Von Sahra Barkini – Stuttgart. „Solidarität mit Afghanistan“ war das Motto einer emotionalen Kundgebung am Samstag, 21. August, in der Stuttgarter Innenstadt. Etwa 900 Menschen versammelten sich, um deutlich zu machen, dass jetzt Solidarität mit den AfghanInnen und eine Luftbrücke notwendig seien, um die Schutzbedürftigen zu evakuieren. Zur Kundgebung aufgerufen hatten die Afghanische Community, die Afghanische Frauengruppe Stuttgart, der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, die Seebrücke Stuttgart und das Offene Treffen gegen Krieg und Militarisierung (OTKM).
Der politische Aktivist und Sänger Shekib Mosadeq flüchtete 2010 aus Afghanistan und lebt seit 2011 in Deutschland. Er sorgte für die musikalische Umrahmung.
Im Aufruf zur Kundgebung hieß es: Luftbrücke jetzt! Gefährdete Menschen sofort ausfliegen!
Die Ereignisse in Afghanistan überschlagen sich: Seit Ende Juni 2021 ist der Bundeswehreinsatz in Afghanistan beendet, die Taliban sind auf dem Vormarsch und setzen ihre Macht gewaltsam durch. Deutschland müsse jetzt Verantwortung übernehmen und den Menschen in Afghanistan so schnell wie möglich helfen. Im ersten Schritt gehe es darum, Menschen zu schützen, die für deutsche Behörden und Institutionen tätig waren oder sind. Diese seien nun besonderer Gefahr ausgesetzt. Man müsse jetzt schnell und unbürokratisch handeln, um der aktuellen Notsituation zu begegnen und tausenden Menschen das Leben zu retten.
- Faeza Ebrahimi
In mehreren emotionalen und bewegenden Reden wurde auf die Situation in Afghanistan aufmerksam gemacht. Unter der Taliban-Herrschaft litten nun Frauen und Mädchen am meisten. Afghanistan werde um 100 Jahre zurückgeworfen, so die erst 15-jährige Faeza Ebrahimi. Sie ist selbst 2015 geflüchtet und hegt die Hoffnung, „dass wir eines Tages nach Afghanistan zurückkehren und dort in Frieden und Freiheit leben können.“
Menschenrechte sind nicht relativierbar
Jama Maqsudi vom Deutsch-Afghanischen-Flüchtlingshilfe-Verein sagte in seiner Rede: „Menschenrechte sind nicht relativierbar, es gibt nicht ein bisschen Menschenrechte.“ Für ihn sind die Taliban von heute noch grausamer. Sie seien Wölfe im Schafspelz. PolitikerInnen dürften nicht auf sie reinfallen.
In weiteren Reden wurde an die Verantwortung deutscher PolitikerInnen appelliert. Die Rednerin vom OTKM kritisierte, dass im ersten Evakuierungsflug der Bundeswehr nur sieben Menschen evakuiert wurden, aber der Abtransport von Alkoholreserven durch die Bundeswehr penibel und von langer Hand geplant worden sei. Das Mindeste sei, den Menschen, die aufgrund der aktuellen Lage gefährdet sind, Schutz zu bieten. Stattdessen höre man chauvinistische Aussagen wie die des Kanzlerkandidaten der CDU Armin Laschet, der sagte, „2015 darf sich nicht wiederholen“. Die CDU hatte nie ein Problem mit dem Leid, das die Taliban verbreiten, so die Rednerin. In den 1980-ziger Jahren habe die CDU die Taliban als Freiheitskämpfer gegen den Sozialismus gefeiert und sie finanziell durch eine Spendensammelaktion unterstützt.
- Ronja, Seebrücke Stuttgart
- Rednerin vom OTKM
Ronja von der Seebrücke Stuttgart nannte die Lage in Afghanistan eine Katastrophe, für die unschuldige Menschen mit ihrem Leben zahlen müssen. Das von der Bundesregierung momentan häufig benutzte Wort „bitter“ beschreibe es nicht annähernd. An die Adresse deutscher Politiker wie Innenminister Horst Seehofer gerichtet fragte sie, wie es denn sein könne, dass er noch vor 16 Tagen, am 5. August, darauf gedrängt habe, weiterhin nach Afghanistan abzuschieben? An Außenminister Heiko Maas gerichtet fragte sie, wie es sein könne, dass im ersten Evakuierungsflug nur sieben Menschen ausgeflogen wurden, nur weil nicht mehr auf einer Liste standen.
Breite Evakuierung gefordert
Die Seebrücke fordere, dass alle gefährdeten Personen evakuiert werden. Dafür müssten Visa-on-arrival-Verfahren genutzt werden. Der Flughafen in Kabul müsse geschützt und die Priorisierung der Menschen müsse aufgehoben werden. Auch Menschen ohne Papiere müssten in Sicherheit gebracht werden. Die Nachbarländer und Binnenflüchtende müssten unterstützt werden.
Weiter sagte sie: „Wir brauchen jetzt eine Luftbrücke!“ und empfahl den KundgebungsteilnehmerInnen, sich auf der Seite: www.kabulluftbruecke.de zu informieren und den Bundestagsabgeordneten und Landtagsabgeordneten oder auch dem Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper zu schreiben.
Eine weitere Rednerin sagte: „Seid verdammt für diese Politik, mit der ihr uns das angetan habt! Ihr habt uns die Freiheit gegeben und dann in einer Nacht alles kaputt gemacht!“ Auf Plakaten und Transparenten war zu lesen: „Luftbrücke + Visa statt Grenzen und Bürokratie“, „Free Afghanistan“, „20 Jahre Kampf für Freiheit und jetzt Scharia“, „Wir brauchen eure Kriege nicht“, „Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt“. Immer wieder skandierten die KundgebungsteilnehmerInnen Parolen wie „Hoch die Internationale Solidarität“ und „Shame USA“, „Shame NATO“.
„Sag nicht, dass wir verloren haben!“
Der Sänger Shekib Mosadeq griff die sehr emotionale Stimmung dieses Samstagnachmittags in seinen Liedern auf. Unter anderem sang er „Bella Ciao“ auf Farsi. Ein weiteres Lied handelte von einem geflüchteten Jungen, der seiner Familie in der „verlorenen Heimat“ einen Brief schreibt. Eine Zeile daraus: „Sag nicht, dass wir verloren haben!“. Mosadeq flüchtete 2010 selbst aus Afghanistan, als das Leben seiner damals dreijährigen Tochter bedroht wurde. Zusammen mit seiner Tochter und seiner Frau floh er über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Er ist bis heute ein Star in Afghanistan, trotz seiner kritischen und politischen Texte.
Die OrganisatorInnen kündigten weitere Kundgebungen an.
Kundgebung auch in Schorndorf
Am Samstag fand auch eine Solidaritätskundgebung in Schorndorf statt. Die Linksjugend Rems-Murr hatte dazu aufgerufen. Es beteiligten sich 40 Menschen. Die hohe Polizeipräsenz wirkte mehr als surreal. Auch eine Zivilstreife der Kriminalpolizei fuhr mehrfach demonstrativ durch die Fußgängerzone und behielt die Kundgebung im Auge. Was sie zu diesem Einsatz veranlasst hat, wird ihr Geheimnis bleiben.
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