismäßig gegen den lautstarken, friedlichen Protest der AktivistInnen vor. Sie stürmte in die Gruppe, trieb die Protestierenden auseinander und griff mehrere Personen heraus. Bei diesem Tumult wurde nach Angaben von AktivistInnen einem Menschen ein Stück Zahn ausgeschlagen. Ob von der Polizei oder von Rechten ist nicht bekannt.
Pressevertreter beleidigen? Kein Problem!
Ein Stürzenberger-Sympathisant beleidigte vor der Polizei lautstark einen Pressevertreter. Die Beamten weigerten sich trotz mehrfacher Aufforderung, die Personalien des Mannes festzustellen (siehe Video unten).
Als sich die Situation etwas beruhigt hatte, riefen die AntifaschistInnen erneut Parolen. Auch vom Geräuschpegel angezogene Passanten solidarisierten sich. Daraufhin gingen die PolizistInnen ein weiteres Mal gegen den Protest vor. Der erneute Angriff und die Tatsache, dass die Gruppe zu klein war, veranlasste die DemonstrantInnen dazu, sich zurück zu ziehen.
Über den Tag wurden mehrere Platzverweise erteilt, und es kam zu vorübergehenden Festnahmen. Nach Angaben aus Antifa-Kreisen wurde der Störer der Identitären Bewegung ebenfalls mitgenommen. Die ganze groteske Veranstaltung ging von 11 Uhr bis 18 Uhr. Das einzig Gute war vielleicht, dass aufgrund des Standorts wenig PassantInnen vorbeikamen.
Der Kommentar von Sahra Barkini: Offenbar nur Lippenbekenntnisse
Am Abend des selben Tages sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Der 9. November, in dem sich in besonderer Weise sowohl die fürchterlichen als auch die glücklichen Momente unserer Geschichte widerspiegeln, ermahnt uns, dass wir Hass, Rassismus und Antisemitismus entschlossen entgegentreten müssen.“
In Stuttgart stellten sich Menschen entschlossen gegen Rassismus und Hass, und was tut die Polizei? Sie geht gegen die Protestierenden vor, anstatt gegen den Hass und die Hetze von Michael Stürzenberger. Wie so oft wirken die Worte von PolitikerInnen nur als Lippenbekenntnisse. Denn in den vergangenen Wochen wurde von fast allen PolitikerInnen gefordert, sich gegen den Hass und die Hetze in Deutschland zu stellen. Die Realität ist dann aber leider eine andere. Die DemonstrantInnen werden als Störer hingestellt und sind einem massives Polizeiaufgebot ausgesetzt. Beleidigungen von Pressevertretern werden polizeilich gedeckt.
Während sich in Bielefeld 15 000 Menschen 250 Nazis entgegen stellten, die den Geburtstag der verurteilten Holocaustleugnerin Haverbeck feiern und gleichzeitig für deren Haftentlassung demonstrieren wollten, blieb in Stuttgart die Hoffnung auf größere Solidarität für den Protest vergeblich. Auch wenn man die beiden Auftritte wohl nicht unmittelbar vergleichen kann, gibt das doch zu denken. Ein Facebook-Nutzer schrieb über den schwachen Protest: „Warum war das so? Kann es sein, dass es zu viele ‚Facebook-Antifas‘ gibt, die ihr Gewissen mit einem Klick auf den Like-Button beruhigen?“
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