Von Sahra Barkini und Bruno Schmidt – Stuttgart/Bad Canstatt. Nach der Kundgebung zum Tag gegen Gewalt an Frauen gab es am Samstag, 28. November, eine Demonstration unter dem Motto: „Gewalt an Frauen* ist Alltag – We fight back“. Der Tag startete mit einer Auftaktkundgebung auf dem Schlossplatz. Im Anschluss zog ein Demonstrationszug mit etwa 200 TeilnehmerInnen durch die Stuttgarter Innenstadt. Am Rotebühlplatz wurde eine Zwischenkundgebung abgehalten, bevor die Demonstration zur Abschlusskundgebung zur Paulinenbrücke zog. Das „Aktionsbündnis 8. März“ hatte bereits am 25. November eine Kundgebung mit über 100 Teilnehmenden organisiert. Veranstaltungsort war der hintere Ausgang vom Bahnhof Bad Cannstatt, direkt gegenüber des Hauptsitzes der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft und dem Jugendhaus Cann. Es ging vor allem um sexualisierte Übergriffe auf Frauen am Arbeitsplatz.
Mehrere Redebeiträge beleuchteten bei der Kundgebung am Schlossplatz in der Stuttgarter Innenstadt die unterschiedlichen Facetten von Gewalt gegen Frauen. Eine Vertreterin von „Frauen helfen Frauen“ sagte, Gewalt gegen Frauen sei noch immer Alltag. Der gefährlichste Ort für Frauen sei nicht der dunkle Park oder die einsame Straße, sondern das eigene Zuhause. Jeden zweiten bis dritten Tag werde eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. Durch die Corona-Pandemie und die aus ihr resultierenden Einschränkungen müsse damit gerechnet werden, dass weltweit noch mehr Frauen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind.
Seit Jahren schon steigt in Stuttgart die Zahl der Polizeieinsätze bei häuslicher Gewalt kontinuierlich an, so die Rednerin. Im Jahr 2019 gab es 925 solcher Einsätze. Morde an Frauen würden oft als Beziehungstat abgetan und seien den Zeitungen nicht mehr als ein paar wenige Zeilen wert. Aber es sei kein Familien- oder Beziehungsdrama oder ein eskalierter Familienstreit. Es sei ein Mord, ein Femizid. Noch immer gebe es zu wenig Frauenschutzhäuser. Noch dazu sei es in Stuttgart fast unmöglich für alleinerziehende Frauen, eine Wohnung zu finden. Die Rednerin sagte: „Wir werden und wir dürfen nicht locker lassen, in der Öffentlichkeit die Politik auf diese Missstände hinzuweisen. Wir fordern eine konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention und ausreichend Frauenhausplätze.“ Zum Abschluss sagte sie: „Gewalt gegen Frauen darf kein Alltag mehr sein.“
Vergewaltigung als Kriegswaffe
Im Anschluss an die Rede zog der Demonstrationszug unter lauten Parolen wie „Frauen die kämpfen, sind Frauen die leben, lasst uns das System aus den Angeln heben“, „Gewalt an Frauen ist kein Einzelfall, Sexismus bekämpfen überall“, „Alle zusammen gegen den Sexismus“ zum Rotebühlplatz. Dort sprach unter anderem eine Rednerin über die Revolution in Rojava. Dort bauten Frauen und Männer eine Gesellschaft auf, die auf der Selbstbestimmung der Frau basiert. Auch dort werde, wie in jedem Krieg, Vergewaltigung durch die faschistische türkische Kriegspolitik als Waffe eingesetzt. Ziel sei es, so die Rednerin, den Willen und die Identität der kurdischen Frauen zu brechen, und somit die kurdische Bevölkerung langfristig zu paralysieren.
