Von Sahra Barkini – Stuttgart-Bad Cannstatt. Mehr Menschen als im Vorjahr folgten am Samstag, 9. November, dem Aufruf des „Bündnisses zum Gedenken an die Pogromnacht in Bad Cannstatt“. Sie versammelten sich schon vor 18 Uhr am Platz der ehemaligen Cannstatter Synagoge in der König-Karl-Straße und gedachten der Opfer der Pogromnacht vor 81 Jahren.
Musikalisch umrahmt wurde das Gedenken vom „Freien Chor Stuttgart“. Joe Bauer führte durch die Gedenkveranstaltung. Redebeiträge gab es von Martin Poguntke (Pfarrer im Ruhestand und Diplompädagoge), Sidar Carman (Gewerkschaftssekretärin bei Verdi) und zwei VertreterInnen des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart und Region (AABS). Zum Abschluss der Kundgebung wurden ein Kranz und rote Nelken niedergelegt.
Am 9. November 1938 setzten Truppen der SA und der SS zusammen mit einem angeblich aufgebrachten Mob die Synagogen in Brand, organisiert vom Parteiapparat der NSDAP und abgesichert von Polizei und Feuerwehr. Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, Zehntausende verhaftet. Dutzende jüdische Menschen wurden ermordet. Die Pogromnacht stellte eine Zäsur dar, die faschistische Diktatur ging nun zum offenen Terror gegen Juden und Jüdinnen über.
„Die Vergangenheit ist mehr als nur Vergangenes“
Nachdem er die KundgebungsteilnehmerInnen begrüßt hatte, kritisierte Joe Bauer die Erinnerungskultur als oft heuchlerisches Ritual, „das die Vergangenheit nur als Vergangenes betrachtet. Wenn ich von Erinnerungsorten rede, geht es mir nicht um Gedenkorte als Stationen einer Art Heimatgeschichte. Der Begriff Heimat gefällt mir ohnehin nicht, weil er von den Reaktionären vereinnahmt wird und immer auch Ausgrenzung von Menschen bedeutet. Orte aber, die auf historische Ereignisse hinweisen, sind dann wichtig, wenn sie uns mit den Zusammenhängen von Vergangenheit und Gegenwart konfrontieren.“
Bauer kritisierte auch das mangelnde Bewusstsein der Menschen: „Während sich viele in der Politik geweigert haben, die Geschichte so aufzuarbeiten, dass ihre Gefahren für die Gegenwart sichtbar werden, organisierten sich die Völkischen, die Rassisten, die Nazis mehr oder weniger ungestört. Zu ihnen gehören heute Juristen, Polizisten, Militärs, Journalisten, Intellektuelle. Und auch dieser symbolische Tag heute wird das öffentliche Bewusstsein nicht verändern.“
Die Politik sei vorwiegend damit beschäftigt, die Geschichte „der mit reichlich westdeutscher Propaganda manipulierten Wiedervereinigung vor 30 Jahren zurechtzubiegen. Das antifaschistische Engagement aber ist etwas anderes als das Alibi-Getue bei Gedenktagen und Mahnwachen. Wir müssen täglich etwas tun, und zum Glück gibt es Menschen, die im Wissen um die Vergangenheit sehr gegenwärtig und solidarisch handeln.“
„Abermals krähte der Hahn“
Als nächster Redner sprach Pfarrer Martin Poguntke. Es gebe eine lange Traditionslinie evangelischer Christen und Christen überhaupt, die den Glauben verraten haben. Im Grund sei die ganze Geschichte des Christentums Verrat. Denn evangelische Christen seien in besonderen Maße für die Naziideologie anfällig gewesen. Der Satz „abermals krähte der Hahn“ sollte eine Mahnung sein, auf Zeichen zu hören. Als Beispiel sagte Poguntke: „Hoyerswerda vor 30 Jahren – abermals krähte der Hahn. Die Entdeckung des NSU und seiner Morde – abermals krähte der Hahn. Regierungspräsident Lübcke wird ermordet – abermals krähte der Hahn. Dresden, Chemnitz, Halle – der Hahn kräht und kräht. Wie oft noch?“
„Wir müssen hören! Wir müssen handeln, widersprechen, protestieren. Pro-testieren – für(!) eine bessere Welt Zeugnis ablegen, einstehen, kämpfen“, forderte Poguntke. Und weiter: „Und da frage ich mich, warum die immer zahlreicheren rassistischen Übergriffe und braunen Morde nicht zu einem Aufschrei führen, zu hektischer politischer Betriebsamkeit. Die Älteren unter uns haben noch erlebt, was in ganz Deutschland los war, als die Rote-Armee-Fraktion Attentate verübte. Die Republik war im Ausnahmezustand. Diesen Abbau von Grundrechten und diese Verdächtigungsatmosphäre von damals – das kann wirklich keiner zurückwünschen. Aber doch wenigstens annähernd dieses Maß an gesellschaftlicher Beunruhigung und politischer Entschlossenheit“.
