Von Franziska Stier – Basel. Wegen der Corona-Verordnung wurden alle offiziellen 1. Mai-Kundgebungen in der Schweiz abgesagt. Der Gewerkschaftsbund verlegte die Kundgebungen ins Digitale. So sollten in Basel beispielsweise rote Fahnen aus den Fenstern gehängt werden, und in einem Livestream wurden Grußbotschaften und Reden übertragen. Daneben gab es zahlreiche Aufrufe zum Balkonsingen. Das revolutionäre 1. Mai-Bündnis Basel rief zu sichtbarem Protest auf der Straße auf, „um der Vereinzelung entgegen zu wirken“.
Gleichzeitig wurden aber auch die Risiken benannt. So hieß es auf dem Plakat: „Wir schützen uns und andere: Wir halten Abstand zueinander und tragen Masken“, was mehrheitlich funktionierte. Daneben wurde die Demo via Online-Radio übertragen, um auch Risikogruppen eine Teilhabe zu ermöglichen.
Rund 800 Menschen folgten dem Aufruf und versammelten sich in Kleingruppen in der Klybeckstrasse. Gegen 14.30 Uhr brachen die Gruppen zu einem Demonstrationszug durch die Innenstadt auf. Die Polizei hielt sich im Hintergrund.
Auf Transparenten griffen AktivistInnen die vielfältigen Facetten der Krise auf. Der Ignoranz gegenüber Geflüchteten in Griechenland und der faktischen Außerkraftsetzung des Asylrechts stellten sie die Botschaft der Solidarität entgegen. Sie dürfe nicht an den Landesgrenzen aufhören.
Aber auch der Pflegenotstand wurde thematisiert. In den letzten Wochen verschlechterte sich die Situation in den systemrelevanten Berufen deutlich. Der Bundesrat setzte für Pflegekräfte die ohnehin schon mageren Schutzbestimmungen des Arbeitsgesetzes (mit bis zu 60 Stunden pro Woche, wenn gewisse Pausen eingehalten werden) für sechs Monate außer Kraft, und auch der Druck beim Verkaufspersonal nahm zu. Die Baubranche machte hauptsächlich durch zu wenig Schutz und nicht eingehaltene Abstandsregeln von sich reden. Aber auch die Klimakrise, fehlende finanzielle Anerkennung für unbezahlte Sorgearbeit und die Wohnungsnot wurden am 1. Mai thematisiert.
Heftige Kritik von links bis rechts
Die Demonstration erntete scharfe Kritik in den (sozialen) Medien. Während das deutsche Bundesverfassungsgericht auf die Hoheit der Demonstrationsfreiheit hinwies und die Behörden trotz Corona-Maßnahmen anwies, die Durchführung von Demonstrationen zu prüfen und statt Verboten Auflagen zum Gesundheitsschutz zu erlassen, bleibt die Demonstrationsfreiheit in der Schweiz trotz Lockerungen der Coronaregeln im Konsumbereich außer Kraft.
In anderen Schweizer Städten griffen die Behörden hart durch. So untersagte die Berner Polizei selbst vereinzelten RentnerInnen einen Marsch durch Bern (siehe Video „Polizei stoppt 97-Jährigen an 1. Mai-Marsch„). In Basel wurden laut Polizeiangaben rund 45 Kontrollen durchgeführt und teilweise Anzeigen wegen Verstoßes gegen die Covid-19-Verordnung erstattet (siehe „45 Verzeigungen nach unbewilligter Kundgebung„). Aber eine Auflösung gab es mit Blick auf Deeskalation und Verhältnismäßigkeit nicht.
Im Anschluss an die Demonstration forderten bürgerliche Jungparteien den Rücktritt einer BastA!-Großrätin, die an der Demo teilgenommen hatte. SVP-Mitglieder wünschen sich gar mit Blick auf die anstehenden Wahlen im Herbst einen Bruch im linken Lager und setzen Sozialdemokratie und Grüne unter Druck, mit der Basler Linkspartei BastA! zu brechen. Da die Rechtspopulisten eine Woche zuvor das Ende des Lockdowns und die Wiederherstellung der „verfassungsmässigen Ordnung“ forderten, lässt sich die Empörung jedoch als politische Strategie verstehen.
Das Spiel mit der Angst
Die ersten Corona-Maßnahmen wurden mit der Begründung „Flatten the curve“ in Kraft gesetzt, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Nun wurden – nicht zuletzt auf Druck der Wirtschaft – erste Lockerungen veranschlagt. Ende April öffneten Schweizer Bau- und Gartenmärkte. Friseur- und Tattoo-Termine konnten wieder aufgenommen werden. Am 11. Mai sollen auch Schulen, Museen und die Gastronomie wieder öffnen. Im Juni folgt ein nächster Schritt mit Ermöglichung von Vereinsaktivitäten. Großereignisse bleiben bis auf weiteres ausgesetzt.
Das „Fahren auf Sicht“ bleibt eine Herausforderung, nicht nur für Politik und Behörden, denn die Maßnahmen zum Schutz vor der Epidemie zeigen Wirkung, aber auch heftige Nebenwirkungen. Während die einen schmerzliche Verluste von FreundInnen und Verwandten betrauern, macht anderen die Isolation, die Existenznot oder die Sorge über eine bevorstehende Rezession psychisch zu schaffen. Dabei rückt das Verständnis für die Lage des anderen in den Hintergrund.
Zunehmendes Denunziantentum und öffentliche Zurechtweisungen von RentnerInnen, die das Haus verlassen, stehen Gedränge an der Supermarktkasse gegenüber. Von gegenseitiger Rücksichtnahme im Alltag ist seit den Hamsterkäufen wenig zu spüren. Lediglich die Alltagsfloskel: „Wie geht es dir?“ scheint etwas ernster gemeinter zu sein als vor dem Corona-Ausbruch. Doch scheint es, als sei das Augenmaß bei vielen nicht nur in der Frage des eigenen WC-Papierbedarfs verloren gegangen. Mit „Law & Order“ lassen sich weder die Pandemie noch ihre Folgen bekämpfen.
Zur Transparenz:
Franziska Stier ist Parteisekretärin der Partei BastA!
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