Die Rednerin sagte: „Wenn wir Frauen uns organisieren, bringen wir den Stein der Revolution ins Rollen. Denn jede Frau die sich organisiert, ist ein Verlust für die Ausbeutung und ein Gewinn für die Freiheit.“ Und weiter: „Gewalt gegen eine Frau, heißt Gewalt gegen uns alle. Jin Jiyan Azadî.“
Anschließend setzte sich der Demonstrationszug wieder unter lauten Rufen wie „However I dress, wherever I go, Yes means Yes and No means No“ über die Tübinger Straße zur Paulinenbrücke im Bewegung. Dort angekommen wurden Kerzen für alle Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden, angezündet und in einer Schweigeminute ihrer gedacht. Außerdem wurde der chilenische Tanz von Las Tesis „In vialador en tu Camino – ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ zusammen getanzt.
Übergriffe auch bei der Arbeit
Die Kundgebung in Bad Cannstatt wurde bereits am 25. November abgehalten, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Frauen auf der ganzen Welt beteiligen sich an diesem Tag traditionell an Protestaktionen. Denn sexualisierte Gewalt und Übergriffe sind auch am Arbeitsplatz keine Seltenheit. Statistisch erlebt jede achte Frau in Deutschland sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz. Die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen, denn die Hemmschwelle, über solche Vorfälle offen zu sprechen, ist bei Betroffenen sehr groß. Erst recht, wenn der Vorfall bei männlichen Arbeitgebern angesprochen, bei männlichen Polizeibeamten angezeigt, oder im Gericht vor männlichen Staatsanwälten und Richtern verhandelt werden muss.
Zur Kundgebung des „Aktionsbündnisses 8. März“ kamen über 100 Teilnehmende zum hinteren Ausgang des Bahnhofs Bad Cannstatt direkt gegenüber des Hauptsitzes der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft und dem Jugendhaus Cann. Zu Wort kamen eine Gewerkschaftssekretärin von Verdi und Frauen aus dem „Aktionsbündnis 8. März“, welche anonymisierte Zitate von betroffenen Frauen vorlasen. Sie machten deutlich, dass sexualisierte Übergriffe viele Formen haben können wie zum Beispiel Witze oder körperliches Bedrängen. Auch eine Mitschuld von Justizbehörden, der Polizei und Arbeitgebern wurde thematisiert. Es folgte eine Einlage der in Chile populär gewordenen Tanzperformance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg).
Gewalt wird unter den Teppich gekehrt
Ein Mitglied des Elternbeirates einer KiTa erklärte in einem weiteren Wortbeitrag, dass mehrere angestellte Frauen die KiTa aufgrund sexualisierter Übergriffe gegen sie verlassen haben und dabei auch finanzielle Einbußen in Kauf nahmen. Er bedankte sich bei dem Orga-Team der Kundgebung und allen, die sich dafür einsetzen, das Kinder einer einer solidarischen Gesellschaft leben und aufwachsen können.
Thema war auch der soziale Träger Stuttgarter Jugendhausgesellschaft, kurz StJG. Dort waren Angestellte laut Schilderungen des „Aktionsbündnisses 8. März“ von frauenfeindlichem Verhalten und sexualisierten Übergriffen ihrer Kollegen betroffen. Dem Träger vorgeworfen wird, dass dieser seiner Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachgekommen sei und keine präventive Maßnahmen umgesetzt habe, um zukünftig etwaige Übergriffe zu verhindern.
Direkt im Anschluss an die Kundgebung formierte sich ein kurzer Demozug zur Geschäftsstelle der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft. An der gesamten Gebäudefassade und am Eingang wurden Plakate angebracht mit Aussagen wie „Mittäter seid Ihr“ und „we fight back“. Diese wurden ergänzt durch ein „Sexismus-Siegel“, welches an der Eingangstüre zur Geschäftsstelle befestigt wurde. Ebenfalls wurde auf die Demonstration vom 28. November aufmerksam gemacht. Eine Sprecherin des Aktionsbündnis betonte die Notwendigkeit, sich zusammenschließen, sich zu organisieren und sich gegenseitig Halt zu geben. Die kapitalistischen Verhältnisse, in denen Frauen systematisch schlechter gestellt sind, müssten grundlegend angegangen werden. Denn diese normalisieren und legitimieren Gewalt gegen Frauen, so die Sprecherin.
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