Von Sahra Barkini – Stuttgart. Erneut zogen am Samstag, 20. Juni, rund 350 KurdInnen und AntifaschistInnen durch die Stuttgarter Innenstadt. Sie demonstrierten gegen die militärische Offensive der Türkei im nordirakischen Kurdengebiet. Ein Großaufgebot von Polizeikräften begleitete die Demonstration.
Die Türkei hatte rund eine Woche zuvor die Umgebung des Flüchtlingslagers in Makhmour und Shingal bombardiert. Der erneute Angriffskrieg startete unter dem Namen „Adler Klaue“. Dies wollten die KurdInnen auch in Stuttgart nicht unbeantwortet lassen.
Rojava verteidigen – Angriffskrieg stoppen
Der vom „Demokratisch Kurdischen Gesellschaftszentrum“ organisierte Protestzug startete in der Lautenschlagerstraße und zog lautstark über die Theodor-Heuss-Straße zum Rotebühlplatz, über die Eberhardstraße und dann zum Marktplatz. Die Abschlusskundgebung fand auf dem Karlsplatz statt. Das Motto der Demonstration war: „Stoppt den Krieg des Nato-Partners Türkei – Freiheit für alle politischen Gefangenen“. Auf Schildern und Transparenten war unter anderem zu lesen: „Die Revolution in Rojava verteidigen, den Angriffskrieg der Türkei stoppen“ und „Jin Jiyan Azâdi“.
Am Rotebühlplatz trafen die DemonstrantInnen auf eine Kundgebung des „Grup Yorum Solidaritätskomitee“. Es wurde Gerechtigkeit gefordert und über die AnwältInnen Ebru Timtik und Aytac Ünsal informiert, die sich in der Türkei im „Todesfasten“ als letzter Protestmöglichkeit befinden. Mitglieder der „Grup Yorum“ werden in der Türkei immer wieder inhaftiert. Erst vor kurzem starben Bandmitglieder im Gefängnis. Auch sie befanden sich im „Todesfasten“.
Trotz friedlicher Demonstration filmte die Polizei
Die TeilnehmerInnen der Kundgebung und die Demonstrierenden skandierten zusammen Parolen wie „Hoch die Internationale Solidarität“, bevor der Demonstrationszug weiter zog. Während der Demonstration wurden Rauchfackeln gezündet. Der Protestzug verlief insgesamt friedlich. Dennoch sah sich die Polizei wohl dazu veranlasst, den Demonstrationszug und die Teilnehmenden ständig zu filmen und zu fotografieren.
Nach der Abschlusskundgebung wurde ein einzelner Demonstrationsteilnehmer einer Personenkontrolle unterzogen, die beinahe eine Stunde in Anspruch nahm. Auf Nachfrage unserer ReporterInnen wurde vom Versammlungsleiter und dem Kontrollierten mitgeteilt, die Polizei vermute, er sei der eigentliche, „geheime“ Versammlungsleiter.
Kommentar von Alfred Denzinger: Verbotene Filmerei der Polizei? – Offensichtlich meinen die Ordnungshüter, sich diesbezüglich alles erlauben zu können
Anfang der 2010er Jahre nahm die Unart dieser Polizeipraxis stark überhand. Wir dokumentierten in den Beobachter News im Jahr 2012 dieses rechtlich extrem bedenkliche Polizeiverhalten. Auch das Innenministerium wurde damals über diesen Missstand informiert. Die Praktiken wurden zwar eingeräumt, aber man redete sich mit angeblichen „Funktionsprüfungen der Kameras“ heraus.
Da das Thema immer wieder Einzug in unsere Demo-Berichte fand und sich seiner auch das damals aktive Stuttgarter Bündnis für Versammlungsfreiheit annahm, änderte die Polizei in diesem Punkt ihre Praxis. Einige Jahre war auf Demonstrationen die Filmerei der Polizei nur noch selten zu beobachten. Das hat sich in den letzten Jahren allerdings massiv verändert.
Hemmungslose Film- und Fotoorgien
Die Beamten filmen und fotografieren inzwischen wieder ohne jegliche Scheu völlig hemmungslos bei fast allen Demonstrationen. Dies geschieht vorwiegend völlig offen. Bei den Betroffenen löst dies unweigerlich das Gefühl aus, gerade etwas Verbotenes zu tun. Soll dieses Polizeiverhalten suggerieren, das das Demonstrieren nichts für „anständige“ Bürger ist und DemonstrantInnen eher potentielle Straftäter darstellen?
Was geschieht eigentlich mit diesem umfangreichen Film- und Fotomaterial? Wandert es in Register gewisser staatlicher Stellen? Dient es zur Erfassung (unliebsamer?) politisch aktiver Menschen?
Legal, illegal, scheißegal?
Dürfen die das eigentlich? Oder ist es diesem Berufsstand völlig egal, was rechtens ist? Frei nach dem Motto: Ich darf alles, weil sich eh niemand dagegen wehrt?
Bereits im Jahr 2010 sprach das Verwaltungsgericht Berlin ein Filmverbot für die Polizei bei friedlichen Demonstrationen aus. Die Richter werteten die Überwachung als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Bürger würden dadurch abgeschreckt, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen, begründete das Gericht sein Urteil. Durch diese Einschüchterung könnte mittelbar auf den Prozess der Meinungsbildung und demokratischen Auseinandersetzung eingewirkt werden.
Gefilmt werden darf nur bei erheblicher Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
Nach dem Versammlungsgesetz dürfen Polizisten Demonstrationen nur filmen, „wenn von den Teilnehmern erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen“ (Verwaltungsgericht Berlin, Aktenzeichen VG 1K 905.09). Einen weiteren einschlägigen Beschluss veröffentlichte das Oberverwaltungsgericht Münster im November 2010. Dort hieß es, die Polizei dürfe eine friedliche Kundgebung nicht filmen (Aktenzeichen 5A 2288/09). Das Oberverwaltungsgericht lehnte in der Folge eine Berufung ab. Die staatlichen Stellen müssen sich also ihrer unrechtmäßigen Handlungsweisen durchaus bewusst ein.
Zurück zur Eingangsfrage: Verbotene Filmerei der Polizei?
Das Beantworten überlasse ich unseren LeserInnen selbst.
Vielleicht wird es Zeit, dass einE BetroffeneR gegen diese Polizeipraktik klagt.
Man sieht sich… auf der Straße… und vielleicht mal vor Gericht!
Video
Weitere Bilder des Tages
Folge uns!