Von Sahra Barkini – Stuttgart. Am 19. September gab es einen bundesweiten Aktionstag der Initiative „Grundgesetz für Alle“. In Stuttgart richtete das „Projekt 100% Mensch“ und der CSD Stuttgart eine Kundgebung aus. Bundesweit gab es in 15 Städten Kundgebungen unter dem Motto: „Schutz der sexuellen und geschlechtlichen Identität. JETZT!“. Gefordert wurde eine Ergänzung des Grundgesetz-Artikels 3 Absatz 3. Er soll künftig auch die Vielfalt von sexueller Orientierung und Geschlecht garantieren. Nach Angaben der VeranstalterInnen folgten 120 Menschen dem Aufruf. Holger Edmaier vom “Projekt 100% Mensch“, dem Moderator der Kundgebung, war es wichtig zu betonen, dass alle angefragten Parteien VertreterInnen geschickt hatten.
Oliver Hildenbrand (Die Grünen), Dejan Perc (SPD), Timur Lutfullin (FDP), Bernd Riexinger (Bundestagsabgeordneter der Linken), Xenia Lehmann und Fabian Westenberg (DIE PARTEI) hielten Reden. Moderator Edmaier verlas ein Grußwort des CDU-Bundestagsabgeordneten Stefan Kaufmann. Detlef Raasch sprach für den CSD Stuttgart.
- Dejan Perc, SPD
- Timur Lutfullin, FDP
- Oliver Hildenbrand, Die Grünen
- Detlef Raasch, CSD Stuttgart
Edmaier eröffnete die Versammlung musikalisch mit dem Lied „Wir sind eins“. Im Aufruf zur Kundgebung hieß es: „Als das deutsche Grundgesetz 1949 in Kraft trat, war es geprägt von den Lehren aus der menschenverachtenden Politik des Nationalsozialismus. Ganz vorn, in Artikel 3. Absatz 3, ist deshalb das Diskriminierungsverbot verankert: ‚Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.'“
Doch obwohl sie in der NS-Diktatur systematisch verfolgt wurden, fanden queere Menschen keine Erwähnung. Als Folge dessen war es möglich, dass jahrzehntelang schwule und bisexuelle Männer unter dem Schandparagraphen 175 strafrechtlich verfolgt werden konnten. Bis heute bleiben queere Menschen vom im Grundgesetz verankerten Schutz vor Diskriminierung in Deutschland ausgeschlossen: „Das wollen wir jetzt ändern.“
Die PolitikerInnen in Stuttgart waren sich einig, dass der Grundgesetz-Artikel 3 Absatz 3 schnellstens geändert werden muss. Warum dies trotz fraktionsübergreifender Zustimmung noch nicht geschehen ist, erschloss sich den KundgebungsteilnehmerInnen im Oberen Schlossgarten nicht. Denn selten sieht man in der Politik solch eine Einigung.
Bernd Riexinger zitierte einige Stellen aus dem Parteiprogramm. „Die Linke bekennt sich zu körperlicher und sexueller Selbstbestimmung aller Lebensweisen“, sagte er unter anderem zu Beginn. Seine Partei wolle, dass LSBTIQA als selbstverständlicher Teil gesellschaftlicher Realität im Alltag anerkannt wird. Außerdem soll Diskriminierung bekämpft werden, denn der Kampf gegen LSBTIQA-Feindlichkeit sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Weiter fordere seine Partei einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag für alle. So müssten die Änderung von Vornamen und Personenstand mit einer einfachen Erklärung beim Standesamt möglich sein – und zwar ohne die bisherigen Zwangsberatungen, Gutachten, Atteste und Gerichtsverfahren.
Die Linke will das Transsexuellengesetz (TSG) abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsrecht ersetzen. Dafür sei es höchste Zeit, sagte Riexinger. Weiter wolle seine Partei die Rechte von trans-und intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen stärken. Der Anspruch auf körperliche Unversehrtheit sei ein Grund- und Menschenrecht. Weiter sagte Riexinger: „Alle medizinisch nicht notwendigen Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen von Kindern wollen wir verbieten.“ Transpersonen brauchten Zugang zu allen medizinischen Leistungen, medikamentösen Therapien, Psychotherapie und falls gewünscht auch Operationen und die Übernahme der anfallenden Kosten durch die Krankenkassen, unabhängig von aktuellem Versicherungs- und Aufenthaltsstatus. Dafür werde die Linke vor und nach der Wahl kompromisslos eintreten.
Die VertreterInnen der Partei „Die PARTEI“ sagten zu Beginn ihrer Rede: „Wir sind nicht Teil dieser Community und da etwas unbedarft. Aber die PARTEI ist sehr bunt und vielfältig, was uns beiden schon mal zugutegekommen ist. Wenn wir mit unserer PARTEItypischen Flapsigkeit was falsch machen, bitte einfach kurz buhen, nichts Hartes werfen.“ Weiter betonten sie – beide KandidatInnen zur Bundestagswahl -, dass Gendern für sie keine Frage der Höflichkeit sei, sondern vielmehr ein Muss für alle Jahrgänge ab 2000. Allen übrigen gewährten sie eine Übergangsfrist bis 2090.
- Fabian Westenberg, DIE PARTEI
- Xenia Lehmann, DIE PARTEI
Den Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes nannten die VertreterInnen der PARTEI in seiner jetzigen Form wegen seiner Unvollständigkeit diskriminierend. Denn während sich dieser Absatz seit 1949 nicht verändert hat, hat sich die Gesellschaft mit ihren Werten und Normen und in ihrer Vielfalt entwickelt. Deshalb sei es nun an der Zeit für eine Änderung. Die RednerInnen weiter: „Der einzige für uns denkbare Grund, warum dies nicht schon längst geschehen ist, ist, dass das Telefax mit der Anordnung zur Änderung im falschen Posteingangskörbchen gelandet ist. Oder man hält die ganz großen Highlights für das große 75-Jahr-Jubiläum des Grundgesetzes in drei Jahren zurück.“ Sie schlugen auch gleich eine weitere Änderung im Grundgesetz vor: „Wenn schon eine Änderung vorgenommen wird, kann man das gleichzeitig mit der Entfernung des Begriffes ‚Rasse‘ verbinden. So muss das Grundgesetz nicht immer neu gedruckt werden.“
Die beiden wurden nach und während ihrer Rede weder ausgebuht noch mit Gegenständen beworfen.
Auf der Facebookseite der Initiative „Grundgesetz für Alle“ ist zu lesen: „Am 19. September 2021, genau eine Woche vor den Bundestagswahlen, haben wir als Initiative @grundgesetzfueralle gemeinsam mit den queeren Communities und ihren Vertreter*innen einen bundesweiten, queeren Aktionstag mit Kundgebungen in zahlreichen Städten gestaltet. Ziel: Zum Ende der Pride Season 2021 und mit Blick auf die Bundestagswahlen und anschließenden Koalitionsverhandlungen nochmal ein lautstarkes Zeichen für die Rechte von queeren Menschen und für den verfassungsmäßigen Schutz dieser Rechte in Richtung Politik senden.“ Die Initiative kündigt weitere Kundgebungen und Aktionen an. Näheres hier
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