Von Sahra Barkini – Stuttgart. Ein breites Bündnis aus Klima- und Antikriegsgruppen, Gewerkschaften und weiteren Initiativen hatte am Samstag, 7. Dezember, eine Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt initiiert. Das Motto lautete: „Für eine Welt in der niemand fliehen muss – Zeit zu handeln“. Es beteiligten sich etwa 1000 Menschen.
Bei der Auftaktkundgebung in der Lautenschlagerstraße machte die Ska Band „No Sports“ gute Stimmung. Einer der Redner war Dariush, er war Kapitän auf dem Seenotrettungsschiff Iuventa. Er ging auf die katastrophale Situation auf dem Mittelmeer und an Europas Außengrenzen ein. Auch ihm drohen 20 Jahre Haft, nur weil er Menschenleben gerettet hat.
Die Mission der Iuventa war Menschen zu retten, wo es möglich ist, und ihnen Schutz bieten, wo es nötig ist. Die Europäische Union hingegen setze seit Jahren auf Migrationsabwehr. Sie lasse Menschen wissentlich ertrinken, mache Geflüchtete und Migranten zu Illegalen, aber finanziere die libyschen Milizen, die dann die Menschen in Internierungslager verschleppen, in denen ihnen Folter, Vergewaltigung oder der Tod drohen.
Dariush: Viele Menschen haben keine Wahl
Dariush weiter: „Es bräuchte keine zivile Seenotrettung, wenn europäische Regierungen den Menschen nicht das Recht verweigern würden, Schutz und Asyl zu suchen.“ Er selbst hatte die Wahl, ob er nochmal aufs Mittelmeer fährt, auch wenn ihm Gefängnis droht, oder zuhause zu bleiben. Er blieb zuhause. Aber viele Menschen haben diese Wahl nicht, und er hofft, dass wenigstens einige überleben. Seine Rede beendete er mit den Worten: „Für das Leben, gegen den Tod.“
Ein Vertreter des Antikapitalistischen Blocks verdeutlichte den Zusammenhang zwischen Fluchtursachen und Kapitalismus. Er nannte es eine Notwendigkeit, sich zu organisieren, um die gesellschaftliche Zustände, die zu Flucht und Krieg führen, zu ändern. Außerdem nahm er Bezug auf aktuelle Kämpfe im Irak, in Chile und Bolivien. Sie zeigten, wie Widerstand gegen den Kapitalismus aussehen könnte.
Trotz des verregneten Wetters ließen sich die DemonstrantInnen die Stimmung nicht vermiesen und zogen – angeführt von einem Delegiertenblock aus VertreterInnen der unterstützenden Organisationen durch die Stuttgarter Innenstadt. Sie sorgten mit lautstarken Parolen für eine kämpferische Stimmung und zogen die Aufmerksamkeit der PassantInnen und Weihnachtsmarkt BesucherInnen auf sich.
Auch Umweltzerstörung führt zu Flucht
Bei einer kurzen Zwischenkundgebung vor dem neuen Schloss wurden Kreuze in der Wiese aufgestellt. Sie sollten symbolisch für die tausenden Toten stehen, die durch deutsche Außenpolitik im Krieg oder auf der Flucht gestorben sind. Außerdem wurde noch ein großes Hochtransparent mit der Aufschrift „Deutsche Waffen, Deutsches Geld morden mit in aller Welt – Fluchtursachen bekämpfen“ aufgespannt. Eine Aktivistin von Ende Gelände thematisierte die Umweltzerstörungen als Fluchtursachen, denn die Zerstörung der Umwelt bedeutet für viele Menschen den Verlust ihrer Lebensgrundlage und zwingt sie zur Flucht.
Die Demonstration führte am Karlsplatz vorbei über die Hauptstätter Straße und durch die Eberhardstraße zum Rotebühlplatz. Auf dieser Strecke wurden im antikapitalistischen Block mehrfach Pyrotechnik gezündet und Konfettikanonen abgeschossen. Es wurden Parolen wie „A-Anti-Antikapitalista“, „Brecht die Macht der Banken und Konzerne“, „Siemens, Daimler, Deutsche Bank – der Hauptfeind steht im eignen Land“ gerufen.
Auch die Deutsche Bank profitiert
Einige DemonstrantInnen griffen zur Sprühdose und hinterließen Parolen auf der Demoroute. Kurz vor der Abschlusskundgebung auf dem Rotebühlplatz wurde eine Filiale der Deutschen Bank mit Schildern markiert und mit Flatterband abgesperrt. Auf den Schildern wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Deutsche Bank mit ihren Geschäften an Kriegen und Umweltzerstörung mitverdient und somit ein Profiteur von Fluchtursachen sei.
Am Rotebühlplatz spannten einige AktivistInnen ein Transparent mit der Aufschrift „System der Krisen“ auf. Symbolisch wurde das „System der Krisen“ abgebrannt und ging in Flammen auf. Darunter kam ein weiteres Transparent mit der Aufschrift „Widerstand weltweit“ zum Vorschein. Damit wollten sich die DemoteilnehmerInnen mit den aktuellen internationalen Kämpfen solidarisieren.
