Wolfsburg. In Frankreich gab es Aufregung wegen eines geplantem Verbots, Polizisten im Einsatz zu filmen. Nach starken Protesten zog die Regierung den entsprechenden Paragrafen ihres Gesetzesentwurfs zurück. Er soll nun überarbeitet werden. In Deutschland wird ein solches Verbot jedoch bereits praktiziert. Darauf weist die Projektwerkstatt Saasen hin. Als Beispiel führt sie den Fall eines Journalisten an, dessen Kamera und Ausrüstung die Polizei am 2. Juni bei einer Demonstration in Wolfsburg beschlagnahmte und bisher trotz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht wieder herausgab.
Ob von unabhängigen JournalistInnen oder durch die inzwischen omnipräsenten Smartphones: Immer öfter würden gewalttätige Übergriffe oder rechtswidrige Maßnahmen der Polizei dokumentiert, so die Projektwerkstatt. Dass das der Polizei nicht gefalle, liege nahe. In Frankreich sollte ein Gesetz erlassen werden, welches das Filmen der Uniformierten unter Strafe stellt. Die Aufregung über diesen Plan war groß. Dabei nutzten Polizei und Justiz hierzulande schon seit längerem einen Paragraphen des Strafgesetzbuches, um genau das Gleiche zu erreichen.
Bereits mehrfach habe die Polizei Kameras und Smartphones beschlagnahmt, mit denen ihr Handeln dokumentiert wurde. Von Privatpersonen oder der Presse, im Alltag oder auf Demonstrationen ziehe sie potentielle Beweismittel für eigene Gewaltanwendung oder rechtswidrige Handlungen aus dem Verkehr. Das Instrument dafür ist der Paragraph § 201 im Strafgesetzbuch. Er verbietet heimliche Tonaufnahmen. Da Filme immer mit Tonaufnahmen verbunden sind, nutze die Polizei diesen Paragraphen, um Menschen, die Polizeihandeln filmen, anzugreifen und ihnen Kamera plus bereits aufgenommene Daten wegzunehmen.
Dabei helfen der Projektwerkstatt zufolge weder die Urteile hoher Gericht, die eine solche Praxis untersagen, noch konkrete Anweisungen „von ganz oben“. Das habe jetzt ein Journalist feststellen müssen, der am 2. Juni 2020 die Einkesselung einer Demonstration in Wolfsburg filmte. Obwohl Versammlungen per se ein öffentlicher Raum sind und der Paragraph dort gar nicht passe, habe die Polizei den Journalisten festgenommen und durchsucht. Sie beschlagnahmte Kamera, Zubehör und alle bei ihm gefundenen Datenträger.
Bis heute bekam der Pressevertreter all das nicht zurück, obwohl das Bundesverfassungsgericht vor über einen Monat sowohl das Handeln der Polizei als auch die dazu ergangenen Beschlüsse von Amts- und Landgericht als Missachtung des Grundrechts auf Pressefreiheit geißelte und die Staatsanwaltschaft anwies, die Materialien herauszugeben. Geschehen sei jedoch nichts. Im Gegenteil: „Gegenüber einem nachfragenden Journalisten bestätigte die Staatsanwaltschaft, dass sie das Verfassungsgerichtsurteil einfach nicht beachten werde. Dabei log die Strafverfolgungsbehörde, sie hätte den Beschluss nie erhalten. Das ist nachweislich falsch, da der Anwalt des Journalisten den Verfassungsgerichtsbeschluss bereits am 27. Oktober 2020 an die Staatsanwaltschaft schickte.“
Den Hintergrund beschreibt die Projektwerkstatt so:
Am 2. Juni 2020 sammelten sich in Wolfsburg knapp 20 Personen nach einer Demonstration, die per Auflage nur auf Geh- und Radwegen stattfinden durfte, zu einer spontanen Versammlung. Sie wollten gegen ein zeitgleich laufendes Gerichtsverfahren wegen der VW-Blockade im August 2019, drei erneute Verhaftungen und die Bevorzugung des Autoverkehrs protestieren. Mit Sprüchen wie „In Wolfsburg sind die Straßen den Autos gewidmet“ drängte ein großes Polizeiaufgebot die DemonstrantInnen von der Straße und kesselte sie auf dem Geh- und Radweg, der dadurch knapp zwei Stunden vollständig unbenutzbar war.
