Von Sahra Barkini – Stuttgart. Seit 2014 ist der 1. November Welt-Kobanê-Tag. Wie in vielen Teilen der Welt gab es auch in Stuttgart eine Demonstration. An der Demonstration des „RiseUp4Rojava“ Bündnis, das von verschiedenen Organisationen und Gruppen wie der kurdischen Jugendbewegung/YJK-E oder der Roten Hilfe unterstützt wird, nahmen über 100 Menschen teil. Das Polizeiaufgebot war um ein vielfaches höher und wirkte sehr martialisch. Noch während der Auftaktkundgebung untersagten die Polizei das Mitführen von Seitentransparenten über 1,50 Metern Länge. Diese wurden den AktivistInnen von behelmten Beamten gewaltsam abgenommen.
Über die gesamte Dauer der Demonstration filmte und fotografierte die Polizei die TeilnehmerInnen. Der Demonstrationszug wurde von der Polizei mehrfach gestoppt. Nach Ende der Demo gab es Personenkontrollen und Festnahmen einiger AktivistInnen wegen des angeblichen Rufens verbotener Parolen. So ist es in Deutschland nur erlaubt „Es lebe Öcalan“ zu rufen, aber angeblich nicht „Biji Serok Apo“, die kurdische Original-Parole.
An diesem Montag war die Stuttgarter Innenstadt trotz des Feiertags wie immer sehr belebt. Allerdings wunderten sich PassantInnen und Betrachter der Szenerie sehr über das unverhältnismäßige Polizeiaufgebot. In den Seitenstraßen zur Königstraße standen Polizeifahrzeuge, und überall waren Gruppen behelmter BeamtInnen zu sehen. Auch die berittene Polizei war vor Ort. Auf PassantInnen machte diese Machtdemonstration einen sehr einschüchternden Eindruck.
Der Demonstrationszug, der von der Lautenschlagerstraße über die Theodor-Heuss-Straße zum Rotebühlplatz zog, war gesäumt von PolizistInnen. Die gesamte Zeit über wurden die DemonstrantInnen von Polizeibeamten gefilmt und fotografiert. Die DemonstrantInnen beendeten am Rotebühlplatz ihre Demonstration vorzeitig. Einige TeilnehmerInnen wollten sich dennoch von dieser Polizeischikane nicht einschüchtern lassen und zogen mit lauten Parolen wie „Hoch die internationale Solidarität“, „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“, „Jin Jiyan Azadî“, „Deutschland finanziert, Türkei bombardiert“ durch die Innenstadt.
In den Reden bei der Auftakt- und der Abschlusskundgebung wurden sowohl die Drohnenangriffe als auch die Luftschläge gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nordsyrien kritisiert. Den Einsatz von Chemiewaffen wie Giftgas verurteilten die RednerInnen ebenso wie das Schweigen Deutschlands. In den letzten sechs Monaten setzten die türkischen Streitkräfte 323 Mal Chemiewaffen und Giftgas ein. Aus diesem Grund sammeln Organisationen momentan Geld für Gasmasken und blutstillende Cellox-Verbände.
In der Türkei würden aktuell jene angegriffen, die als Einzige dem türkischen Faschismus noch Widerstand entgegenbrächten, so die RednerInnen. Das interessiere die Bundesregierung aber nicht, da sie eng mit dem türkischen Staat zusammenarbeite. Deshalb brauche es die internationale Solidarität. Die RednerInnen sprachen auch über die Rolle der Frauen in Rojava. Sie nähmen eine zentrale Rolle ein. So setze die kurdische Frauenbewegung die Frauenbefreiung um. Beispielsweise in der Verteidigung der Gebiete Kurdistans durch reine Fraueneinheiten oder in der Selbstverwaltung. „Denn Frauen, die kämpfen, sind Frauen, die leben“ wurde erklärt. Zum Abschluss auf dem Rotebühlplatz wurde betont, dass man weiter auf die Straße gehen werde. „Für einen entschlossenen Kampf gegen Faschismus, gegen imperialistische Einmischungen und für eine solidarische Gesellschaft“, hieß es zum Abschluss.