Man dürfe die Pogromnacht 1938 und all den anderen Nazi-Terror nie vergessen, weil das Gedenken daran erinnere, „wozu wir Menschen fähig sind. Hören wir den Hahn krähen, damit wir uns an die Arbeit machen, im positiven Sinne zu entfalten, wozu wir Menschen eben auch fähig sind. Lasst uns Lehren ziehen aus der dunklen Seite unseres Menschseins, damit wir Kraft gewinnen, um die Ärmel hochzukrempeln und anzupacken und dieser Gesellschaft eine helle Zukunft zu geben: eine solidarische Welt, in der Menschen nicht ausgegrenzt werden, in der Anderssein nicht als Makel oder Bedrohung empfunden wird, sondern als Bereicherung. Daran lasst uns arbeiten, alle miteinander, auch an uns selbst.“
„Demokratie und Solidarität verteidigen“
Sidar Carman, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi Stuttgart, erinnerte an den rechten Terroranschlag in Halle: „Vor einem Monat entscheidet eine einzige Holztür einer Synagoge über Leben und Tod. Es ist diese eine Holztür, die Dutzende Menschen jüdischen Glaubens in Halle vor dem Tod rettet. Der Täter, ein Antisemit, ein Antifeminist, ein Neonazi, scheitert und sucht einen Döner-Imbiss auf. Zwei Menschen sterben, erschossen. Wir stehen heute zusammen und gedenken der Opfer des Faschismus. Wir blicken auf sie zurück und erneuern unsere Überzeugung, dass so etwas nie wieder passieren darf“.
Hieß es lange Zeit „wehret den Anfängen“, müsse es heute heißen: „Wehret den Zuständen.“ Die Toten von Halle, die Opfer des NSU, die Morddrohungen gegen PolitikerInnen und die Ignoranz gegenüber dem Schicksal von Tausenden Geflüchteten zeugten davon, „dass wir Demokratie und Solidarität verteidigen müssen. Gedenken bedeutet aber auch: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Seenotrettung ist kein Verbrechen. Wer Waffen liefert und Kriege führt, wird Terroristen ernten“, betonte Carman. Zuletzt zitierte sie Esther Bejerano „Ihr tragt keine Schuld für das was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert“.
„Ein zweites Scheitern verhindern“
„Die maßgeblichen Brandstifter von heute sind die Stichwortgeber des deutschen Rechtsrucks“, erklärten Redner des AABS: „Es sind Faschisten wie Höcke, Kalbitz und Gedeon, es ist der AfD-Sumpf, der die Judenfeindlichkeit wieder sprießen lässt. 55 Prozent der Anhänger dieser Partei sind der Überzeugung, dass Juden zu viel Einfluss auf der Welt hätten – von ihrer Sicht auf den deutschen Faschismus wollen wir an dieser Stelle gar nicht anfangen.“
Es frage sich, weshalb ein solches Denken noch immer so viele in seinen Bann ziehen könne. Es liege wohl daran, „dass die sozialen Ursprünge der Naziherrschaft noch immer nicht beseitigt wurden: Ein Wirtschaftssystem, das nichts mit Vernunft zu tun hat und den Großteil der Bevölkerung zu austauschbaren Rädchen herabwürdigt. Die irrsinnige Profitjagd von Banken und Konzernen, von den großen und kleinen Unternehmen, die kein Halten kennt. Das Chaos der Märkte, das von Nationalstaaten und Regierungen mehr schlecht als recht gemanaged, dafür aber umso strikter abgesichert wird.“ Antisemitismus biete eine einfache Erklärung, eine klare Schuldzuweisung und eine starke gemeinsame Identität.
