Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. Eigentlich wollten die Anstifter den diesjährigen Stuttgarter Friedenspreis bei einer Gala an Julian Assange verleihen. Bascha Mika, frühere Chefredakteurin der taz und nun in gleicher Funktion bei der Frankfurter Rundschau, sollte die Laudatio halten. Die Corona-Pandemie hat die Gala verhindert. Stattdessen bot eine Kundgebung des Internationalen Netzwerks der Assange-Mahnwachen am Sonntag, 6. Dezember, Gelegenheit, Solidarität mit dem im Londoner Hochsicherheits-Gefängnis Belmarsh eingesperrten Journalisten und Whistleblower zu zeigen. Über tausend Menschen beteiligten sich weltweit per Live-Stream und vor Ort in Stuttgart.
Dort versammelten sich etwa 500 Menschen bei nasskaltem Wetter auf dem Schlossplatz vor dem Würfel des Kunstmuseums und harrten fast drei Stunden lang aus. Es gab Reden, eine Performance der Assange-Mahnwachen und Musik des Theodorakis-Ensembles. Besonders anrührend war der Auftritt von Stella Morris, der Lebensgefährtin von Assange. Sie war auf der Bühne zugeschaltet.
- Theodorakis-Ensemble
- Stella Morris
Vier auffällige Männer, teilweise ohne Maske, wohl „Querdenker“ und/oder AfD-Anhänger, mischten sich unter die Versammelten. Einer von ihnen mit AfD-Button und grüner K21-Mütze versuchte sehr offensichtlich zu provozieren, ein anderer stand mit der Handy-Kamera für alle Eventualitäten bereit. Es ging jedoch niemand auf den Provokationsversuch ein. Einige Kundgebungsteilnehmer kritisierten, dass die Versammlungsleitung die rechten Störer nicht aufforderte zu gehen. Neonazis sollten nirgendwo geduldet werden. Außerdem fürchteten sie Bildmaterial, das die „Querfront-Szene“ ausnutzen könnte.
Aufruf zum Aufstand der Anständigen
„Journalismus heißt, etwas zu drucken, von dem jemand will, dass es nicht gedruckt wird. Alles andere ist public relations“, stand auf einem der Schilder vor der Bühne. Julian Assange ist seit zehn Jahren nicht mehr in Freiheit, weil er neben weiteren brisanten Dokumenten ein Video veröffentlicht hat, das amerikanische Soldaten dabei zeigt, wie sie im Irak aus einem Hubschrauber heraus Zivilisten erschießen – unter ihnen auch Kinder. Statt die Kriegsverbrechen zu verfolgen, wollen die USA Assange vor Gericht stellen und bedrohen ihn mit jahrzehntelangen Freiheitsstrafen. Am 4. Januar entscheidet ein britisches Gericht über den Auslieferungsantrag der US-Regierung.
Peter Grohmann, Gründer der AnStifter, rief in Erinnerung, dass sich die Anstifter mit der Verleihung des mit 5000 Euro dotierten Friedenspreises an Edward Snowden, Giuliana Sgrena und Asli Erdogan schon mehrfach für die Freiheit des Wortes eingesetzt hätten. Julian Assange sei einer der bedeutendsten Journalisten der Welt. „Wir, die wir in relativem Wohlstand und Sicherheit leben, müssen uns in diesen Zeiten dreimal umdrehen, wenn Menschen unterdrückt werden“, rief Grohmann seine Zuhörer zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf.
Gnadengesuch für einen Unschuldigen
Assange befinde sich in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Das bestätigt Stella Morris, Assanges Lebensgefährtin: „Julian ist schwach. Es geht ihm sehr schlecht. Er wird im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh festgehalten zusammen mit 65 Schwerverbrechern. Von ihnen sind derzeit 23 positiv auf Corona getestet.“ Dass sich in Deutschland Menschen für die Freilassung Assanges einsetzten, beschrieb Morris als „herzerwärmend“.
