Tübingen. Die Polizei durchsuchte am frühen Donnerstagmorgen, 2. Juli, mehrere Wohnungen in Baden-Württemberg, unter anderem in Tübingen. Um sechs Uhr morgens kamen etwa 30 vermummte BFE-PolizistInnen in das selbstverwaltete Wohnprojekt Lu15, heißt es in einer Mitteilung, in der BewohnerInnen gegen die „Willkür-Razzia“ protestieren. Ihr Grund war laut Staatsanwaltschaft Stuttgart der Vorwurf des Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung in drei Fällen. Ein Bewohner der Lu15 soll an einem Angriff auf Neonazis in Stuttgart beteiligt gewesen sein. Es sei unklar, wie die Polizei zu dem Vorwurf kommt, da die betreffende Person am Tattag nicht in Stuttgart gewesen sei. Bilder belegten dies. Am Donnerstagnachmittag gab es in Tübingen eine spontane Protestdemonstration gegen die Durchsuchung.
Die Polizei habe die Person mit auf die Wache und ihr gegen ihren Willen DNA abgenommen. Zusätzlich brisant ist, dass es sich bei dem Beschuldigten um einen Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten der Linken Tobias Pflüger handelt. Er arbeitet zur Zeit im Homeoffice. Dennoch ließ die Staatsanwaltschaft Material und technische Geräte wie Smartphones und Computer beschlagnahmen. Pflüger, verteidigungspolitischer Sprecher seiner Fraktion, sieht darin einen Angriff auf die freie Ausübung seines Abgeordnetenmandats.
Material „mit Mandatsbezug“
Der Mitarbeiter arbeite für ihn zu den Themen Rechtsextremismus und Kommando Spezialkräfte KSK in Calw, sagte der Abgeordnete in einem Interview mit dem SWR. Er habe einen Anwalt eingeschaltet, der die Rückgabe des beschlagnahmten Materials fordert. Auch die Tübinger Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken Heike Hänsel hat gegen die Durchsuchung der Lu15 protestiert (siehe unten im Wortlaut). Das Vorgehen sei kein Mittel eines Rechtsstaats und müsse ein Nachspiel im Bundestag haben. Auch der baden-württembergische CDU-Innenminister Thomas Strobl müsse sich dazu äußern.
Gewaltsames Vorgehen
Nach Angaben der BewohnerInnen der Lu15 drang die Polizei bei der Durchsuchung mit Taschenlampen und schwer bewaffnet in die Privatzimmer ein. Eine Bewohnerin des Hauses wertet das Vorgehen als „Einschüchterungsversuch“. Die BeamtInnen hätten die Wohnungstür gewaltvoll aufgebrochen. Teile der Wand seien abgerissen, abgebröckelter Putz liege um die kaputte Tür.
Ohne Vorwarnung seien die BeamtInnen in die Zimmer der Bewohner eingedrungen, hätten sie bewacht und kontrolliert. „Ich war nackt“, berichtet eine Bewohnerin, „als sie mich mit ihren Taschenlampen anleuchteten“. Ihr wurde nicht gesagt, ob sie ihr Zimmer verlassen dürfe oder nicht. Die BeamtInnen hätten zudem den Namen des Einsatzleiters nicht genannt.
Bereits die zweite Durchsuchung
Zum zweiten Mal in diesem Jahr habe die Polizei „das Sicherheitsgefühl im eigenen Haus“ angegriffen: „Mit diesem einschüchternden Verhalten versuchen sie die Lu15 zu traumatisieren“, so der Vorwurf der Bewohnerin. „Wenn die Polizei denkt, dass sie uns so klein kriegen könnte, irrt sie sich. Je öfter wir diese Art von Polizeigewalt erleben, desto entschlossener werden wir dagegen vorgehen“, insistiert sie (siehe hierzu auch „Gegen Polizeigewalt und Repression„).
Die BewohnerInnen werten die Razzia in der Lu15 als Versuch der Behörden, selbstbestimmtes Leben und Wohnen zu kriminalisieren. Die Lu15 werde als „Gefahr für die Gesellschaft“ stigmatisiert, so die Meinung aus dem Wohnprojekt, „was wir aber nicht sind, wir setzen uns für die Gesellschaft ein, gegen Krieg, Polizeiwillkür und Diskriminierung“. Die Lu15 leiste auch Nachbarschaftshilfe: „Uns ist es wichtig wie es unserem Viertel geht“, berichten Bewohner.
Zu Beginn der Corona-Krise richtete die Lu15 ein Nachbarschaftstelefon ein. Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören, können anrufen und erhalten Unterstützung. Mit dem Einsatz gegen die Lu15 greife die Staatsgewalt erneut die Tübinger Linke an. Die Bilder, die beweisen, dass die Person, der die Razzia galt, am Tattag nicht in Stuttgart war, lägen vor, seien aber nicht zur Veröffentlichung bestimmt.
Die Erklärung von Heike Hänsel im Wortlaut:
„Die Tübinger Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, Heike Hänsel, verurteilt die polizeiliche Hausdurchsuchung im Wohnprojekt LU15 in Tübingen.
Hänsel dazu: „Ich halte die gestrige erneute Hausdurchsuchung im Tübinger Wohnprojekt LU15 für absolut skandalös. Die Durchsuchung der Privaträume eines Mitarbeiters eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages, mit Beschlagnahmung von Parlaments-Dokumenten, offensichtlich ohne hinlängliche Beweise sind keine Mittel eines Rechtsstaates. Dies muss ein Nachspiel haben, auch im Bundestag. Denn eventuell geht es hier auch um sensible Dokumente. Während der betroffenen Person Landfriedensbruch in Stuttgart vorgeworfen wird, kann diese nachweisen, am fraglichen Tag nicht in Stuttgart gewesen zu sein, Staatsanwaltschaft und Polizei scheinen nicht einmal ausreichend ermittelt zu haben. Und wie bereits bei der Durchsuchung im Februar, stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit. Da es auch bei der Durchsuchung im Februar mehrere Rechtsbrüche gab, sowie mehrere Medien über schwerwiegende Vorwürfe berichtet haben, was in diesem Zusammenhang in Polizeigewahrsam geschehen ist, haben sich alle Bundestagsabgeordneten der Linken in Baden-Württemberg an den zuständigen Polizeipräsident und den Innenminister gewandt und um Aufklärung und Information gebeten. Bis heute haben wir allerdings keine Antwort erhalten. Die beiden Hausdurchsuchungen haben eindeutig den Charakter von Einschüchterung und Kriminalisierung. Innenminister Strobl muss hier Rede und Antwort stehen.“
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