Kommentar von Alfred Denzinger
Welcome in „The Länd“: Wir können alles – außer Versammlungsfreiheit
Das Bild, das sich PassantInnen in der Stuttgarter Innenstadt bot, glich einer Szene aus einer anderen Welt. Vor der Demonstrationsspitze massive Polizeikräfte. Hinter dem Demonstrationszug massive Polizeikräfte. Links und rechts vom Demonstrationszug massive Polizeikräfte. Bilder, wie man sie vor allen Dingen aus Staaten wie der Türkei kennt. Versammlungsfreiheit nach türkischem Vorbild quasi. „Da muss etwas ganz schlimmes passiert sein“, oder „warum macht die Polizei das?“, war von den Zaungästen zu hören.
Demokratie- und Versammlungsfeinde in den Behörden?
Die Parole „Es lebe Öcalan“ soll erlaubt sein, jedoch soll die kurdische Originalparole „Biji Serok Apo“ verboten sein. Wer will das denn so? Erdogan? Seitentransparente durften laut Auflagenbescheid eine maximale Länge von 1,5 (in Worten: eineinhalb) Metern haben. Geht’s noch? Es gibt keine Transparente mit einer Länge von anderthalb Metern. Das ist so weltfremd, wie es versammlungs- und demokratiefeindlich ist.
Die Beamten filmten und fotografierten ohne jegliche Scheu völlig hemmungslos und offen friedliche VersammlungsteilnehmerInnen. Bei den Betroffenen löst dies unweigerlich das Gefühl aus, gerade etwas Verbotenes zu tun. Soll dieses Polizeiverhalten TeilnehmerInnen und PassantInnen suggerieren, das das Demonstrieren nichts für „anständige“ Bürger ist und DemonstrantInnen eher potentielle Straftäter darstellen?
Was geschieht eigentlich mit diesem umfangreichen Film- und Fotomaterial? Wandert es in Register gewisser staatlicher Stellen? Dient es zur Erfassung (unliebsamer?) politisch aktiver Menschen?
Darf die Polizei alles?
Dürfen die das eigentlich? Oder ist es diesem Berufsstand völlig egal, was rechtens ist? Frei nach dem Motto: Ich darf alles, weil sich eh niemand dagegen wehrt?
Seit Anfang 2021 gilt zwar ein repressives Polizeigesetz in „The Länd“, aber selbst dieses erlaubt diese Filmerei der Polizei auf Demonstrationen nur, wenn „aufgrund einer aktuellen Gefährdungsanalyse anzunehmen ist, dass Veranstaltungen und Ansammlungen vergleichbarer Art und Größe von terroristischen Anschlägen bedroht sind, oder aufgrund der Art und Größe der Veranstaltungen und Ansammlungen erfahrungsgemäß erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit entstehen können.“ Weder Art noch Größe dieser Demonstration stellten eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Es waren lediglich rund 100 absolut friedliche TeilnehmerInnen.
Bereits im Jahr 2010 sprach das Verwaltungsgericht Berlin ein Filmverbot für die Polizei bei friedlichen Demonstrationen aus. Die Richter werteten die Überwachung als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Bürger würden dadurch abgeschreckt, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen, begründete das Gericht sein Urteil. Durch diese Einschüchterung könnte mittelbar auf den Prozess der Meinungsbildung und demokratischen Auseinandersetzung eingewirkt werden.
Gefilmt werden darf nur bei erheblicher Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
Nach dem Versammlungsgesetz dürfen Polizisten Demonstrationen nur filmen, „wenn von den Teilnehmern erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen“ (Verwaltungsgericht Berlin, Aktenzeichen VG 1K 905.09). Einen weiteren einschlägigen Beschluss veröffentlichte das Oberverwaltungsgericht Münster im November 2010. Dort hieß es, die Polizei dürfe eine friedliche Kundgebung nicht filmen (Aktenzeichen 5A 2288/09). Das Oberverwaltungsgericht lehnte in der Folge eine Berufung ab. Die staatlichen Stellen müssen sich also ihrer unrechtmäßigen Handlungsweisen durchaus bewusst sein.
Vielleicht wird es Zeit, dass einE BetroffeneR endlich gegen diese Polizeipraxis in Stuttgart klagt. Denn wenn sich niemand wehrt, wird es zum alltäglichen Problem auf Demonstrationen: Wir können alles, außer Versammlungsfreiheit.
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