Es sei eine Horrorvorstellung für Assange, in den USA in ein Sondergefängnis zu kommen, wie man es ihm angedroht habe. Dort werde man lebendig begraben, und das sei schlimmer als der elektrische Stuhl. Stella Morris hat an US-Präsident Trump geschrieben und um eine Begnadigung gebeten – obwohl er kein Verbrechen begangen habe. Bei der Entscheidung des britischen Gerichts über das Schicksal Julian Assanges gehe es um elementare Freiheitsrechte, ebenso wie im Fall Edward Snowden. Es gehe um die Freiheit der Presse. Das Urteil werde weltweite Folgen haben. Es sei ein „Missbrauch des Rechts“, dass Assange als Journalist im Gefängnis sitzt. Die amerikanische und britische Regierung zögen propagandistisch alle Register, um das zu rechtfertigen. Die Anklage sei ein Angriff auf Verfassungsrechte.
„Ein politisch Verfolgter“
Die Bundestagsabgeordnete der Linken Heike Hänsel, war schon mehrfach als Prozessbeobachterin in London. „Mit Julian Assange sitzen der investigative Journalismus und die Pressefreiheit selbst auf der Anklagebank. Er ist politisch verfolgt als Journalist und Gründer der Plattform Wikileaks“, stellte sie klar. Deshalb sei das gesamte Gerichtsverfahren eine Farce: „Julian Assange sollte nicht wie ein Schwerverbrecher behandelt werden, er sollte frei sein und den Friedensnobelpreis für das Aufdecken von US-Kriegsverbrechen erhalten.“
Von einem fairen Prozess könne jedoch in London nicht die Rede sein: „Er konnte sich im letzten halben Jahr nur zweimal kurz telefonisch mit seinen Anwälten besprechen, trotz einer neuen Anklageschrift durch die US-Seite.“ Die Öffentlichkeit werde weitgehend draußen gehalten. Aber auch aus den USA kommt Unterstützung für Assange: US-amerikanische Rechtsvereinigungen wie die American Association of Jurists (AAJ) und das Center for Constitutional Rights (CCR) haben gemeinsam mit international arbeitenden juristischen Institutionen und Juristen einen Brief an den britischen Premierminister Boris Johnson geschickt, um ihn von der Auslieferung Assanges an die USA abzuhalten: Die Auslieferung sei rechtswidrig, da die grundlegenden Prozessrechte für Assange nicht gewährleistet seien. „Was muss eigentlich noch passieren, damit die Bundesregierung ihr lautes Schweigen bricht?“, fragte Hänsel.
Auch in Deutschland setzen sich viele Prominente für die Freilassung von Julian Assange ein: etwa Günter Wallraff, Gerhart Baum, Herta Däubler-Gmelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sigmar Gabriel, Rudolf Dreßler, Peter Gauweiler, Wolfgang Schorlau, Georg Schramm, Klaus Staeck, Wolfgang Thierse, PEN-Zentrum Deutschland und viele mehr.
Internationale Prozessbeobachter behindert
„Es ist nicht hinzunehmen, wie jemand mitten in Europa seiner Menschenwürde beraubt wird“, sagte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp. Der Schweizer Jurist und UN-Sonderbeauftragte Nils Melzer bezeichnet den Wikileaks-Gründer als Opfer „psychischer Folter“, gegen ihn erhobene Vergewaltigungsvorwürfe als konstruiert. „Auch wer Julian Assange unsympathisch findet und Wikileaks kritisch sieht, kann den Umgang mit ihm nicht legitimieren“, erklärte sie. Auch der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Kulitz, der auf die Bühne zugeschaltet war, forderte „ein unabhängiges und rechtsstaatliches Verfahren“ für Assange.