Antifa bedeute keine rebellische Jugendgang, sondern an dem gemeinsamen Kampf anzuknüpfen, den die ArbeiterInnenbewegung zu Beginn der 30er Jahre begonnen hat, „an dem sie im ersten Anlauf bitter gescheitert ist. Ein zweites Scheitern zu verhindern, begreifen wir als unsere Verpflichtung. Natürlich geht es darum, breitflächig aufzuklären, zu gedenken und zu mahnen – deshalb sind wir hier und dafür gehen wir überall dort an die Öffentlichkeit, wo es uns möglich ist. Aber vor allem wollen wir Teil einer vereinten gesellschaftlicher Front werden, die die gemeinsamen Interessen der lohnabhängigen Menschen in den Mittelpunkt stellt: Gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen im Kapitalismus und erst recht gegen die Angriffe und Spaltungsversuche von Rechts!“
Im Anschluss lud das Bündnis noch zu einer Lesung mit Konzert von Esther Bejerano & Microphone Mafia ins Cannstatter Rathaus ein.
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Die Rede des AABS im Wortlaut:
„Liebe Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen,
Antisemitismus ist wieder im Blick der deutschen Öffentlichkeit. Vor dem faschistischen Anschlag in Halle war in Medienberichten und Debatten aber vor allem Eines im Vordergrund: Verknüpfungen mit dem Islam, mit MigrantInnen aus dem arabischen Raum und mit Israelkritik – Antisemitismus also als bösartiges Importprodukt? Der Kampf gegen Antisemitismus als Verteidigung sogenannter westlicher Werte? Das Gegenteil ist der Fall! Und das brauchen wir euch, die ihr euch hier mit uns versammelt habt, nicht zu sagen.
Der völkische Antisemitismus hat seine Wurzeln in rechten Bewegungen in Europa. Er wurde in Deutschland zur Vernichtungsideologie und zum Grundstein des größten Genozids der Weltgeschichte. Knapp 1800 antisemitische Angriffe listet das Innenministerium im vergangenen Jahr in Deutschland auf – davon kommen über 1600 aus dem rechten Lager. Diese Ideologie ist kein Import-, sondern ein Exportprodukt, das von Fortschrittsfeinden nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit, dankend angenommen wird.
Die maßgeblichen Brandstifter von heute sind die Stichwortgeber des deutschen Rechtsrucks: Es sind Faschisten wie Höcke, Kalbitz und Gedeon, es ist der AfD-Sumpf, der die Judenfeindlichkeit wieder sprießen lässt. 55 Prozent der Anhänger dieser Partei sind der Überzeugung, dass Juden zu viel Einfluss auf der Welt hätten – von ihrer Sicht auf den deutschen Faschismus wollen wir an dieser Stelle gar nicht anfangen.
Aber wie kann ein so wahnsinniges Denken im 21. Jahrhundert, knapp 75 Jahre nach der faschistischen Barbarei, noch immer unzählige Menschen in seinen Bann ziehen? Unwissenheit? Unzurechnungsfähigkeit? Vielleicht liegt es vielmehr daran, dass die sozialen Ursprünge der Naziherrschaft noch immer nicht beseitigt wurden: Ein Wirtschaftssystem, das nichts mit Vernunft zu tun hat und den Großteil der Bevölkerung zu austauschbaren Rädchen herabwürdigt. Die irrsinnige Profitjagd von Banken und Konzernen, von den großen und kleinen Unternehmen, die kein Halten kennt. Das Chaos der Märkte, das von Nationalstaaten und Regierungen mehr schlecht als recht gemanaged, dafür aber umso strikter abgesichert wird.
Der Antisemitismus ändert nichts an diesen Zuständen. Er bietet aber etwas an, das gerade in Krisenzeiten, wie wir sie heute erleben, sehr gefragt ist: Eine einfache Erklärung, eine klare Schuldzuweisung und eine starke gemeinsame Identität. Wer für Heilsbotschaften empfänglich ist und im Hauen und Stechen dieser Ordnung endlich mal selber einer derjenigen sein möchte, die so richtig austeilen, der findet auch heute noch in der Judenfeindschaft eine politische Heimat.