Wilk: Der türkische Angriff ist ein Kriegsverbrechen
Auf der Abschlusskundgebung sprachen der Arzt Michael Wilk und der Bundestagsabgeordnete der Linken Tobias Pflüger. Auch hier sorgte die Ska Band „No Sports“ für gute Stimmung.
Michael Wilk war seit 2014 immer wieder in Rojava, zuletzt im Oktober dieses Jahres. Er berichtete von seinen Erlebnissen an der Front. Ziel der Türkei sei, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu zerstören. Das türkische Vorgehen sei ein Kriegsverbrechen erster Güte.
Wilk kritisierte sowohl die Europäische Union als auch die deutsche Regierung dafür, dass sie für den türkischen Angriffskrieg höchstens Lippenbekenntnise übrig hätten. Von Rojava könne man sich auch in Deutschland eine Scheibe abschneiden, was die Gleichberechtigung von Männern und Frauen betrifft. Wilk weiter: „Erdoğan braucht den Krieg in Rojava, um über die nationalistische Schiene das Land zu spalten in kurdische Angehörige und türkische Volksstämmige. Dies ist ein Widerspruch, den wir auch so nicht sehen, denn der Widerspruch besteht zwischen oben und unten und nicht zwischen Bevölkerungsgruppen.“
Scharfe Kritik an Russland und den USA
Für Wilk wäre es eine sinnvolle Politik gewesen, die Veränderung in Rojava zu unterstützen. Stattdessen überfiel das Natoland Türkei am 9. Oktober Nordsyrien. Wilk weiter: „Unter Duldung der USA, unter Duldung Russlands – und das sag ich auch den hier anwesenden Russlandfreunden, das ist mir als Anarchist völlig unverständlich. Denn Russland ist auch ein diktatorisches Regime, das mit basisdemokratischen Verhältnissen nichts zu tun hat, schminkt euch das ab. Rojava wurde mit Duldung des imperialistischen Staats Russland und des imperialistischen Staats USA überfallen. Jeder, der das verleugnet, lügt sich was vor.“
Er kritisierte weiter, dass die Türkei als Natopartner sein Unwesen treibe und die anderen Natoländer nicht eingriffen. Europa ergehe sich nur in Mahnungen und Lippenbekenntnisse. Leute flüchteten nicht ohne Grund. Nicht Flüchtlinge sind das Problem, sondern die Gründe, die Menschen zur Flucht treiben. Zum Abschluss seiner Rede sagte Wilk: „Hört nicht auf, misstrauisch zu sein. Hört nicht auf euch zu engagieren. Es ist bitter notwendig, dass Leute wie wir an die Maßstäbe humanitären Denkens und Handeln mahnen, denn die Politik hat völlig versagt.“
Pflüger fordert Abschiebestopp
Tobias Pflüger sprach darüber, wie der deutsche Imperialismus mit Hilfe von Kriegen und Ausbeutung Menschen in die Flucht zwingt, und berichtete von seiner Reise nach Jordanien. Das Land habe 7,8 Millionen EinwohnerInnen und 1,5 Millionen syrische Geflüchtete aufgenommen. Dagegen gab es kaum Protest. Die Geflüchteten wurden von der jordanischen Gesellschaft integriert, das sei vorbildhaft. Mit dieser Demonstration werde auch ein Zeichen gegen Rechts und gegen die Hetze gegen Geflüchtete gesetzt.
Pflüger betonte außerdem, dass Afghanistan kein sicheres Herkunftsland sei. Kein Innenminister habe bisher die Frage beantworten können, welches Gebiet in Afghanistan sicher sei. Der Abgeordnete forderte einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan. Denn Abschiebungen seien unmenschlich.
Tanz aus Chile als Highlight
Mit einem Tanz aus der Protestbewegung ihrer Heimat, der nach den massiven Protesten in Chile um die Welt ging, setzten chilenische AktivistInnen ein letztes Highlight. Er richtete sich gegen sexualisierte Gewalt an Frauen und benannte den chilenischen Staat als mitschuldig. „El violador eres tú – Der Vergewaltiger bist du“ Diesem Tanz, der inzwischen in vielen Teilen der Welt getanzt wird, schlossen sich auch viele Kundgebungsteilnehmerinnen an. Zum Abschluss riefen alle vereint die bekannte Parole: „El Pueblo unido jamás será vencido!“ Mit einem weiteren Song von No Sports wurde die Demonstration beendet.
Am Rande der Demonstration war es zu kleineren Pöbeleien von PassantInnen gekommen. Am Rotebühlplatz stimmte eine Türkin nicht mit der gerufenen Parole „Erdoğan Terrorist“ überein und beschwerte sich lautstark, dass Erdoğan „gut sei“ die OrdnerInnen der Demonstration hatten die Situation aber schnell im Griff. Sowohl die aufgebrachte Passantin als auch der Demozug zogen weiter.
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