- Margit Stumpp, MdB Die Grünen
- Christian Mihr, Reporter ohne Grenzen
- Alexander Kulitz, MdB FDP
Christian Mihr von „Reporter ohne Grenzen“ berichtete, dass die Zulassung internationaler Beobachter selbst „bei allen Willkürprozessen in der Türkei! gang und gäbe gewesen sei. Nicht im Verfahren gegen Julian Assange. Es handele sich nicht um einen Schauprozess, sondern um ein politisches Verfahren: „Es geht darum, welche Informationen Journalisten in Zukunft noch veröffentlichen dürfen.“ Seine Auslieferung wäre ein weltweiter Präzedenzfall gegen die Pressefreiheit: „Deshalb steht Reporter ohne Grenzen kompromisslos hinter Assange.“
Angriff auf die Pressefreiheit
Siegfried Heim, Landesfachbereichsleiter Medien von Verdi und Vertreter der dju (Deutsche Journalisten- und Journalistinnen Union), war früher selbst Journalist. Ob ein Land ein demokratischer Rechtsstaat ist, lasse sich auch daran festmachen, wie er mit Journalisten umgeht und was eine Regierung zum Geheimnis erklärt. „Journalismus ist kein Verbrechen“, stellte er klar. Die Veröffentlichung von Kriegsverbrechen sei die ehrenwerteste Arbeit eines Journalisten überhaupt und kein Grund, ihn an das Land auszuliefern, das die Kriegsverbrechen geheim halten will. „Eine Demokratie ist keine mehr, wenn sie einen Journalisten behandelt wie eine Diktatur“, stellte Heim klar. Auch Stefan Drößler, Sprecher des Bezirks Stuttgart-Nordwürttemberg von Amnasty International, kritisierte das „absolut unfaire Gerichtsverfahren“, das drohe.
- Wiltrud Rösch-Metzler
- Stefan Drößler, Amnasty International
Zu den weiteren RednerInnen gehörte Pax Christi-Bundesvorsitzende Wiltrud Rösch-Metzler. Es wurde auch eine Grußbotschaft von Konstantin Wecker verlesen, und das Theodorakis Ensemble spielte erneut.
Die Stellungnahme von Bascha Mika im Wortlaut:
„Stellen Sie sich vor: Eine Straße in Bagdad. Ein US-Kampfhubschrauber. Darin Männer, die ihren Spaß haben wollen. Indem sie auf Zivilisten schießen. Anpeilen, Feuer! Die Soldaten mähen zwölf Menschen nieder, darunter zwei Journalisten.
„Collateral Murder“ heißt das Video, das dieses Kriegsverbrechen dokumentiert. Wikileaks hat es veröffentlicht. So wie viele andere geheime Dokumente, die Regierungen, Banken, Militärs, Sektenführer und Firmenbosse an den Pranger stellen. Wegen ihrer korrupten Machenschaften, ihres Machtmissbrauchs, ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Um solche Vorgänge öffentlich zu machen, braucht es Mut und Aufklärungswillen. Beides hat Julian Assange mit Wikileaks bewiesen – dafür soll er büßen! Dafür büßt der Gründer der Enthüllungsplattform bereits seit Jahren mit seiner Freiheit, mit seiner psychischen und physischen Gesundheit.
‚Ich habe es noch nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammengeschlossen hat, um ein einzelnes Individuum so lange Zeit bewusst zu isolieren, zu dämonisieren und zu missachten.‘ Das sagt Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter für Folter. Er meint die Regierungen Schwedens, Ecuadors, Großbritanniens und der USA. Sie alle wollen, dass Julian Assange für den Rest seines Lebens im Gefängnis verrottet.
Weil er mit der publizistischen Arbeit von Wikileaks für Freiheit gestritten hat. Weil er als Whistleblower für Menschenrechte, für Gerechtigkeit und eine offene Gesellschaft eingetreten ist.
Julian Assange ist zum Symbol für Aufklärung und die Freiheit des Wortes geworden. Wer ihn verfolgt, verübt einen Anschlag auf die Meinungsfreiheit und will Whistleblower einschüchtern. Deshalb fordern wir im Namen des AnStifter-Friedens-Preises: Lasst Julian Assange sofort frei!“
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