Von der kruden Verschwörungstheorie, bis hin zur Vorbereitung der bewaffneten Machtübernahme: In diesem politischen Spektrum fehlt es weder an Angebot, noch an Nachfrage. War die Pogromnacht vor 81 Jahren also einfach ein zufälliger massenhafter Ausbruch dieser menschenverachtenden Weltanschauung? Nein! – Auch wenn der Antisemitismus eine breite Anhängerschaft in der deutschen Bevölkerung fand. Die Pogromnacht war eine gezielte Aktion des faschistischen Staates. Sie war der erste brutale Höhepunkt einer Herrschaft, die den Antisemitismus in ihren Dienst gestellt hat. – Sie war die Vorbereitung der Bevölkerung auf einen unmenschlichen Krieg zur Versklavung und Vernichtung von angeblich „fremden Völkern“- Sie war die Einstimmung darauf, Solidarität in der Bevölkerung zu brechen, der Aufruf zur völligen Verrohung und eine Warnung an Alle, die sich dem Regime nicht unterwerfen wollten.
Die Strategen und Profiteure im Faschismus waren nicht nur die Größen der Nazipartei. Hinter ihnen standen Großbanken und Großkonzerne, die das System maßgeblich mitgestalteten. Ja, der Faschismus war irrational, voller Menschenverachtung und sinnloser Gewalt. Zugleich war er aber ein System zur Interessensdurchsetzung der besitzenden Eliten. Wahn und Kalkül zugleich. Und was heißt das für uns? Wie können wir verhindern, dass noch weitere Ruinen entstehen, vor denen wir uns zukünftig in Gedenken versammeln müssen?
Antifa – das ist keine rebellische Jugendgang, kein Szenekodex oder Lifestyle. Antifa bedeutet an dem gemeinsamen Kampf anzuknüpfen, den die ArbeiterInnenbewegung zu Beginn der 30er Jahre begonnen hat – an dem sie im ersten Anlauf bitter gescheitert ist. Ein zweites Scheitern zu verhindern, begreifen wir als unsere Verpflichtung. Natürlich geht es darum, breitflächig aufzuklären, zu gedenken und zu mahnen – deshalb sind wir hier und dafür gehen wir überall dort an die Öffentlichkeit, wo es uns möglich ist. Aber vor allem wollen wir Teil einer vereinten gesellschaftlicher Front werden, die die gemeinsamen Interessen der lohnabhängigen Menschen in den Mittelpunkt stellt: Gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen im Kapitalismus und erst recht gegen die Angriffe und Spaltungsversuche von Rechts!
Eine Bewegung, in der Lage ist sich zu wehren und zu kämpfen, die das rechte Lager in Bedrängnis bringt und ihnen die Straßen streitig macht. Im Angesicht einer bewaffneten Nazibewegung, die bis tief in den Staat hineinreicht, können wir das nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben. Es wäre unverantwortlich, nur auf Symbolpolitik zu setzen – nicht nur den heutigen Opfern faschistischer Gewalt gegenüber, sondern auch als Lehre aus der Geschichte: Das Zurückdrängen der Nazis, die sich mit aller Brutalität durchzusetzen versuchen, erfordert gemeinsame Kampferfahrungen – Erfahrungen der Auseinandersetzung, des Widerstandes, der Solidarität.
Und: Es muss mit einer Schärfe angegangen werden, die heute vielleicht nicht immer auf Verständnis stößt. Das ist eben die große Herausforderung: Den Abwehrkampf auf allen Ebenen entfalten und dabei gleichzeitig all diejenigen zusammenbringen, die im Faschismus nur verlieren können: Arbeiterinnen und Arbeiter, Arbeitslose, Studierende, Schülerinnen und Schüler, Rentnerinnen und Rentner. Zusammen können wir nicht nur ein zweites 1938, sondern auch ein zweites 1933 verhindern. Lassen wir nicht zu, dass es jemals wieder soweit kommt!
Bleibt mutig und unnachgiebig!
Wir brauchen jede und jeden Einzelnen von euch!“
Die Rede von Pfarrer Martin Poguntke im Wortlaut:
„Verehrte Anwesende,
ich danke Ihnen, dass ich als evangelischer Pfarrer heute hier reden darf; das ist nicht selbstverständlich. Denn die evangelische Kirche und die evangelischen Christen waren es in ganz besonderem Maße, die im Dritten Reich für die Nazi-Ideologie anfällig waren. Wir Evangelischen, meine Kirche, wir haben in ganz besonderem Maße Schuld auf uns geladen.