Mehrere JournalistInnen filmten und fotografierten die Verhinderung der Kundgebung samt anschließender Personalienkontrollen und Platzverweise. Während MitarbeiterInnen lokaler Zeitungen den Anweisungen der Polizei folgten und viele rechtswidrige Handlungen nicht weiter dokumentierten, hielten zwei auswärtige JournalistInnen sie genau fest. Das missfiel der Polizeiführung. Der Journalistin Cecile Lecomte wurde ein Platzverweis erteilt. Sie wurde zur Überwachung ihrer Abreise von der Polizei bis zum Bahnhof begleitet. Der Journalist Jörg Bergstedt wurde sogar festgenommen. Die Polizei beschlagnahmte Datenträger und Kamera mit der Behauptung, das Aufnehmen von Polizeihandlungen sei eine Straftat.
Widersprüche beim Amts- und Landgericht bleiben erfolglos. Daraufhin reichte der so um sein Arbeitsmaterial Gebrachte Beschwerde beim Verfassungsgericht ein und hatte Erfolg. Die Staatsanwaltschaft muss die Geräte und die Daten des Journalisten herausrücken – tut es aber nicht. Das Verfassungsgericht rügte in seiner Entscheidung sehr deutlich, dass die entscheidenden Gerichte das Grundrecht der Pressefreiheit nicht berücksichtigt hätten. „Die amtsgerichtlichen Beschlüsse nehmen die in Rede stehende Pressefreiheit nicht in den Blick“, geißelten die Karlsruher RichterInnen eine völlige Grundrechtsblindheit im erstinstanzlichen Verfahren. Es lief in Braunschweig ab, wobei bis heute ungeklärt sei, weshalb sich das dortige Amtsgericht überhaupt für das Geschehen in Wolfsburg zuständig erklärte.
Die zweite Ebene argumentierte nur wenig besser. Zwar heißt es in dem Verfassungsgerichtsbeschluss: „Erstmals das Landgericht erkennt in seiner Beschwerdeentscheidung, dass die Pressefreiheit einschlägig ist.“ Doch dann verneine das Landgericht Braunschweig die Geltung von Grundrechten im Verdachtsfall von Straftaten: „Es nimmt sich mit seiner Argumentation, strafprozessuale Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der möglichen Begehung einer Straftat vorgenommen würden, beeinträchtigten die Pressefreiheit (von vornherein) nicht, indes die Möglichkeit, die gebotene Abwägung durchzuführen.“ Zudem hätte „das Landgericht seine Feststellung, die Beschlagnahme der Kamera sei weiterhin erforderlich, um die Straftat nach § 201 StGB beweisen zu können, nicht nachvollziehbar begründet.“
Mit der Eilentscheidung des Verfassungsgerichts – das Hauptverfahren folgt später – schien die erste Auseinandersetzung um die Polizeiübergriffe und den Kessel vom 2. Juni in Wolfsburg entschieden. Das war jedoch ein Irrtum, so die Projektwerkstatt, weil die Staatsanwaltschaft rechtswidrig sogar das Bundesverfassungsgericht zu missachten plane, um eigene Interessen durchzusetzen und die Polizei zu schützen. Etliche weitere Verfahren zu den Abläufen am 2. Juni laufen. So hätten fast alle Betroffenen Klagen gegen die Verhinderung einer Versammlung beim Verwaltungsgericht Braunschweig eingereicht. Außerdem erließ die Stadt Wolfsburg Bußgeldentscheide nach der Corona-Verordnung, weil die durch den Polizeikessel zusammengedrängten Menschen eine nicht genehmigte Ansammlung dargestellt hätten. „Hier decken sich mehrere Behörden gegenseitig, um in der VW-Stadt jede kleinste Kritik am Auto zu unterdrücken“, äußerte sich Jörg Bergstedt nach dem Verfassungsgerichtsspruch. Er hoffe, durch weitere Gerichtsentscheidungen das Grundrecht auf Versammlungen auch für Wolfsburg erkämpfen zu können. „Der Protest gegen Klimawandel, Flächenverbrauch, Lärm, neun Tote und 1053 Verletzte pro Tag muss gerade dort stattfinden dürfen, wo das Auto seine Hochburgen hat – und zwar nicht nur abgedrängt auf Fuß- und Radwege!“
Hier finden sich die gesamten Abläufe und Links zu den Dokumenten
Hier der Bericht der Journalistin Cecile Lecomte
Hier ein ein Medienbericht über die Weigerung der Staatsanwaltschaft, die Kamera herauszugeben
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