Von Angela Berger – Stuttgart. Genau einen Tag und zehn Jahre nach der Premiere trafen sich am Montag, 3. Februar, etwa 4000 DemonstrantInnen am Stuttgarter Bahnhof, um zum 500. Mal gegen Stuttgart 21 zu protestieren und auf die Mängel des Tiefbahnhof- und Immobilienprojekts hinzuweisen. Denn am 2. Februar 2010 war der Prellbock 049 symbolisch aus dem Gleisbett gehoben und medienwirksam mit allerlei Prominenz von gestern fotografiert worden. Danach kam er wieder an ein Gleis im Hauptbahnhof Stuttgart und versieht weiterhin seinen Dienst.
Das hat schon Symbolkraft. Denn die Entfernung des Prellbocks steht für vieles bei S21, was nur vordergründig wie eine gute Idee aussieht. Zur Jubiläumsdemonstration waren hochkarätige Redner geladen. Etwa Prof. Hermann Knoflacher von der TU Wien, Planer der Wiener Verkehrspolitik und des 365-Euro-Tickets im ÖPNV, Autor unter anderem von „Virus Auto. Geschichte einer Zerstörung“ und Ideengeber für unkonventionelle Aktionen gegen die Autoflut. Aber auch Prof. Heiner Monheim aus Trier, Leiter des Institut für Raumentwicklung und Kommunikation (raum.kom), Mitbegründer von „Bürgerbahn statt Börsenbahn“. Ebenso Timo Brunke, Wortkünstler und Konzertpoet, und Joe Bauer, Stadtflaneur und Journalist. Musikalisch wurde die von Angelika Linck moderierte Veranstaltung vom Lenkungskreis Jazz untermalt.
Prof. Hermann Knoflacher nannte drei Ursachen für derartige unsinnige Großprojekte: fachliche und wissenschaftliche Ignoranz, politisches Versagen und moralisch-ethische Mängelerscheinungen. Angesichts des aktuellen Klimaproblems und der anstehenden Verkehrswende seien S 21 und auch viele andere Großprojekte „ein Bosheitsakt gegen die Zukunft“.
Bahnchefs aus der Autoindustrie
Prof. Heiner Monheim erinnerte daran, dass Stuttgart eine Autostadt sei, in der es von völlig überdimensionierten vier- oder sechsspurigen Straßen mit den dazugehörigen Kreuzungen wimmelt. Alles hätte sich mit weit weniger Geld stadtverträglich umgestalten lassen. Stattdessen würden die Investitionen „voll ins Loch“ gesteckt. Es werde ein Flaschenhals zur Lasten der Region geschaffen. „Hochgeschwindigkeitsschnell“ würden regionale Bahnkunden wertvolle Reisezeit verlieren.
Das werde die Konkurrenzfähigkeit der Schiene gegenüber der Straße massiv beeinträchtigen und verhindern, dass Reisende umsteigen. Raus aus dem Stau komme man nur durch weniger Autoverkehr. Doch vielleicht sei das ja das heimliche Ziel der Erfinder von S21 gewesen: die Zukunft der Autostadt und Autoregion Stuttgart auch langfristig zu sichern durch ein kapazitätsbegrenztes Bahnsystem und einen Flaschenhalsknoten. Die Bahnchefs Dürr, Mehdorn und Grube seien ja aus der Luftfahrt- und Autoindustrie gekommen und sicher keine begeisterten Bahnfahrer.
Prof. Monheim befürchtet, dass am Ende das bekannte Kindermärchen von den Schildbürgern in Stuttgart traurige Aktualität erhalten wird, wenn „der milliardenteure Bahnhof keine Betriebsgenehmigung erhält und dann für weitere zig Milliarden umgebaut werden muss.“ Er schloss mit einem Appell an die Verantwortlichen in Politik, Verwaltungen und bei der DB: „Sorgen Sie dafür, dass der Hauptbahnhof Stuttgart die nötige Gleis- und Bahnsteigkapazität bekommt, die er als zentraler Bahnknoten im Südwesten für das Zusammentreffen aller Fernzüge und Regionalzüge im Taktknoten braucht. Ohne oberirdische Gleise ist die benötigte Kapazität nicht darstellbar. Also: Oben bleiben!“
Kein unterirdischer Flaschenhals!
Auch schon vor zehn Jahren hatten die Gegner von S21 auf die vielen Risiken des Projekts hingewiesen. Sie informierten mit Fachkenntnis und Geduld. Aus ihrer Sicht war S21 ein nach Korruption und Geldwäsche stinkendes Immobilienprojekt. Es sei nie darum gegangen, einen funktionierenden Bahnhof zu bauen. Nie um die sogenannte Magistrale (West-Ost-Achse) von Europa, nie um den Taktfahrplan, für den der Tiefbahnhof ohnehin nicht geeignet ist, nie um eine Bahn für die Bürger und die Region.
Die Hauptakteure von damals betrifft nicht mehr, was sie begonnen haben. Die Menschen in der Region aber schon. Geblieben sind die Gegner des Projekts, die immer noch jeden Montag zusammenkommen und daran erinnern wollen, dass nichts „befriedet“ ist, wie es Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) gerne sähe. Auch wenn es weniger geworden sind, die auf die Straße gehen, sind es doch immer noch viel mehr, die S21 für Murks halten. Denn das Projekt wird mit den Ursprungsplänen von 1988 weiter durchgezogen.
„Einen unterirdischen Bahnhof, der wie ein Dinosaurier auf der Kreuzung sitzt – das braucht kein Mensch!“, sagte Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Parkschützer. „Wir brauchen keinen Tunnelbahnhof, der einen ordentlichen Taktfahrplan verhindert, statt das Reisen schneller und angenehmer zu machen. Wir brauchen keinen unterirdischen Flaschenhals, der den Energieverbrauch des Bahnfahrens vervielfacht statt klima- und umweltfreundliche Mobilität für alle zu gewährleisten. Wir haben in Stuttgart einen gut funktionierenden Hauptbahnhof, der mit seinen 16 Gleisen bestens gerüstet ist für Deutschlandtakt und Zuwächse bei den Fahrgastzahlen. Es ist höchste Zeit, den Kopfbahnhof zu sanieren und mit Umstieg 21 echte Verbesserungen für Stadt und Region umzusetzen.“
Die Kosten verdoppelt
Was als Vorzeigeprojekt, als Aushängeschild der deutschen Ingenieurskunst und wegen der Einsparung an Zeit bei Zugreisen quer durch Europa begann, sei jetzt, zehn Jahre später, ein riesen Loch im Herzen der Landeshauptstadt. Unmengen an Beton und Stahl wurde bisher verbaut, und das nur, um eine Haltestelle statt eines Bahnhofs zu bauen.
Abgesehen von den Kapazitätsengpässen, den Brandschutzrisiken und den Sicherheitsbedenken an verschiedenen Stellen soll der Reisende schon weit draußen in einen engen Tunnel fahren und Stuttgart so auch wieder in einem Tunnel verlassen, ohne auch nur eine Chance zu bekommen, ein Blick auf die Stadt zu werfen. Das solle dann der Fortschritt schlechthin sein.
Das die Kapazität nicht reichen wird, um den Anschluss an die Metropolen zu halten, sei längst bekannt und eine einfache Rechnung. Noch einfacher werde sie, wenn es um die Kosten geht. Mittlerweile sind sie schon auf das Doppelte angestiegen – mit nach oben offenem Ende. Ältere persönliche Prognosen einiger S21-Gegner von etwa 10 bis 12 Milliarden Euro gelten längst nicht mehr als Phantasie.
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