Es ist eine lange Traditionslinie, in der wir evangelischen Christen und überhaupt wir Christen unseren Glauben verraten haben. Im Grunde ist die ganze Geschichte des Christentums eine Geschichte des Verrats dieses Glaubens, von Anfang an. Ob die biblische Erzählung, wie der Jünger Petrus den verhafteten Jesus verleugnete, dreimal behauptete, ihn nicht zu kennen – noch bevor am nächsten Morgen der Hahn zweimal gekräht hatte – ob diese Geschichte nun Legende ist, oder ob sie sich wirklich so zugetragen hat, ist egal. Aber bis heute stellt der Satz „abermals krähte der Hahn“ – deshalb die Hähne auf evangelischen Kirchtürmen – das stellt für uns Christen die schneidende Mahnung dar: Hören wir auf die Zeichen! Haben wir acht, dass wir unseren Glauben nicht verleugnen! Unseren Glauben, dass jeder Mensch ein gleiches, unverlierbares Lebensrecht hat.
Hoyerswerda vor 30 Jahren – abermals krähte der Hahn. Die Entdeckung des NSU und seiner Morde – abermals krähte der Hahn. Regierungspräsident Lübcke wird ermordet – abermals krähte der Hahn. Dresden, Chemnitz, Halle – der Hahn kräht und kräht. Wie oft noch? – Wir müssen hören! Wir müssen handeln, widersprechen, protestieren. Pro-testieren – für(!) eine bessere Welt Zeugnis ablegen, einstehen, kämpfen.
Das biblische Menschenbild ist ein skeptisches. Die ganzen biblischen Geschichten sind voll von dem Wissen, dass wir Menschen nicht nur zur Liebe und Solidarität fähig sind, sondern auch zu grenzenlosem Egoismus und gewalttätiger Menschenverachtung. Und deshalb wissen wir, dass wir wachsam sein müssen. Den Hahn krähen hören müssen.
Und da frage ich mich, warum die immer zahlreicheren rassistischen Übergriffe und braunen Morde nicht zu einem Aufschrei führen, zu hektischer politischer Betriebsamkeit. Die Älteren unter uns haben noch erlebt, was in ganz Deutschland los war, als die Rote-Armee-Fraktion Attentate verübte. Die Republik war im Ausnahmezustand. Diesen Abbau von Grundrechten und diese Verdächtigungsatmosphäre von damals – das kann wirklich keiner zurückwünschen. Aber doch wenigstens annähernd dieses Maß an gesellschaftlicher Beunruhigung und politischer Entschlossenheit.
Aber der Unterschied zur RAF scheint zu sein, dass es damals Vertreter der Eliten waren, die zu Opfern wurden und nicht „nur“ – man schämt sich, dieses „Nur“ auszusprechen – und nicht „nur“ türkische Gemüsehändler. Und: Die Ziele waren andere: Denn die Ideologie der RAF war – so menschenverachtend auch ihr Weg war –, den Kapitalismus überwinden zu wollen, eine Kriegserklärung an die Spitze unserer Gesellschaft. Wie anders sind da die Motive der rechten Mörder von heute. Sie wenden sich gegen die Schwachen, die Migranten, die Minderheiten und opfern deren Rechte und deren Leben für die Stabilisierung unserer kapitalistischen Gesellschaft. Man hat immer wieder den Eindruck, für das Schlimme an deren Umtrieben werde gar nicht die rassistische Ideologie selbst, das menschenverachtende Denken dahinter gehalten, sondern lediglich die körperliche Gewalt und das Morden.
Wenn vor 20 Jahren Politiker gegen die doppelte Staatsbürgerschaft agierten, wenig später „Kinder statt Inder“ forderten, schließlich in jüngster Zeit die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erklärten – dann ist deutlich erkennbar: Die Mitte unserer Gesellschaft ist es, die geprägt ist von rassistischen Ressentiments. Weil einem Großteil der Gesellschaft und des politischen Personals zu den Inhalten des rechten Terrors die Distanz zu fehlen scheint, deshalb scheint mir das Erschrecken unserer Gesellschaft darüber so eigenartig lendenlahm daher zu kommen. Ich fürchte: Wir haben im Kern das Erbe des Dritten Reichs noch nicht überwunden.
Und vergessen wir nicht: In eben dieser Gesellschaft sind wir, die wir heute hier stehen, aufgewachsen und sozialisiert worden. Wir tun deshalb gut daran, auch das Eis über unseren eigenen Abgründen nicht für zu tragfähig zu halten. Wir tun gut daran, auch uns selbst offen mit unseren eigenen rassistischen Denkweisen und Impulsen auseinanderzusetzen. Denn was wir verdrängen, kehrt auf verborgene Weise zurück – aber in verhärteter Form.
Das ist ein Sinn des Gedenkens, warum wir die Pogromnacht 1938 und all den anderen Nazi-Terror nie vergessen dürfen: Weil dieses Gedenken uns im allernegativsten daran erinnert, wozu wir Menschen fähig sind. Hören wir den Hahn krähen, damit wir uns an die Arbeit machen, im positiven Sinne zu entfalten, wozu wir Menschen eben auch fähig sind. Lasst uns Lehren ziehen aus der dunklen Seite unseres Menschseins, damit wir Kraft gewinnen, um die Ärmel hochzukrempeln und anzupacken und dieser Gesellschaft eine helle Zukunft zu geben: eine solidarische Welt, in der Menschen nicht ausgegrenzt werden, in der Anderssein nicht als Makel oder Bedrohung empfunden wird, sondern als Bereicherung.
Daran lasst uns arbeiten, alle miteinander, auch an uns selbst.
Ich danke Ihnen.“
Die Rede von Sidar Carman (Verdi) im Wortlaut:
„Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten, liebe Kolleginnen und Kollegen,
(…) Vor 1 Monat entscheidet eine einzige Holztür einer Synagoge über Leben und Tod. Es ist diese eine Holztür, die Dutzende Menschen jüdischen Glaubens in Halle vor dem Tod rettet. Der Täter, ein Antisemit, ein Antifeminist, ein Neonazi, scheitert und sucht einen Döner-Imbiss auf. Zwei Menschen sterben, erschossen.
Wir stehen heute zusammen und gedenken den Opfern des Faschismus. Wir blicken auf sie zurück und erneuern unsere Überzeugung, dass so etwas nie wieder passieren darf. (…)
„Hieß es lange Zeit: Wehret den Anfängen, muss es heute heißen: Wehret den Zuständen.“
Die Toten von Halle, die Opfer der NSU, die Morddrohungen gegen Politiker, die Ignoranz gegenüber dem Schicksal von Tausenden Geflüchteten während mit Diktatoren Deals verhandelt und Waffen in den Nahen und Mittleren Osten verkauft werden – sie alle zeugen davon, dass wir Demokratie und Solidarität immer wieder aufs Neue verteidigen müssen. Gedenken bedeutet daher auch: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Seenotrettung ist kein Verbrechen. Wer Waffen liefert und Kriege führt, wird Terroristen ernten.
(…) Der erstarkende Rechtspopulismus muss mit dem Siegeszug des Neoliberalismus betrachtet und verstanden werden. Die neoliberale Verhöhnung von Lohnabhängigen, Rentnern, prekär Beschäftigten und Erwerbslosen findet keine Ende. 2,5 Millionen Kinder leben unter der Armutsgrenze. Von den 40 Millionen Erwerbstätigen arbeitet nahezu jeder Dritte als Leiharbeiter, Minijobber, Teilzeit, „Aufstocker“ oxer lediglich befristet. Und die Angriffe – gerade in dieser Region – gehen weiter. Daimler bastelt an einem Sparprogramm, Bosch hat einen Jobabbau angekündigt, Mahle schließt sein Werk in Öhringen, bei WMF sollen 400 Stellen gestrichen werden. Immer mehr Unternehmen melden Insolvenz an. Es wird nicht die letzte Pleite sein. (…)
Um den „Um- bzw. Abbau des Sozialstaats zu legitimieren, hat die neoliberale Politik die Nationalkonservativen und Rechtspopulisten entfesselt und ihnen eine politische Berechtigung verschafft. Tabugrenzen wurden rücksichtslos überschritten und Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt. Sich dieser Ungerechtigkeit entgegen zu stellen und sich gegenüber dem Kapital zur Einheit zusammen zu schließen, ist somit Teil des antirassistischen und antifaschistischen Kampfs. Dafür brauchen wir Solidarität als Gegenmacht gegen jegliche Spaltungsversuche. Und Solidarität ist nicht statisch, sondern muss täglich organisiert werden. Für uns Gewerkschaften ist klar: Wir treten Rassismus, Rechtsextremismus und völkischem Nationalismus mit Weltoffenheit, Antifaschismus und Solidarität entgegen – in den Betrieben und in der Gesellschaft.
„Wehret den Zuständen“ Dafür stehen wir und kämpfen wir heute.
Abschließen will ich mit den Worten von Esther Bejarano: Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“
Danke.“
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